Titelbild des Hefts Nummer 72
From Paris With Love
Heft 72 / Winter 2015
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Aufstand der Bruderhorde

Die Front des „Islamischen Staats“ verläuft durch Paris

Kaum waren die Schüsse der Pariser Mordnacht am 13. November verhallt, kaum waren die ersten vor Pathos triefenden Beileidsbekundungen getätigt, zeigten Deutschlands oberste Antifa-Aktivisten, dass sie den Ernst der Stunde klar erkannt hatten. Obwohl zunächst nahezu alle politisch Verantwortlichen, nahezu alle Ticker-Betreiber, nahezu alle politischen Kommentatoren es mitunter unter Verrenkungen vermieden hatten, das Wort „Islam“ im Zusammenhang mit dem Massenmord auch nur zu erwähnen, warnten sie alsbald vor der wahren Gefahr, die vom zweiten großen Blutbad, das islamische Täter in der französischen Hauptstadt binnen eines Jahres angerichtet hatten, droht: Dass nämlich „islamkritische“, wie der neudeutsche Ausdruck für vermeintlichen Rechtsextremismus lautet, Kräfte ihren Nektar ausgerechnet aus den Anschlägen ziehen könnten, die sich doch, wie Bundesjustizminister Heiko Maas schon nach dem Massaker bei Charlie Hebdo klargestellt hatte, in erster Linie gegen den Islam richteten. NRW-Ministerpräsidentin Hannelore Kraft zog die Reißleine keine 16 Stunden nach den Exekutionen im Bataclan: „Ich werde mich dem Terror entgegenstellen und dafür sorgen, dass die rechte Propaganda das Attentat nicht für ihre Zwecke nutzt“, ließ sie in der Aktuellen Stunde des WDR (14.11.2015, 13.30 Uhr) verlauten. Die „rechte Propaganda“, die Kraft vordergründig meinte, war zunächst natürlich das, was Markus Söder und die Seinen aus dem Pariser Blutbad folgerten, nämlich dass jetzt sofort Schluss sein müsse mit der Flüchtlingsaufnahme aus Syrien. Was natürlich wirklich daneben liegt, denn der „Islamische Staat“ braucht keine verdeckten Terroristen, die als Flüchtlinge getarnt nach Europa einreisen – denn, auch wenn er eventuell Einschleusemöglichkeiten nutzen könnte, das Problem ist ein anderes: Seine hitmen sind längst da, haben französische, belgische oder deutsche Pässe und Geburtsorte. Auf eine Stärke von etwa 11.000 „gewaltbereiten Islamisten“ schätzt eine aktuelle und durchaus konservativ gehaltene Studie des französischen Innenministeriums diese potentielle Besatzungsarmee in den eigenen Großstädten (Le Figaro, 15.11.2015). Deren Mitglieder müssen nicht erst eingeschleust oder gar bezahlt werden, sie rekrutieren sich von selbst, sie schließen die von ihnen kontrollierten ganglands in Paris, aber auch in Brüssel oder London unaufgefordert dem „Islamischen Staat“ an, weil er – im Großen und in der Wüste – den von jungen islamischen Männern kontrollierten Kleinstterritorien in den europäischen Vorstädten konstitutionell gleicht: dieselbe Motivation, dieselbe Vorstellungswelt, dasselbe Charakterbild.

Mit Sekt gegen den Terror

Und genau das ist es, was die Krafts nicht zum Thema machen wollen, denn politische wie ökonomische Investitionen in diese Vorstädte und das in ihnen vegetierende Dienstleistungsproletariat sollen nicht zur Debatte stehen; weiterhin herrscht die Vorstellung, dass die communities der sozusagen im Inland Abgeschobenen sich selber überlassen bleiben sollen, wobei der Islam sowohl als wichtiger innerer Kitt als auch als Grenzwächter nach außen, gegenüber der ihn umgebenden belgischen, französischen oder deutschen Gesellschaft, angesehen wird. Worüber also nicht geredet werden soll – und worüber auch die Söders konsequenterweise nicht reden –, ist wieder einmal der Islam, genauer gesagt, die an sich so offensichtlichen Konsequenzen, die es nach sich zieht, wenn die spätindustrielle Hartz-IV-Gesellschaft und ihr politisches Management die islamisch geprägten Milieus sich selbst überlassen, ja, diese nachgerade restituieren helfen.

Und so legte, um nur ein Beispiel von unzähligen herauszugreifen, der Vorsitzende der SPD-Bundestagsfraktion, Hubertus Heil, am 15. November nach und twitterte in die Welt hinaus: „Europas Rechtsextreme und der IS arbeiten am selben Ziel: ‚Kampf der Kulturen‘. Wir verteidigen die Freiheit gegen beide“, also logischerweise: die Freiheit der Kulturen, nicht die der Einzelnen. Die Krafts und Heils gaben damit die Linie vor, die sämtliche eilig anberaumten Talkshows von Maybritt Illner bis Günter Jauch dann in die Wohnzimmer transportierten: Es gelte nun, Ruhe zu bewahren, weiterzumachen wie bisher, mit dem Islam zu kuscheln und trotziges Sekttrinken als einzig zulässige Maßnahme gegen den Terror anzusehen.

Genau diese Sorte quietistisches Geschwätz, das wochenlang Rundfunk und Feuilleton bestimmte, das eilfertige Fernsehreporter ebenso eilfertige Gutbürger auf Weihnachtsmärkten in die Mikrophone sagen ließen, hatte Charlie Hebdo auf dem Cover der Ausgabe vom 17. November bereits zerlegt: Dort leert ein debil grinsender Bonvivant sein Glas mit den Worten „Sie haben die Waffen, wir haben den Champagner“, während ihm ebendieser bereits durch mehrere Einschusslöcher aus dem Körper strömt – und traf damit genau das, was sich aller propagandistischen Bemühungen zum Trotz nicht mehr wegleugnen lässt und was die Schlächtereien vom 13. November von ihren Vorgängern in den westlichen Metropolen unterscheidet.

Antisemitisch waren sie allesamt, vom Angriff auf die Finanzmetropole New York über das Gemetzel im koscheren Supermarkt im Januar bis zur Massenexekution im Bataclan, dem Pariser Club, der Antizionisten seit jeher ein Dorn im Auge war; möglichst viele ahnungslose Menschen zu töten, war auch schon das Ziel der Zugbombe in Madrid und des Amoklaufs in der Londoner U-Bahn; besonders auffällig Ungläubige zu bestrafen, war bereits das Motiv bei der Ermordung Theo van Goghs und den Terroraktionen in Dänemark. Neu war in Paris, dass die Terroristen als öffentliche Scharia-Polizei agierten, mithin beanspruchten, den islamic way of life auf offener Straße gegen jedermann durchzusetzen und die Strafen für ungläubiges Fehlverhalten, als da wären Alkoholgenuss, Fußball und Rockmusik, an Ort und Stelle zu exekutieren. Was in Paris passierte, war das selbstbewusste Auftreten eines Gegensouveräns, dem es darum zu tun ist, zu demonstrieren, dass sich sein territorialer Machtbereich nicht mehr auf Syrien und die Pariser Vorstädte eingrenzen lässt, dass sein schrankenloser Regulierungsanspruch in direkte Konkurrenz mit dem des bestehenden staatlichen Gewaltmonopols tritt, dass sein unvermitteltes, physisches Faustrecht sich an die Stelle aller rechtlichen und sozialen Vermittlungen setzt, die auch noch in der nachbürgerlichen Gesellschaft den Alltag regulieren, indem sie eben physische Gewalt monopolisieren und eingrenzen.

Genau in diesem Auftreten wird der zeitgenössische Islam kenntlich, die Massaker von Paris sind sein authentischer Ausdruck als Religion, die keine Saturiertheit kennt, die ihren inneren konstitutiven Widerspruch, nämlich Triebe nicht zu sublimieren, sondern immer nur zu reprimieren, exportieren muss – so lange, bis es kein anders geartetes Außen mehr gibt. Die schwammige Rede vom „Angriff auf unsere Lebensart“, um die Publizisten und Politiker seit Paris nicht mehr umhinkommen, registriert das gezwungenermaßen und widerwillig. Widerwillig deshalb, weil darin bereits die Erkenntnis liegen könnte, dass allein die Brutalität der Mittel die Pariser Mordnacht vom Tugendterror im Klassenzimmer oder dem islamischen Grenzregime an den U-Bahneingängen der Banlieues unterscheidet – Antrieb und Zweck sind jedoch identisch.

Narziss und Bruderhorde

Die Frage, die nicht gestellt, geschweige denn beantwortet werden darf, lautet also: Warum kommen auf einen Breivik Hunderte Mohammed Attas und Abdelhamid Abaaouds? Wenn doch die Herabstoßung ins Dienstleistungsproletariat und noch darunter, die Erfahrung der kompletten gesellschaftlichen Überflüssigkeit des eigenen Daseins, das Schicksal von Abermillionen nicht nur in der westlichen Welt ist, die eben nur zum geringeren Teil aus islamischen Familien stammen? Warum ist zwar nicht jeder Muslim quasi automatisch Selbstmordattentäter, aber dafür quasi automatisch jeder Selbstmordattentäter Muslim? Anders gesagt: Was unterscheidet das islamische Racket von allen anderen, was macht es so grenzenlos aggressiv und so unersättlich expansiv? Wieso feiert es die Selbstzerstörung und will paradoxerweise zugleich nichts weniger als weltumspannende Herrschaft?

Notgedrungen, unter dem frischen Eindruck der jüngsten Massaker, wagte sich der Berliner Kongress der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie (25. bis 28.11.2015) zumindest einen Schritt auf das verbotene Terrain. Aber eben nur einen Schritt: Völlig zurecht machte der Psychiater Mazda Adli, Experte für affektive Störungen, als Bedingungen (aber eben nicht Ursachen) für die in Frage stehenden „Radikalisierungsprozesse“ grundlegende „Ausschlusserfahrungen“ und „Zerfallsprozesse gesellschaftlicher Instanzen“ aus – was diese Erfahrungen aber erst in Terror überführe, seien bestimmte „sozialklimatische Bedingungen“ wie beispielsweise die Begegnung mit einem Hassprediger (Adli im Deutschlandfunk, 1.12.2015). Offen blieb natürlich, wer und warum ausgerechnet einem Hassprediger sein Ohr schenkt, wer und warum bereit ist, sich dessen Botschaft begierig mit Haut und Haar zu verschreiben; und doch steckt in der nebulösen Rede vom auslösenden „Klima“ bereits der Fingerzeig auf die speziell islamische Charaktergenese beziehungsweise deren notwendiges Scheitern, der Fingerzeig darauf, wie postmoderne Lebensbedingungen vormoderne Todesvorschriften revitalisieren und damit erst zur vollen Kenntlichkeit bringen.

Denn das, was den Islam von jeher ausmachte und ihn zugleich von den anderen großen monotheistischen Religionen bei aller Verwandtschaft in der Mythologie mehr als nur graduell unterscheidet, ist ein archaisches Relikt, dessen buchstäbliche Sprengkraft sich aber erst jetzt zeigt: Der in einem gottgerechten Leben unaufgelöst bleibende und deshalb auf ein ebenso mörderisches wie selbstmörderisches Ende hintreibende Konflikt des Individuums mit seinem Körper und seinen Trieben. Zu diesen steht der Islam bereits in seinen ältesten Überlieferungen in einem ganz klaren Verhältnis: dem des Krieges, sie werden mit äußerster Konsequenz nicht zivilisiert, nicht etwa ins Liebesgebot transformiert, sondern bis aufs sprichwörtliche Messer erniedrigt und bekämpft. Der Jihad-an-Nafs, der heilige Krieg gegen das körperliche Begehren, das niedere Selbst, steht im Zentrum einer Religion, deren Name nicht umsonst in der Übersetzung „Unterwerfung“ bedeutet, die damit auch die psychische Differenzierung verhindert, in der nicht ein Ich mit seinen individuellen Konflikten ringt, sondern ein festgesetztes Kollektiv die individuellen Leiber befehdet und unterjocht. Dieser Krieg ist ein totaler, denn er schließt sämtliche Sublimierungsinstanzen aus: er ächtet das Spiel, er verbietet die begrenzte Enthemmung im Rausch, er kennt keine demütige Verinnerlichung und Vergeistigung, er verabscheut die Musik, die Ästhetik im weitesten Sinne, all jene Gefilde, in denen Begehren Erfüllung finden kann und doch zugleich auf sein ungehemmtes Ausagieren, das in der Konsequenz menschliches Zusammenleben verunmöglichen würde, verzichtet.

Natürlich lebt trotz dieser totalen Selbstbekriegung auch im islamischen Clan das Begehren weiter, aber abgespalten, projiziert und in besonders plump sexualisierter Form, die jede Form körperlicher Attraktion oder uneingehegten Sexualverhaltens penibelst registrieren und bekämpfen muss; das Es meldet sich im Tugendterror, im Verbot des sinnlichen Erlebens zurück. Das repressive Kollektiv offeriert dem Individuum jedoch gerade durch diese primitive Unterdrückung eine ebenso primitive Kompensation, die man nicht anders denn als Narzissmus der Unterworfenen bezeichnen kann. Der Verzicht nämlich bringt sie einem rächenden und strafenden Gott nahe, erhebt sie zu Vollstreckern seines Willens; im Namen der Reinheit dürfen sich die Unterworfenen dem Schmutz nähern, um ihn blutig zu beseitigen. Nicht zuletzt deshalb kann der Islam keine Ruhe finden und auch keine Ruhe geben, denn kein Verbot kann je streng genug sein, solange die Dynamik der militanten Verdrängung stets neue Sünder und Opfer verlangt. Erlösung, ja: bloße Erleichterung ist nur in der Annihilation zu haben, in der Verwandlung des Individuums zum lebenden Leichnam und der Außenwelt zum Großfriedhof.

Solcherart ist die Eigendynamik, die in der islamischen Sozialisation steckt; seine plumpe Unmittelbarkeit, seine „brutale Positivität“, die Horkheimer dem Islam angewidert attestierte, entspricht gesellschaftlichen Ensembles, die den Namen Gesellschaft im empathischen Sinn nicht verdienen; jede Alltagsregung ist vorgeschrieben, ein nicht auf kriegerischem Wege erreichbares Draußen gibt es nicht, familiale Herrschaftsverhältnisse stehen nicht zur Disposition.

Es war aber wiederum die unangefochtene Stellung des Familientyrannen – dessen lediglich vergrößertes Abbild die Clanführer inklusive des Propheten waren, dem die Söhne nacheiferten, während Frauen und Töchter sich unterwarfen –, die den Laden bislang überhaupt am Laufen hielt. Diese Stellung sorgte immer wieder dafür, dass dieses vor ungelösten Konflikten und unsublimierter Aggression nur so starrende, im Präödipalen, also Vorindividuellen verharrende Sozialensemble nicht auseinanderflog, dass ein notwendiges Minimum an Gesellschafts- und Kooperationsfähigkeit gewahrt blieb. Dieses Minimum aber, das die patriarchale islamische Gesellschaft historisch ermöglichte, vom angeblich medizinisch induzierten Weintrinken über Zugeständnisse an den westlichen Kleidungsstil bis hin zum Dulden volkstümlicher Musik, ist stets mit dem Makel der Abweichung versehen, potentiell also jederzeit ebenso einzuziehen wie zu brandmarken.

Und genau das ereignet sich in den letzten Jahrzehnten mit sich steigernder Radikalität: Denn durch die Kollision mit der Moderne begann der Herbst dieser Patriarchen, der damit zugleich zur Geburtsstunde des Islamismus wurde – und zwar überall in der islamischen Welt, zuerst am Rande kolonialer Metropolen wie Kairo, dann an den Küchentischen der westlichen Großstädte, seit jüngerer Zeit auch in den nachkolonialen Palästen des Nahen Ostens. Der Islamismus beziehungsweise dessen Attraktivität für junge, meist – aber nicht nur – männliche Muslime speist sich genau aus diesem Verfall der Autorität, der hergebrachten familiären wie der geistlichen gleichermaßen.

Das verraten allein schon die immer identisch scheinenden Lebensläufe islamistischer Terroristen, die sich auch bei den aktuellen Mördern von Paris nicht von denen ihrer Vorgänger unterscheiden (jüngst hatte beispielsweise die Taz sie minutiös nachgezeichnet, 30.11.2015): Stets war das westliche Leben, das sie lockte und das sie in der Zeit ihrer körperlichen Pubertät zu führen versuchten, zugleich eine narzisstische Kränkung, mit anderen Worten, hielt durchaus nicht ungewöhnliche Frustrationen und Irritationen bereit, gegen die jener Narzissmus der Unterworfenen dann als Gegenmittel diente. Die daraus folgenden extremen Radikalisierungen, häufig via Mundpropaganda und Internet und jenseits der Familie in Gang gekommen, verlaufen dann immer so auffällig schnell, weil dieser Narzissmus die bereits in nuce vorhandenen psychischen und mentalen Voreinstellungen befriedigt und die beunruhigende Erfahrung des individuellen Scheiterns, sei es an den Umständen, sei es an den eigenen Begierden, wieder einhegt in den großen Plan Gottes und seiner Umma; was einen da zuvor piesackte, wird nach traditioneller Art des Jihad-an-Nafs exterritorialisiert; was man nicht bekam, war eben ohnehin schlecht und verdorben, eben kuffar: also ungläubig und unrein; das Entwerten der Außenwelt wertet das gekränkte Selbst auf.

Die Schwäche der Väter, deren Nimbus gewaltig ramponiert war und ist, weil sie sich bei den Ungläubigen verdingt hatten, von ihnen beherrscht wurden statt selber über sie zu herrschen, wie es dem Gläubigen seiner Meinung nach gebührt, beschleunigte in aller Regel, wenn auch häufig unwillentlich, diese Entwicklung. Deren Schwäche will man überwinden, ihre vermeintliche Apostasie, also die zumindest äußere Anpassung an die Lebensumstände westlicher Gesellschaften, an die Kollegen, an die Nachbarn und an die mehr säkularisierte denn christliche Umwelt überhaupt, zurücknehmen. So bilden sich überall in diesem Milieu Bruderhorden besonderer Art, die weder durch die individualisierenden Kräfte von Sexualität und Liebe – das Weibliche ist gleichfalls exterritorialisiert oder verborgen und stillgestellt – gefährdet sind, noch den in diesem Sinne mittel- und machtlosen Patriarchen beerben können (1). Was den Brüdern bleibt, ist, sich in phantasmagorischer Art und Weise an die Stelle zu setzen, die der Patriarch eigentlich hätte einnehmen sollen, aber nie einnahm, und sich aufzuschwingen zu Tyrannen ihrer Außenwelt, deren schier nicht zu durchbrechende Übermacht dann schließlich durch das äußerste Opfer bezwungen werden muss: das Selbstmordattentat, in dem die persönliche Apokalypse des Narziss zur Apokalypse der verabscheuten Welt werden soll.

Es ist alles andere als ein Zufall, dass der Islam in den vergangenen Jahrzehnten so zu sich selbst kommt, dass sein brutaler Kern sich derart ungehemmt, sozusagen in Reinkultur herausschälen konnte, dass „der Islam zur Alltagsreligion des suicide bombing“ (Scheit) wurde. Denn er ist in Zeiten der Prekarisierung mit sich alleine: Ohne Rücksicht auf die Notwendigkeiten des Verkaufs von Arbeitskraft oder des gesellschaftlichen Verkehrs, der sich seit zwei, vielleicht sogar drei Jahrzehnten nun für viele nach der Schule auf den Kontakt zur Arbeitsagentur, Kleinkriminalität und sporadische Jobs in Schwitzbuden beschränkt, dreht der schon in seiner ursprünglichen Konstruktion mörderische Mechanismus frei; allein in diesem Freidrehen besteht der Zusammenhang zwischen Terror und Prekarität; deshalb hat der Terrorist stets dasselbe Bekenntnis: „Allahu akbar“.

Banlieue in der Wüste

Keine gesonderte Theologie oder das Auftauchen der Figur des Hasspredigers führt also ursächlich zur Radikalisierung, denn ihre Ingredienzen stellte der Islam von jeher bereit (2). Was sich in den zurückliegenden Jahrzehnten geändert hat, ist seine soziale und generationelle Zusammensetzung: Erst durch sie greift die Propaganda der Djihadisten unmittelbar, erst sie ermöglicht, dass ein „wissender Bruder“, wie der Wolfsburger Djihadist und Syrienrückkehrer Ayoub B. seinen Terror-Mentor bezeichnenderweise beschreibt, in der örtlichen Ditib-Moschee, aber an den alten Platzhirschen vorbei, eine junge Gemeinde um sich scharen kann (Wolfsburger Allgemeine, 4.8.2015) – und diese „wissenden Brüder“ sind Legion.

Denn der Aufstand der Bruderhorde beschränkt sich natürlich keineswegs auf die islamische Diaspora, er hat längst schon das Innere der Umma ergriffen. Seit den siebziger Jahren vermehren sich djihadistische Organisationen von Mali bis Malaysia wie Krebszellen, erhielten einen entscheidenden Schub durch den siegreich geführten Afghanistankrieg und bilden – wie sich immer deutlicher zeigt – in der islamischen Welt bislang das einzig wirkmächtige Pendant zu den alten Hierarchien und Despotien. Der Prozess der Übertrumpfung der Väter, Onkel und Diktatoren im wahren Glauben gleicht also im Großen dem, der im Kleinen die Lebensverhältnisse in den Banlieues im selben Zeitraum umgekrempelt hat, er ist der wahre Motor des „arabischen Frühlings“ und die zeitgenössische Form islamischer Vergesellschaftung, die ihre traditionellen Schranken abgeworfen hat, ohne sich deshalb auch nur einen Jota zu öffnen und zu ändern, ganz im Gegenteil: die Reformidee, die derzeit am höchsten im Kurs steht, ist erneut die aus dem 18. Jahrhundert – jene von Muhammad ibn Abd al-Wahhab, dem Stammvater des Wahhabismus, der schon seinerzeit jeden drohenden kulturellen und gesellschaftlichen Umbruch auf den Abfall vom wahren Islam zurückführte und diesen wiederum als Universalheilmittel gegen die Neuzeit predigte. Dass der Islam nur eine Richtung kennt, nämlich die zurück zu sich selbst, ist die schreckliche Erfahrung, die vor allem und zuallererst die städtischen Eliten Algeriens, Ägyptens oder Syriens machten, als diese zumindest zaghaft verwestlichten Gesellschaftsschichten blutig und grausam lernen mussten, womit sie es in Wahrheit zu tun haben, worüber sie zuvor so unbedacht als von ihrem „Volk“ gesprochen hatten.

Diese innerislamische Revolte, die sich aus der Übertrumpfung der Väter durch die Söhne im wahren Glauben speist, erfasst nun auch den Djihadismus selbst, in Gestalt des IS, der binnen weniger Jahre Al-Kaida im wahrsten Sinne des Wortes alt aussehen ließ. Obwohl Al-Kaida sicher der machtvollste Vorbote des innerislamischen Patriarchensturzes war, blieb die Organisation aber immer noch eine Angelegenheit der saudischen bzw. arabischen Oberschicht, verkörpert im vermögenden Unternehmersohn Bin-Laden. Ihre Verbindung zum hergebrachten Islam war stark, Feindbilder und Selbstdarstellung immer noch vergleichsweise traditionell. Die Fixierung vor allem der frühen Al-Kaida auf den Sturz des vermeintlich apostatischen Saudi-Königshauses und auf die Einnahme der traditionell heiligen Städte Mekka und Medina blieb den heranwachsenden Diaspora-Islamisten ebenso fremd wie die Kooperation der Organisation mit dem besonders altertümlich wirkenden Stammesislam in entlegenen Regionen Afghanistans und Pakistans. Und auch theologisch hatte Al-Kaida die Verbindung zum alten Establishment nicht ganz gekappt: Aiman az-Zawahiri beispielsweise, der jetzige Emir von Al-Kaida und wie Bin-Laden ein Veteran des Afghanistan-Djihads, stammt aus einer angesehenen Sippe von hochrangigen Imamen und Kairoer Universitätsprofessoren; als junger Mann erlebte er noch die Hinrichtung Sayyid Qutbs und blieb seither dem Milieu der Muslimbrüder verhaftet. So wirkte zwar das Fanal des Al-Kaida-Terrors durchaus, trotz der nicht eben überzeugend produzierten Wackelvideos ältlich wirkender Terrorfürsten, aber eben nur als Fanal. Denn Al-Kaida führte einen Kampf, dem sich im Westen immer nur versprengte, vereinzelte Grüppchen rein symbolisch anschließen konnten – die Kulturschranke zwischen den Lebenswelten von Jung-Islamisten in westlichen Vorstädten und denen in den Höhlen und Hütten Afghanistans und Pakistans blieb schier unüberwindlich.

Im Vergleich dazu wirkt der IS wie Fleisch vom Fleische der Bruderhorden in den Banlieues: Er ähnelt ihrer Praxis in der Art seiner voluntaristischen und rücksichtslosen Landnahme und auch in der Art seiner – in islamischen Augen halbgebildeten – theologischen Anmaßung, die mit dem hergebrachten Senioritätsprinzip, der Unterordnung unter die Hüter der Tradition bricht, um diese in hemmungslosem Archaismus aus zweiter Hand noch zu übertreffen. Der IS folgt also ganz dem Muster des Aufstands der Bruderhorde und lehnt sich in der Selbstpräsentation an die Vorlieben junger Muslime aus der ersten und zweiten Welt an. So setzte sofort nach Etablierung des „Islamischen Staates“ ein reger Terrortourismus aus Europa und auch aus der ehemaligen Sowjetunion ein, und umso mehr, als diese Diaspora-Muslime, wie beispielsweise der Franzose Salim Benghalem, nicht nur bis in die Führungsebene der Organisation gelangen können, sondern auch ganz bewusst die Propaganda des IS prägen, wie es der 2015 in Syrien getötete Berliner Ex-Rapper Denis Cuspert (alias Deso Dogg) vorexerzierte. Eine UNO-Studie vom November 2014 schätzte so nicht überraschend die Zahl ausländischer Kämpfer in den IS-Streitkräften auf 15.000 aus über 80 Ländern, im Februar 2015 veranschlagten US-Geheimdienste sogar 20.000. (3)

Ihnen allen bietet der „Islamische Staat“ eine einzigartige Mordspielwiese, ein durch keine äußeren Widerstände eingeschränktes Ausleben aller djihadistischen Phantasien, die maß- und konsequenzlose Erfüllung aller destruktiven Wünsche des gekränkten Narziss – ein einzigartiges gangland als Echttat-Erlebnispark, ein Banlieue in der Wüste, in dem man nicht wie in Paris nur heimlich und in Kellern zu Tode foltern darf (so wie im Frühjahr 2010 den jungen Juden Ihan Alimi), sondern frech, offen und mit Selfie.

Dazu passt die – für islamische Verhältnisse – nachgerade atemberaubende Anmaßung der Ausrufung des Kalifats (29.6.2014), als man einen Emporkömmling wie den Bauernsohn und abgebrochenen Theologiestudenten Abu Bakr al-Baghdadi in die direkte Nachfolge Mohammeds setzte und ihn sich „Amīr al-Mu‘minīn“ (Führer der Gläubigen) nennen lässt. Mit diesem Anspruch tritt auch der Chefideologe des IS, Turki Al-Binali, gegen die alten Granden des Djihad an: Im Sommer 2014 nahm er die Al-Kaida-Führer Aiman az-Zawahiri, Abu Qatada al-Filastini und Abu Muhammad al-Maqdisi, seinen ehemaligen Lehrmeister, ins Visier und wies – auch das eigentlich unerhört – das islamische Konzept der Seniorität (asbaqiyya) zurück. Die sechste Ausgabe des englischsprachigen IS-Magazins Dabiq bezeichnete Maqdisi und Qatada als „Verbreiter von Irrlehren“, die gefährlicher als der Teufel selber wären, und auch auf den IS-Accounts in den sozialen Medien wurden die beiden als „Marionetten des Westens“ beschimpft, die sich gegen das Kalifat verschworen hätten (Guardian, 10.6.2015). (4)

Die Ausrufung des Kalifats folgt aber nicht nur wegen dieses Größenwahns genau der Selbstermächtigungsstrategie der Horde, sondern auch, weil sie einen ebenso maßlosen Eroberungsanspruch festschreibt: Das Kalifat ist per definitionem schon der Kern der Weltherrschaft, es beschreibt ein Territorium, von dem dauernder Krieg bis zu deren Erringung ausgehen muss; dementsprechend hat es auch keine Grenzen, sondern nur Fronten, wie der IS selber nicht müde wird zu betonen – und zwar Fronten überall auf der Welt, wo es Muslime gibt, selbstverständlich auch mitten in Paris, Malmö, Brüssel oder London.

Rückeroberung des öffentlichen Raums

Und so lässt sich der syrisch-irakische IS nicht trennen von dem IS der Vorstädte. Sein arabisches Zentrum militärisch anzugreifen und zu zerschlagen ist absolut notwendig, aber es genügt bei weitem nicht. Die Landnahme des angemaßten Kalifats ist auch in den Banlieues, den öffentlichen Verkehrsmitteln, Schulen und Kindergärten zurückzuschlagen. Denn dort herrschte der informelle Ausnahmezustand des islamischen Gegensouveräns lange bevor Präsident Hollande den offiziellen über ganz Frankreich verhängte.

Nur wenn das Gewaltmonopol des republikanischen Staates auch in der Vorstadt wieder flächendeckend in Geltung gesetzt würde, könnte es auch für die im Islam Aufgewachsenen eine ungefährdete Aussteigerperspektive geben – so diese sozialpolitisch gewollt wäre. Daran muss leider auch nach den jüngsten Pariser Massakern gezweifelt werden. Es gibt keine Anzeichen dafür, dass die im alten Europa bestimmenden politischen Klassen aufhören, mindestens auf einen scheininstitutionalisierten Islam zu setzen, der aber gerade das nicht erreicht, was von ihm erwartet wird: Jeder sogenannte gemäßigte – und das heißt nun wahrlich nicht viel – Prediger verhindert in keiner Weise die islamistische Revolte gegen ihn und seinesgleichen. Aber er hilft, jene Ideologie der Lebens- und Sinnenverneinung zu festigen und zu tradieren und damit die nächste Generation Islamisten heranzuziehen, die sich bereits in gemischten Kindergärten Kreuzbergs bemerkbar macht, wo Steppkes Mädchen, die sich mit Filzstiften die Fingernägel bemalt haben, anraunzen, dass Allah ihnen die Hand verbrennen werde – eine Drohung, die nicht ernst und wörtlich genug genommen werden kann, wie nicht zuletzt die Foltervideos des IS zeigen sollten.

Wenn man tatsächlich also irgendetwas aus den Pariser Massakern lernen wollte, dann dies: Der Islam als Eroberungsreligion dürfte lediglich als privates Bekenntnis statthaft sein, jede öffentliche Anerkennung, jede Teilnahme an der öffentlichen Erziehung, speziell am Religionsunterricht müsste ihm deshalb strikt verweigert werden, denn das besänftigt den Islamismus nicht, es feuert ihn an. Es wäre also endlich einzusehen, dass der Islam grundsätzlich anders geartet ist als beispielsweise die großen christlichen Bekenntnisse, weil er sich im Gegensatz zu jenen nicht mit formalem Recht, Selbstbeschränkung und den Mindestbestimmungen von Aufklärung verträgt. Dem Islam dürfte keinerlei gesellschaftliches Vakuum gewährt werden; es müsste Schluss damit sein, irgendwelche kulturelle Nachsicht für islamisch motivierte Nichtanpassung zu hegen und zu fordern. Das wären die Mindestbedingungen der Möglichkeit, dass sich die Vorstädte langfristig aus der Hand des IS zurückerobern ließen, nicht zuletzt dadurch, dass sich auch und gerade Menschen, die in islamischen Sozialverbänden aufwachsen, endlich daraus befreien könnten.

Rajko Eichkamp (Bahamas 72 / 2015)

Anmerkungen:

  1. vgl. zum ursprünglichen Konzept der „Bruderhorde“ Sigmund Freuds Schrift Totem und Tabu, in: ders.: Studienausgabe, Frankfurt 2000, Bd. IX, 424 ff.
  2. Aufschlussreich beispielsweise ist die Art, wie der „gemäßigte“, seit 1973 in den USA lebende Vater Sayed Faruk auf seinen Sohn, den Attentäter von San Bernardino, einwirken wollte: „Ich sagte ihm, dass er ruhig und geduldig sein müsse, denn in zwei Jahren gäbe es Israel ohnehin nicht mehr […] Auch Russland, China und Amerika wollen dort keine Juden mehr. Sie werden sie zurück in die Ukraine bringen.“ (La Stampa, 6.12.2015)
  3. Quelle: https://en.wikipedia.org/wiki/Islamic_State_of_Iraq_and_the_Levant.
  4. In diesem Licht muss man auch die erstaunlich dezidierten Distanzierungen altdjihadistischer Gruppen von den Pariser Terrorattacken sehen. Ungewöhnlich beispielsweise, dass ausgerechnet einer wie der hochrangige Hamas-Anführer Bassem Na‘eem öffentlich von „barbarischen Attacken“ sprach (das meldete Sat 1 am 15.11.2015).

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