Die unter Politikwissenschaftlern beliebte Quizfrage, ob sich eine politische Partei rechts von der Union auf Dauer in den Parlamenten werde halten können, wurde schon bald nach den ersten zaghaften Erfolgen der Alternative für Deutschland (AfD) zum Renner unter Parteien- und Demokratieforschern. Nachdem die AfD 2014 in drei ostdeutsche Landtage eingezogen war, wurde in der Zeitschrift für Politikwissenschaft unter der ins Schwarze treffenden Überschrift Eine deutsche Angst – Erfolgreiche Parteien rechts von der Union
folgende Forschungsfrage ausgegeben: „Bringt die AfD am Ende die zum politikwissenschaftlichen common sense gewordene These ins Wanken, Deutschlands politische Kultur stehe der Etablierung rechtspopulistischer Parteien entgegen?“ (1)
Eineinhalb Jahre später sieht es so aus, als ob nicht nur die politikwissenschaftlich forschende Szene alte Gewissheiten über Bord werfen muss, sondern auch danach, dass die deutsche Angst vor rechten Nestbeschmutzern wächst. Bei den Landtagswahlen am 13. März 2016 erreichte die AfD in den westdeutschen Bundesländern Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz erstmals zweistellige Ergebnisse und in Sachsen-Anhalt sogar 24,3 Prozent der Stimmen, was ihren Vorsitzenden André Poggenburg zu der Aussage verleitete, dass mit diesem „erdbebengleichen Wahlerfolg“ (2) endlich eine „echte deutschnationale Partei“ die politische Bühne betrete.
Mit diesem Erfolg und dem ihn begleitenden Jubel des rechtsalternativen Klientels wächst das Missvergnügen derjenigen, die die AfD nicht nur nicht wählen, sondern für das Übel schlechthin halten. Folglich herrscht Großalarm unter den Demokraten, Warnrufe vor der neuen deutschen Problempartei ertönen – je nach Gemütslage desjenigen, der sie anstimmt – als volkspädagogische Mahnung, ungeduldige Wählerbeschimpfung oder als verzweifelter Hitlervergleich. Trotz aller Differenzen in Sachen Didaktik gegen rechts sind sich in der Frage, wer durch die AfD am meisten bedroht sei, alle einig: natürlich Deutschland.
In der Süddeutschen Zeitung wurde den Lesern erklärt, „wie die AfD die aktuelle Bundesrepublik abschaffen will“ (3), ohne anhand des angeblich Bände sprechenden AfD-Programms einen Nachweis zu erbringen. Die Taz sekundierte und untertitelte ein Foto der Führungsriege der Partei unmissverständlich mit „Die Anti-Deutschen“. Bei all dem alarmistischen Gerede und Geschreibe wird die Tatsache ignoriert, dass die AfD in vieler Hinsicht eine Partei ist, die Ansichten und Sprüche radikalisiert, die in den anderen Parteien zumeist nur etwas weniger deutlich formuliert werden, was die Wählerwanderung weg von den höher angesehenen Parteien erklärt. So steckt in der zornigen Ausgliederung der AfD aus der Gemeinschaft der Demokraten neben parteipolitischer Konkurrenzangst auch die Abwehr der Erkenntnis, dass der zum gemeinwohlorientierten Demokratieprofi zurecht gelogene Wähler – der ganz nebenbei die denkbar stärkste Widerlegung der Gesamtwerke von Jürgen Habermas und Axel Honneth darstellt – keine vernünftigen Lösungen will, sondern den wählt, der am besten seine Ressentiments zu bedienen vermag.
Dass das Führungspersonal der AfD aus lauter Umstürzlern besteht, lässt sich bezweifeln, wirft man einen Blick in die Zeitschrift Die Bunte. Dort bewiesen Parteichefin Frauke Petry und ihr neuer Lebensgefährte Marcus Pretzell, der für die AfD im Europa-Parlament sitzt, nicht nur jede Menge Mut zur Wahrheit, sondern auch die unbedingte Bereitschaft, dazugehören zu wollen. Statt das Vierte Reich zu promoten, zelebrierte das „Power-Paar der AfD“ ihren zweiten Frühling: Er findet sie „sexy“, denn sie habe etwas so „dämonenhaft Schönes“, sie mag seine „männliche Stärke“ und dass sie sich an ihn „anlehnen“ könne.
Man könnte, selbst als ausgesprochen wachsamer Verfassungsschützer, auf die Idee kommen, dass Leute, die für Die Bunte turteln zumindest mittelfristig anderes vorhaben, als die BRD abzuschaffen und angesichts solcher Selbstdarstellungen ein bisschen runterkommen und ein paar sachliche Argumente gegen die Partei sammeln (4). Doch noch das harmlose Rumgemache zweier Ostpolitiker musste zur Nazistory verwurstet werden. Mely Kiyak, zuständig für die Abteilung Antifaschismus für autoritäre Charaktere in der Zeit, konterte hämisch mit der Frage, ob nun bald die „Knasthomestory mit Beate Zschäpe“ komme, witzelte, selbst „der Führer“ habe es „locationmäßig mehr krachen“ lassen, und kam zu dem Schluss, dass es sich hier um „Rechtsextremismus mit humanem Antlitz“ handele (5). Fachkompetenz in Sachen Humanismus hatte Kiyak übrigens schon vor ein paar Jahren bewiesen, als sie den im Gesicht halbseitig gelähmten Thilo Sarrazin als „lispelnde, stotternde, zuckende Menschenkarikatur“ bezeichnete.
Dabei sah es nicht immer so aus, als sei die AfD für den Vorwurf des Vaterlandsverrats prädestiniert. Entstanden aus Protest gegen die Euro-Politik der von Angela Merkel geführten Bundesregierungen und angetreten, eine währungspolitische Neuordnung der Eurozone durchzusetzen, machte die AfD zunächst als Ansammlung bockiger Wirtschaftsprofessoren und beleidigter Steuerzahler von sich reden, denen man nur schwer vorwerfen konnte, die Bundesrepublik abschaffen zu wollen. In Reaktion auf die von Kanzlerin Merkel postulierte „Alternativlosigkeit“ hinsichtlich der Finanzhilfen für Griechenland formierte sich schon drei Jahre vor der Parteigründung 2013 zunächst unter Federführung des Hamburger Professors für Volkswirtschaftslehre Bernd Lucke, einem der späteren Parteivorsitzenden, ein „Plenum der Ökonomen“, das im „Bündnis Bürgerwille“ aufging. Auch wenn sich die inhaltliche Schwerpunktsetzung inzwischen grundlegend geändert hat, zeichnete sich damals schon ab, was das treibende Motiv der im Aufbau begriffenen Partei war, nämlich gegen die als reformunfähig angeprangerte Politik vermeintlich korrupter Eliten den Vitalismus des Volkes zu setzen.
Aber erst mit der Parteigründung und dem Schwenk vom euroskeptischen Schwerpunkt auf traditions- und leistungsorientierten Kulturkampf in der Familien- und Bildungspolitik sowie die offene Ablehnung der Zuwanderungspolitik der Bundesregierung begann die AfD für eine wachsende Zahl von Deutschen als Alternative zum etablierten Politikbetrieb interessant zu werden. Im Osten, wo der Hang, die Scholle von fremden Mächten bedroht zu sehen noch etwas ausgeprägter und der Bedarf nach verantwortlichen Verursachern des eigenen Unglücks größer ist, konnten mit dem Thema Heimatschutz mehr Wähler und Sympathisanten rekrutiert werden als im Westen. Beflügelt vom Erfolg im eigenen Revier gingen die ostdeutschen Landesverbände in der Folge mit der sächsischen Landesvorsitzenden Frauke Petry an der Spitze auf Konfrontationskurs mit der liberalkonservativen westdeutschen Professorenriege. In der unterschiedlichen Einschätzung der Pegida-Bewegung, die von der Ost-AfD als Zielgruppe hofiert wird, während Lucke sich frühzeitig distanzierte, zeichneten sich unüberbrückbare Differenzen ab (6). Lucke stellte im April 2014 fest: „Wir werden grundsätzlich mit keiner Partei zusammenarbeiten, die in irgendeiner Form ausländerfeindlich ist oder gegen Zuwanderung hetzte, irgendwie aufputschend tätig ist oder ähnliche Dinge mehr.“ (7) Doch die liberalkonservative Position war nicht länger mehrheitsfähig und wurde in der von den ostdeutschen Landeschefs Björn Höcke (Thüringen) und André Poggenburg (Sachsen-Anhalt) initiierten Erfurter Resolution gar als „Verrat an den Interessen unseres Landes“ (8) bezeichnet. Nach dem verlorenen Machtkampf auf dem Bundesparteitag der AfD im Juli 2015 in Essen traten Lucke und Sympathisanten denn auch aus der AfD aus und gründeten mit der Allianz für Fortschritt und Aufbruch (ALFA) ein Konkurrenzprojekt.
Parteipolitisch war die Entscheidung, Luckes Warnungen in den Wind zu schlagen und stattdessen „irgendwie aufputschend“ tätig zu sein, richtig. Denn während Luckes Allianz ein politisches Schattendasein fristet, ist die AfD weiterhin auf Erfolgskurs und hat jüngst den Leitantrag für ein umfassendes Grundsatzprogramm vorgelegt, das signalisiert, dass man damit rechnet, künftig im politischen Geschäft mitmischen zu dürfen.
Der Präambel wird das Motto „Mut zu Deutschland. Freie Bürger, keine Untertanen“ vorangestellt. Diese für die AfD typische Glorifizierung des kleinen aber aufmüpfigen Mannes, dessen „gesunder Menschenverstand“ zur geschichtsbildenden Kraft aufgepäppelt werden soll, prägt den Geist des gesamten Programms. Man will Volksbewegung statt Partei im herkömmlichen Sinne sein: „Das Volk soll den Willen der Partei bestimmen, nicht umgekehrt“ (9), hieß es schon in vergangenen Wahlkämpfen. Folgerichtig werden Volksabstimmungen „ohne Einschränkung über jegliche Themen“ (10) gefordert. An Stelle der Regeln und institutionellen Formen des Rechtsstaates sollen echte Bedürfnisse und der Alltagsverstand des durchblickenden Bürgers treten, der anders als die weltfremden Eliten einen Sinn fürs Offensichtliche habe.
Neben der Neigung, dem ungebremsten Ausagieren von Beschränktheit das Wort zu reden, wird im Programmentwurf auf die heimische Idylle, den Rückzug ins Provinzielle und Familiäre gesetzt. Die Deutschen sollen den Sinn fürs Eigene wiederentdecken und dabei mehr Kinder zum Zweck der Arterhaltung zeugen, am besten drei Stück pro Frau, so die Wahlkampfempfehlung der Vorsitzenden Petry. Unappetitlich ist die Verklärung des einfachen und idyllischen Lebens sowie die Nobilitierung des Dorfdeppentums deswegen, weil sich dahinter die Rohheit des Landlebens verschanzt, die man auf jedem Dorffest, im andauernden Knatsch zwischen Nachbarn oder sonntags auf dem lokalen Bolzplatz beobachten kann. Im verkitschten Rückbezug auf die insgeheim gehasste Heimat, wird verdrängt, dass das beschränkte Leben in einer Gegend, aus der man nie herausgekommen ist, eine Lebensniederlage darstellt, die zu allmählicher Verblödung führt. Die Verklärung des Immergleichen und die Politisierung des Lebensraumes zielen mitnichten auf die frisch-fröhliche Pflege ländlichen Brauchtums. Heimattümelei, die ja vor allem dort angesagt ist, wo man internationalen Entwicklungen weit hinterherhinkt, ist oftmals nur ein Vorwand, die zu hassen, die daran erinnern, dass es Anderes geben könnte als die dörfliche oder familiäre Schicksalsgemeinschaft. Kehrseite des Heimatbezugs ist die lauernde Bereitschaft zum Heimatschutz, zu dem die Träger des gesunden Menschenverstandes drängen, die ihre kleine Welt nicht nur von fremden Essern, sondern auch von Usurpatoren der Macht bedroht sehen. Diese werden im Programmentwurf wie folgt bestimmt: „Heimlicher Souverän ist eine kleine, machtvolle politische Führungsgruppe innerhalb der Parteien [...] Es handelt sich um ein politisches Kartell, das die Schalthebel der staatlichen Macht, soweit diese nicht an die EU übertragen worden ist, die gesamte politische Bildung und große Teile der Versorgung der Bevölkerung mit politischen Informationen in Händen hat.“ (11)
Der Blick über den Tellerrand, also die Landesgrenzen vorwiegend ostzonaler Schollenbewohner misslingt so gründlich, dass die außenpolitischen Positionen der AfD Zweifel an der behaupteten abendländischen, also westlichen Orientierung der Partei aufkommen lassen. Vielmehr bestimmen die Liebe zum ehemals Großen Bruder und Parolen den Ton, die genauso gut auf linken Ostermarschumzügen vorgetragen werden könnten. Das Verhältnis zu Moskau habe „maßgebliche Bedeutung“, die „Sicherheit in und für Europa kann ohne Russlands Einbindung nicht gelingen“. Außerdem fordert die AfD die „Neuverhandlung des Status’ alliierter Truppen in Deutschland“. Dieser müsse an „die wiedergewonnene deutsche Souveränität angepasst werden“, was sich vor allem gegen die amerikanischen Streitkräfte richten dürfte und wohl als Wahlwerbung für diejenigen fungiert, die Deutschland für ein noch immer besetztes Land halten.
Im Vordergrund sowohl der öffentlichen Darstellung der AfD als auch der Kritik ihrer Gegner steht allerdings die Flüchtlingspolitik. Seit einigen Monaten fordert die Partei in direkter Konfrontation mit der Bundesregierung geschlossene Grenzen und einen generellen Zuwanderungsstopp.
Dass die in der Flüchtlingsdebatte aufgeführten Ängste der chronisch Besorgten, die es zur AfD zieht, oftmals nur ein Vorwand fürs Ausleben futterneidischer Aggression gegen die als Eindringlinge mit grundlegend böser Absicht befehdeten Flüchtlinge ist, heißt unterdessen nicht, dass zur Beunruhigung kein Anlass bestünde. Der Zuzug von Hunderttausenden, die in islamischen Ländern sozialisiert wurden und die ihre ideologischen Prägungen nicht beim Grenzübertritt ablegen werden, trifft auf eine planlose deutsche Flüchtlings- und Integrationspolitik, die von unbedingtem Kulturrelativismus geprägt ist. Statt die Frage ins Zentrum zu rücken, wie eine sinnvolle Integration auch von Leuten möglich ist, die schon beim Anblick von unzüchtig gekleideten Frauen oder Schwulen in Kampfstimmung kommen, wird die Zuwanderung als große Chance zur Rundumerneuerung zurechtgelogen. Weil zusätzlich zur verkorksten Politik ein moralischer Rigorismus vorherrscht, der die berechtigte Abneigung gegen so manchen islamischen Brauch als Ausländerhass oder Rassismus denunziert und die Entscheidung darüber, mit wem man unter welchen Bedingungen zusammenleben will und mit wem nicht, als nationalistische Anmaßung befehdet, überrascht es nicht, dass sich auch Leute verschaukelt fühlen, die keine ordinären Ausländerhasser sind. Wo aber zwischen Flüchtlingen nicht mehr unterschieden und noch nicht einmal auf die Bedingungen ihrer Flucht reflektiert wird und alle Herkommenden als Ausländerkollektiv zur potentiellen Bedrohung erklärt werden, kippt der nachvollziehbare Unmut in fremdenfeindliche Propaganda. Wenn der Blick auf Flüchtlinge, die zu ihrem Elend noch das Pech haben, in Käffern wie Clausnitz oder Tröglitz Zuflucht suchen zu müssen, von vollends verrohten Selbsterhaltungsreflexen, kleinlichem Geiz und der durch Frust gehärteten Unfähigkeit zur Solidarität geprägt ist, verkommt die Kritik des Islam zu seiner Aufwertung. AfD-Anhänger attestieren allen Flüchtlingen aus islamischen Ländern, sie seien längst so ununterscheidbar wie der Islam es mit ihnen vorhat, und bewundern diese Religion, mit der sie kein Problem haben, so lange sie nicht im eigenen Kulturkreis provoziert, zugleich wegen ihres ideologischen Rigorismus’ und einer Herrschaftspraxis, in der die für sakrosankt gehaltenen Familienbanden und traditionelle Autoritäten die Unterwerfung des Individuums erfolgreich bewerkstelligen.
Die AfD lässt sich bislang auf kein klares Programm festlegen, sondern setzt auf Instinkt und Gefühl, was im Übrigen auch der Grund dafür ist, warum sie ganz unterschiedliche Politspinner anzieht, die irgendeine Marotte antreibt: vom Zweifel am Klimawandel übers gesteigerte Interesse am Lagerort des Goldes der Bundesbank bis zur Hysterie in Sachen sexueller Früherziehung (12). Zentrale Grundlage ihres Erfolgs ist ihr Format, das Siegfried Kracauer in seiner Analyse des deutschen Mittelstands als „Kampfweise“ bezeichnet hat, die in Sprache und Präsentation der Bewegung zum Ausdruck kommt. Die AfD adressiert ihre Botschaften an den Sozialcharakter des zunehmend enthemmt agierenden Subjektivisten, also den streitsüchtigen, zur vernünftigen Verständigung und Erfahrung zunehmend unfähigen politisierenden Aufmucker.
Damit greift sie nur auf und führt konsequent zu Ende, was die im Bundestag vertretenen Parteien schon lange praktizieren, und ermuntert die Staatsbürger, die nicht mehr durch Zwang, sondern durch permanente Ermutigung zur Individualität integriert werden sollen. Während in den Betrieben schon lange mehr Eigeninitiative angesagt ist, mobilisiert der geschrumpfte Staat seine Bürger zu mehr zivilgesellschaftlichem Engagement. Zugleich motiviert die Kulturindustrie dazu, unverfälscht nur man selbst zu sein, also nicht nur zu allem bereit, sondern vor allem dazu, sich jederzeit neu zu erfinden. Anpassung wird nicht mehr erzwungen, sondern gelingt gerade dort am besten, wo die Individuen glauben, reinste Selbstverwirklichung zu betreiben und sich dabei unbemerkt im Einverständnis mit den gesellschaftlichen Imperativen befinden. Mit Spaß im Job, stets brav gefühlsduselig in der Beziehung, unabhängig beim Kaufen, bockig beim Streiten: lauter Selbstverwirklichungsbestien, die glauben, dass es mächtig auf sie ankommt, und denen es immer schwerer fällt, sich beim unverfrorenen Ausbreiten zumindest so weit zu beherrschen, dass sie nicht zur chronischen Belästigung für andere werden.
Befeuert wird dieser Subjektivismus, der nichts mit Individuation gemein hat, durch eine gesellschaftliche Konstellation, in der die vernunftorientierte Verständigung darüber, wie die Verhältnisse zum Wohle aller einzurichten seien, gar nicht erst vorkommt, wo die politischen Kategorien psychologisiert werden, und in der das Politische als Raum verstanden wird, in dem es darum geht, seiner ganzen Persönlichkeit Ausdruck zu verleihen und seinen Standpunkt, wie beschränkt er auch sein mag, hemmungslos durchzusetzen. Hinter dem tendenziellen Größenwahn beim Selbstverwirklichungsgehampel verschanzt sich soziale Angst, die als Wille zur Selbsterhaltung ausagiert wird. Auch in den zunehmend verunsicherten Mittelschichten, die maßgeblich am Erfolg der AfD beteiligt sind, zeichnet sich Deklassierung ab. Zu den Abstiegsängsten gesellen sich Verunsicherungen über die richtigen Handlungsstrategien, die in der flexibilisierten Arbeitswelt zunehmend abverlangt werden. Doch die begründete Angst in einer Gesellschaft, in der die Subjekte in Wahrheit als potentiell Überflüssige gesetzt sind, kommt im psychologisierenden Gejammer gerade nicht vor. Hin- und hergeschaukelt zwischen Größenwahn und verdrängter Realangst liefert die narzisstische Besetzung des eigenen Selbst einen scheinbaren Ausweg. Dort, wo das Eigene keine reale Chance zur Entfaltung hat, regrediert das Ich auf „Ichlibido“, in der sich rücksichtslose partielle Rationalität und irrationale Destruktivität vereinen. Die Zurücknahme des Ich korrespondiert so mit einer Infantilisierung des Erlebens, der Unfähigkeit zu Erfahrung und Sublimierung, wie es beim Aufeinandertreffen politischer Kontrahenten in Talkshows oder Kommentarspalten zu beobachten ist.
Gegenwärtiger Profiteur des beschriebenen Gesellschaftscharakters ist die AfD, die durch konsequente Emotionalisierung des Politischen und ihrem konformistischen Rebellionsangebot, das in ihren bevorzugten Schlagworten zum Ausdruck kommt, ein zeitgemäßes Bedürfnis bedient. Die Botschaft „Ändern Sie nicht ihre Meinung. Ändern Sie die Politik!“ zielt beispielsweise mitten auf die Bedürfnislage des nachbürgerlichen Subjekts, das es zum rechthaberischen Politisieren treibt. Die absolut gesetzte eigene Weltanschauung wird den Ultras der Meinungsfreiheit als Besitz zu einem Bestandstück ihrer Person und gerät mangels anderer Lustquellen inmitten des freudlosen Daseins zum triebökonomischen Dreh- und Angelpunkt der narzisstischen Inszenierung. (13) Die affektive Besetzung der eigenen Ansichten und ihre triumphale Verkündung verschafft das Gefühl, zu denen zu gehören, die wissen, wo es lang geht. Was sie entkräftet – bloße Fakten oder Widerspruch –, wird als Bedrohung registriert und als narzisstische Kränkung erlebt. Diese Rechthaberei ist gerade weil sie dem denkenden Zugriff entzogen bleibt und gegen Erfahrung abgedichtet ist, verletzlich und boshaft zugleich, was in der rotzig-redundanten Angeber-Sprache der konformierenden Asozialen, die nach Adorno geradezu als die „Ontologie von Halbbildung“ zu begreifen ist, unverfälscht zum Ausdruck kommt.
Beflügelt wurde dieser Typus auch durch die neuen Kommunikationstechnologien, vor allem die im Internet bestehende Möglichkeit, überall seinen Senf dazugeben zu können. Der Erfolg der AfD ist mit den politischen Talkshows, den aufkeimenden Bürgerprotesten der letzten Jahre und mit der Entwicklung in den sogenannten Sozialen Netzwerken verbunden, allesamt Medien, in denen mit zackigen Sprüchen und bornierter Kraftmeierei gepunktet werden kann. Leute, die vor einigen Jahren noch alleine am Tresen saßen, weil ihrem Gekeife keiner zuhören konnte, stellen plötzlich nicht nur fest, dass ihre Verbalentgleisungen immerhin Reaktionen provozieren, sondern treffen beim manischen Kommentieren auf Gleichgesinnte. Doch die Kneipe ist abgeschafft – und damit auch das schwache Korrektiv in Gestalt des Unterhaltung suchenden Mehrheitskneipengängers gegen den völlig asozialen Grantler. Der Stammtisch nämlich war besser als sein Ruf, den ihm ungesellige Gestalten mit starkem Distinktionsbedürfnis erfolgreich aufdrücken. Der einsam Polternde hingegen, dem es in der Kommentarspalte, der Arena des kleinen Mannes, einzig und allein darum geht, die Kontrahenten in albernen Scheingefechten fertig zu machen, hat nicht einmal mehr den Spaß, den Stammtischbrüder eben auch haben können.
Die nachbürgerliche Subjektkonstitution kommt der AfD in beiden Teilen Deutschlands zu Gute. Dennoch markierte die Zonengrenze bislang den Unterschied in der Wählergunst. Garant des größeren Erfolgs im Osten ist die Beschaffenheit des ostzonalen Bewusstseins, das die Ost-AfD spezifisch bedient, und somit ist der Eindruck nicht unbegründet, dass in Ost- und Westdeutschland unter demselben Label de facto zwei unterschiedliche Parteien entsprechende Zielgruppen ansprechen. Dass die AfD jüngst auch in den westdeutschen Bundesländern Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz sehr deutlich den Sprung in die Landtage schaffte, kann zum einen darauf zurückgeführt werden, dass sich konservative Wähler seit der Modernisierung der CDU von dieser nicht mehr angesprochen fühlen, und dass auch im Westen der Unmut gegenüber der Flüchtlingspolitik der Regierung wächst. Nicht nur im Osten werden Migranten von vermeintlich oder tatsächlich Zukurzgekommenen als Konkurrenten um staatliche Transfers wahrgenommen. Der Strukturwandel in Westdeutschland, der seit den 1970er Jahren im Gange ist, bedeutet auch hier in einigen Gebieten Deindustrialisierung und Verödung ganzer Regionen nebst der Produktion von Überflüssigen. Doch während im Osten das volle völkische Programm gefahren wird, sind die wirtschaftsliberalen Positionen in den alten Bundesländern, und dort insbesondere in den Regionen mit annähernder Vollbeschäftigung, wirkmächtiger, was sich sowohl anhand der Wahlprogramme als auch am Personal zeigen lässt. Im Wahlprogramm für Baden-Württemberg, wo Traditionen wie Erfindergeist und Fleiß zur Regionalfolklore zählen, wird Baden-Württemberg denn auch als eine „der wohlhabendsten Regionen in Deutschland“ vorgestellt, die sich durch Wirtschaftskraft und eine hohe Lebensqualität auszeichne. Wenn hier eine verfehlte Politik, auch in Bezug auf Flüchtlinge, angegriffen wird, dann aus der eher wohlstandschauvinistischen Überzeugung, dass man tatsächlich etwas zu verlieren hat. Folgerichtig findet sich denn auch im Programm der AfD liberales Gedankengut wieder, etwa wenn geschrieben wird, dass die AfD ein „konsequent freiheitliches Menschen- und Gesellschaftsbild“ verfolge. (14) So spiegelt auch die Zusammensetzung des Landesverbandes das einstige Profil der AfD als Partei von Professoren und Akademikern wieder. Der baden-württembergische Spitzenkandidat, der Wirtschaftsprofessor Jörg Meuthen, steht irgendwo zwischen Deutschliberalismus und Neoliberalismus, verbindet zackige Forderungen nach Deregulierung mit dem heimatlichen Gespür fürs Bewahrenswerte, ohne unmittelbar völkisch-kapitalistische Tendenzen zu integrieren. Ähnlich verhält es sich in Rheinland-Pfalz, wo die Arbeitslosigkeit ebenfalls in weiten Teilen gering und das Pro-Kopf-Einkommen hoch ist. Die Wahlprogramme beider Bundesverbände sind um Sachlichkeit bemüht und entwerfen keine plakativen Schreckensszenarien. Vielmehr richten sie sich vornehmlich an Wähler rechts der Union und bürgerlich-mittelständische Bevölkerungsgruppen, die eine Rückbesinnung auf Traditionen einfordern, (15) was ausdrücklich unter Bezugnahme auf Humanismus und Aufklärung geschieht (16). Die politische Karriere des gebürtigen Beniners Achille Demagbo war daher nicht zufällig nur in einem westdeutschen Landesverband der AfD möglich. Demagbo ist Gründungsmitglied der Kieler AfD und wurde im August 2015 in seinem Amt als Beisitzer im Landesvorstand Schleswig-Holstein bestätigt, in dem er sich um die Zuwanderungs- und Integrationspolitik kümmert. Das Motiv seines Engagements in der AfD ist laut eigener Aussage u.a. der Umstand, dass er als Wertkonservativer feststellen musste, dass traditionelle Tugenden wie die Achtung der Familie, Fleiß und Ordnung „leider zunehmend verloren gehen“. Da dies nicht so recht in das linke Bild vom a priori postnational-subversiven Migranten passt, wurde er von einer Podiumsdiskussion zur „Zukunft der Flüchtlingspolitik“, die an einem Gymnasium stattfinden sollte, nach angedrohten Schülerprotesten wieder ausgeladen. (17)
Ganz anders im Osten: Mit André Poggenburg stand im sachsen-anhaltinischen Wahlkampf eine Person an der Spitze, die als Handwerker und erfolgloser Kleinunternehmer exemplarisch für ostdeutsche Nachwende-Biografien steht und in der Zone als „einer von uns“ gilt. Anders als das Gros seiner westdeutschen Pendants, die den zurückhaltenden Duktus des Berufspolitikers beherrschen, hat Poggenburg stets das Mittel der Aufwiegelung und auf Eskalation setzenden Provokation im Repertoire. So verwundert es auch nicht, dass sich das Wahlprogramm in Sachsen-Anhalt deutlich von denen im Westen unterscheidet. Angesichts der ausgeprägten Empörungskultur im Osten beruft man sich nicht einmal aus taktischen Gründen auf eine humanistische Tradition, mit der man einen gut situierten konservativen Mittelstand, den es im Osten kaum gibt, ansprechen könnte. Die AfD-Landsmannschaft Ost spielt offensiv die völkisch-antiliberale, sprich: in der Sache national-sozialistische Karte und tritt –das ist eine weitere Besonderheit des Ostens –als Bewegungspartei in Erscheinung, die auf Straßenprotest wie etwa die Beteiligung an Aktionen gegen geplante Flüchtlingsheime setzt, wo der Mob zusammenkommt, der auch zum Pogrom bereit ist. (18)
So heißt es im Wahlprogramm für Sachsen-Anhalt, das komplett auf chronisch beleidigte Ossis zugeschnitten ist, dass das Land der Frühaufsteher „reich an weiten unverbauten Landschaften und unerschöpflich reich an Geschichte“ sei und als „die Wiege Preußens“ gelte. Aber: „Unsere herausragende Geschichte […] steht in traurigem Widerspruch zur heutigen gesellschaftlichen Lage: Sachsen-Anhalt leidet unter hoher Arbeitslosigkeit. Einstige Zentren der Industrialisierung gelten heute als strukturschwache Problemregionen. Der ländliche Raum verödet zusehends. Unsere schönen Landschaften werden durch Windräder verschandelt. Die zügellose Masseneinwanderung bedroht unseren bescheidenen Wohlstand und unseren inneren Frieden“. Die von Flüchtlingen und Windrädern gleichermaßen geplagte AfD in Sachsen-Anhalt präsentierte sogleich die Landesverräter: Nicht sozialistische Mangelwirtschaft und die Überflüssigkeit der ehemaligen DDR-Ökonomie für den Weltmarkt sind das Problem, sondern die „heutige Politik […], die mit gekrümmtem Rücken fremde Vorgaben erfüllt, anstatt sich aufrichtig für die Interessen unseres Landes einzusetzen“, (19) wobei offen bleibt, ob der Wessi, die amerikanische Ostküste oder beide für den Haltungsschaden zur Verantwortung zu ziehen sind. Dazu passt, dass in der Abteilung Kulturpolitik gefordert wird, Museen, Orchester und Theater künftig in die „Pflicht“ zu nehmen, einen „positiven Bezug zur eigenen Heimat“ zu fördern; etwa durch die Aufführung klassischer deutscher Stücke und deren Inszenierung in der Weise, dass „sie zur Identifikation mit unserem Land anregen“. (20) Anscheinend hat man wenigstens begriffen, dass selbst im Osten die „Identifikation mit dem Land“ missglückt und das schönfärberisch beworbene Miteinander der Deutschen weitaus treffender mit dem Kampf aller gegen alle umschrieben ist, der längst nicht mehr vorm Volksgenossen halt macht.
Mit einem solchen Programm konkurriert die Ostzonen-AfD mit der dort als faktische Volkspartei agierenden LINKEN um Wählerstimmen. Was sich bei den Landtagswahlen 2014 schon angedeutet hatte, manifestierte sich am 13. März 2016 in Sachsen-Anhalt. Dort überflügelte die AfD die Linkspartei deutlich. Besonders die Zahlen zur Wählerwanderung sprechen eine deutliche Sprache: Zwar verloren alle Parteien, ausgenommen Die Grünen, beträchtliche Stimmenanteile an die AfD, was hinsichtlich der fehlenden klassischen Parteienbindung und der Neigung zur Protestwahl im Osten (21) wenig überrascht, doch hatte insbesondere die LINKE einen gewaltigen Aderlass an Wählern zu verzeichnen. (22) Die AfD punktete zudem vornehmlich bei den Altersgruppen unter 60 Jahren und erreichte dort überdurchschnittliche Ergebnisse. Mit den Senioren ab 60 Jahren ist dagegen eine Wählergruppe fest an die LINKE gebunden (23), die aus demografischen Gründen in Zukunft schrumpfen wird, weshalb die AfD der Linkspartei auf lange Sicht den Status als dominierende Kraft in den neuen Bundesländern streitig machen könnte.
Es ist daher nur verständlich, dass sich in den Gremien der LINKEN Unmut breit macht und ostentative Abgrenzung ansteht, wo doch die Gemeinsamkeiten nicht mehr geleugnet werden können. Steif und fest wird etwa behauptet, die LINKE sei „das Gegenmodell zur AfD“ (Bernd Riexinger) und es gebe bei „keiner Forderung der AfD […] irgendeine Beziehung zu den LINKEN“ (Katja Kipping) (24). Abgesehen davon, dass antizionistische Abenteuer der AfD angesichts ihrer vehementen Ablehnung des Islam anders als in der LINKEN eher unwahrscheinlich sind, gibt es etliche gemeinsame Forderungen wie die Ablehnung der Sanktionen gegen Russland, die volksnahe Betonung des Vorrangs von Sicherheit und Ordnung oder Kinderbetreuung und Ärztehäuser nach DDR-Vorbild. (25) Unbekümmert von der offenkundigen ideologischen Wahlverwandtschaft und der gemeinsamen Klientel kommt der Beschluss des Parteivorstandes der LINKEN vom 24. Januar 2015 als Aufruf zum Antifaschismus daher. Dort wird festgestellt, dass die AfD „ein politischer Gegner für DIE LINKE“ ist, da sie Teil der „extremen Rechten“ sei, was mit der „Nähe weiter Teile der Partei zu der rassistischen ‚Pegida-Bewegung’“ (26) begründet wird. (27) Was beim heroischen Kampf gegen rechts freilich unterschlagen werden muss, ist die Tatsache, dass nicht wenige Pegida-Demonstranten Wähler der Linkspartei sind. (28) Wie man dabei auch noch zur grotesken Einschätzung kommt, die AfD treibe die „Entpolitisierung der Bevölkerung“ voran, wo doch das Problem gerade darin besteht, dass die AfD vor allem bei notorisch frustrierten Leuten politische Reflexe reizt, in deren Fall es für alle Beteiligten angenehmer wäre, sie blieben politisch inaktiv, bleibt ein Geheimnis der Strategen aus dem Karl-Liebknecht-Haus.
Wenn im besagten Beschluss des Parteivorstandes der LINKEN davon die Rede ist, dass die AfD dort besonders erfolgreich sei, wo auch die NPD stark ist, und dass dies die Gegenden seien, „wo rechte Ideologie und rechte Ressentiments bereits salonfähig sind und wo eine offene, moderne, multikulturelle und plurale Gesellschaft nicht stark ist“ (29), so ist das nur die halbe Wahrheit. Es sind nämlich auch die Gegenden im Osten, in denen die LINKE als Volkspartei agiert, in denen die AfD besonders erfolgreich ist. Denn die Linkspartei ist nicht allein das parteigewordene Resultat ostdeutscher Tristesse, „in der sich aggressive Weinerlichkeit, dumpfer Gemeinschaftskult und schlechter Geschmack verdichten. Die Linkspartei ist darüber hinaus der zentrale Katalysator dieser Zustände“ (30), da sie nach wie vor den Wahn verfestigt, die Ostdeutschen seien ein unterdrücktes Volk.
Darauf können die Funktionäre von der AfD und Pegida aufbauen. Werden jene von den LINKEN auch als „als Teil der extremen Rechten“ in gewohnter Feindbildpflege aus der Ossigemeinschaft ausgeschlossen, so bedeutet das für die Parteistrategen nicht, „dass alle Mitglieder oder Anhängerinnen und Anhänger auch so bezeichnet werden können“ (31). Mit diesen teilt man nämlich die Ansicht, dass sie mit „Überforderungssituationen“ zu kämpfen gehabt hätten und erleben mussten, so Gregor Gysi, „wie sich in ihrer Umgebung alles verfremdete, weil andere Kulturen, andere Menschen Einfluss bekamen“ (32). Gemeint sind damit wohl die „Demütigungen […] in der Nachwendezeit“, von denen Katja Kipping kürzlich sprach, um zugleich auf die Berechtigung der Ängste, „die auch auf den Demonstrationen von Pegida artikuliert werden“, hinzuweisen: Es gebe „zum Beispiel die Angst vor Altersarmut. Oder die tiefe Überzeugung, dass es mehr direkte Demokratie und Volksabstimmungen geben müsse. Oder dass kein Krieg mit Russland vom Zaun gebrochen werden soll.“ (33) Zwei einander feindlich gesinnte Parteien – ein Programm. Falsch liegt demnach Reinhard Bingener (34), der in der FAZ behauptete, mit den Wahlen in Sachsen-Anhalt sei der Protest von links nach rechts gewandert und die vermeintlich harmlose Ostalgie werde vom nationalen Widerstand abgelöst. Das genaue Gegenteil ist der Fall: Die trotzige Ostalgie, die von der ehemaligen PDS so hartnäckig am Leben gehalten wird, befeuert erst das völkischen Treiben in Teilen der Ostzone.
Dass Teile der ostdeutschen AfD mit Ausländerhassern paktieren und dem Mob zuweilen die Stichworte liefern, ist belegt und zählt zu den realen Gefahren, die von der Partei bzw. ihrem Anhang vor allem für Flüchtlinge ausgehen, die immer noch in ostdeutschen Käffern untergebracht werden. Auch sammelt sich in der AfD eine patriotische Szene, die mit autoritärem Untergangsgeraune, pathostriefendem Heideggerjargon und antikapitalistischer Germanenesoterik versucht, das völkische Bewusstsein im Land zu revitalisieren. Zwischen dem rechten Flügel der AfD und der rechtsintellektuellen Szene – von der Wochenzeitschrift Junge Freiheit bis zum völkisch-identitären Bildungsnetzwerk Institut für Staatspolitik – bestehen rege Kontakte. Ob diesen Vernetzungen irgendeine auch nur ansatzweise relevante Bedeutung zukommt, ist jedoch zweifelhaft. Der Einfluss von Zeitgenossen, die Sätze wie den folgenden – aus einem von Vertretern der identitären Bewegung im neurechten Antaios-Verlag herausgegebenen Heideggerbuch – auf Lager haben, ist äußerst bescheiden, weil noch der bornierteste Durchschnittsdeutsche andere Sorgen als „urdeutsches Fieber“ hat: „Wir plädieren für die geistige Unruhe, den schlafenden Furor teutonicus, das ewig unzivilisierte, das urdeutsche Fieber, das uns aus germanischen Urwäldern wie aus gotischen Kathedralen entgegen strahlt (und) sich in uns versammelt.“ Das leidenschaftliche Interesse an solchen Ergüssen dürfte unter westdeutschen AfD-Wählern weniger stark verbreitet sein als unter Politikwissenschaftlern mit dem Forschungsschwerpunkt Faschismustheorie, für die der Zeitpunkt, das Carl-Schmitt-Basispaket mit dem Zusatz „Neue Rechte“ unters Volk bzw. das nächstbeste Bildungsnetzwerk gegen rechts zu bringen, selten so günstig war.
Figuren wie Björn Höcke sind folglich auch innerhalb der Partei starker Kritik ausgesetzt. Zu behaupten, mit der AfD drohe der neue Faschismus, ist also genauso geschichtsvergessener wie realitätsverleugnender Unfug. Vielmehr wird die AfD auf Dauer nur Erfolg haben, wenn sie die wirrsten Volksesoteriker kleinhält oder rausschmeißt. Die dem Nazi-Popanz zugrundeliegende Vorstellung, die Deutschen lauerten insgeheim nur darauf, sich im faschistischen Kampfverband zu formieren, um erst die Ausländer rauszuwerfen und anschließend andere Länder zu überfallen, ist nicht mehr als eine angstlustbesetzte Legende für Leute, die von linken Sozialkundelehrern auf die Idee gebracht wurden, dass Faschismus nur dort droht, wo „Heil Hitler“ gebrüllt wird.
Die Mehrheit der Deutschen, und an die wendet sich eine Partei, der bundesweit zwölf und mehr Prozent der Wählerstimmen zugetraut werden, ist weder grundsätzlich ausländerfeindlich – auch wenn sie keinen unbegrenzten Zuzug will und manche sich sogar für einen völligen Stopp des Zuzugs von Flüchtlingen aussprechen –, noch drängt es sie nach kultureller Homogenität und deutschnationaler Aggressivität. Im Gegenteil: Der zeitgemäße Deutsche ist dialog- und friedensorientierter Aufarbeitungsweltmeister, hat auch dann noch Spaß an „anderen“ Kulturen, wenn diese fast ausnahmslos Angst und Schrecken im Angebot haben, und zieht lokale oder regionale Gemeinschaften der ideologischen Aufrüstung gegenüber der ihm viel zu abstrakten Nation vor.
Das faschistische Potential blitzt unterdessen in der spontanen Mobilmachung von Leuten auf, die weltanschaulich gar nicht so fest gebunden sein müssen, aber von bestimmten Stichworten, Kampagnen und Krisen temporär angeheizt werden, woraufhin sie für eine Weile auf Feindbildjagd gehen, dabei alle Hemmungen ablegen und nach zielloser Triebabfuhr wieder in den depressiven Normalzustand zurückfallen. So auch in der aktuellen Auseinandersetzung zwischen Staatsantifaschisten auf der einen und Flüchtlingsgegnern auf der anderen Seite, die beiderseits mithilfe der bevorzugten Kampfmittel der Skandalisierung, der Denunziation und des politischen Stalkings in wildgewordener Weise aufeinander losgehen.
Davon unbeeindruckt wird unverdrossen behauptet, die AfD stelle nicht nur fürs Ansehen, sondern auch für die Existenz der BRD eine handfeste faschistische Bedrohung dar. Ein trübsinnig aufgelegter Gregor Gysi raunt stellvertretend fürs helle Deutschland „Das schlimmste Kapitel unserer Geschichte darf sich nicht wiederholen“, obwohl er doch seit Jahren die Fraktionsbank mit Genossinnen teilt, die auf dem Höhepunkt ihres politischen Lebens das Frauendeck der Mavi Marmara bestiegen, um Israel direkt an seinen Grenzen den Krieg zu erklären.
Weil die Gegner der AfD in jedem noch so albernen Vorstoß der neuen Partei die Wiederkehr des NS halluzinieren, verfehlen sie den Gegenstand. Aber um die reale AfD geht es ihnen ohnehin viel weniger als darum, mit der AfD ein willkommenes Nazi-Schreckgespenst zu haben, auf das man alles projizieren kann, was man selber verdrängen muss, um als besserer Deutscher mit sich selbst und der postnazistischen Demokratie im Reinen zu bleiben. Ganz so, als seien Abschiebungen, Grenzsicherungen oder moralisch verrohtes Denken Erfindungen der AfD.
Wenn das andere Deutschland die Moralkarte gegen rechts spielt, heißt das keineswegs, dass dessen Protagonisten bei der Wahl ihrer Mittel so sauber bleiben, wie sie es von ihren Gegnern verlangen. Vielmehr offenbaren sich die nämlichen potentiell faschistischen Denkmuster und Enthemmungen, die man beim rechten Volksfeind beanstandet. Die offen frauenverachtenden Angriffe gegen die beiden AfD-Politikerinnen Beatrix von Storch und Frauke Petry jedenfalls stehen dem giftigen Gepöbel gegen „Mutti Merkel“ auf Blogseiten wie PI in nichts nach. Während man Merkel ein Zuviel an Emotionalität vorwirft, ist es bei den AfD-Frauen ihre diagnostizierte Gefühlskälte sowie ihr berechnendes Wesen, die sie zu Intimfeinden und zum Gegenstand sexualisierter Diffamierungen machen.
CDU-Mann Günther Oettinger, der kundtat, dass er sich „heute Nacht noch erschießen“ würde, wenn „die komische Petry“ seine Frau wäre, steht durchaus exemplarisch für die Neigung zum Schamlos-Asozialen in der aktuellen Auseinandersetzung mit der AfD. Wenn es gegen die Feinde der Demokratie geht, sind die Reihen fest geschlossen, dann gibt es nur einen Humor. Die Zeitschrift Konkret kommt zwar nicht bei Schenkelklopfern rund ums Ehebett ins Schmunzeln, dafür aber umso mehr bei Hitler, weswegen auf dem Cover der Aprilausgabe Frau Petry folgerichtig ein „Er“ werden musste, natürlich nicht irgendein Er, sondern der „Führer“. Die Schlagzeile lautet: „Er ist wieder da“. Daneben eine Nahaufnahme von Petry samt schwarzem Mikro unter ihrer Nase, das an Hitlers Schnurres erinnern soll.
Die miesen Herrenwitze richteten sich nicht nur gegen die „Pussy des Monats“ (Carolin Kebekus über Petry), sondern auch gegen Beatrix von Storch, deren unglückliches Erscheinungsbild mit jener Art von Häme bedacht wurde, die mit gekonnter Bloßstellung nichts, aber mit niederen Instinkten sehr viel zu tun hat. Ein Welt-Autor zum Beispiel versuchte sich in Satire, aber heraus kam folgendes: „Gutsherrenjacke, hohe Stirn und Flinte: Um sich vor sexuellen Übergriffen im Karneval zu schützen, haben viele Kölnerinnen zur gleichen Kostümierung gegriffen.“ Hier wird nicht nur suggeriert, dass von Storchs Physiognomie sie für potentielle Täter unattraktiv mache. Im Eifer des denunziatorischen Klamauks werden die Frauen, die in Köln Opfer von Gewalttätern wurden, zu einer Lachnummer verarbeitet.
Eine weitere Attacke erfolgte in Form eines Tortenwurfs durch einen Aktivisten, der natürlich im Clownskostüm zur Tat schritt. Bei dem als „Tortaler Krieg“ und gelungene antifaschistische Aktion gefeierten Angriff entstand ein Foto, das die mit Tortensahne bekleckerte von Storch zeigt. Das wieder beflügelte die postpubertäre Fantasie des linken Widerstands: Das Bild wurde mit dem Logo einer Pornoseite versehen, um von Storch als dirty Cumshot-Girl bloßzustellen. So kam es, dass zwei rechte Frontrauen nicht mehr Gegenstand von Kritik sind, sondern als außenstehende Schabracken beschimpft werden, die den Ansprüchen, die man an Wichsvorlagen hat, nicht genügen. Dieses als Antifaschismus getarnte Bedürfnis nach Triebabfuhr, erscheint hier in klassischer Projektion auf solche, die aus der Reihe tanzen, in diesem Fall also auf die Vorturnerinnen einer Partei, die wegen ihres familienpolitischen Konservatismus’ mit dem Hedonismus dieser Gesellschaft im offenen Widerspruch steht.
Rechts und konservativ, das ist in der Berliner Republik schon unschick genug. Zum gepflegten Feindbild der wiedergutgewordenen Deutschen wurde die AfD aber nur, weil sie den Islam nicht als beglückende Bereicherung betrachtet, sondern zuvörderst die Scheußlichkeiten benennt, die seine Anhänger in die Welt setzen. Die ohnehin schon gereizte Stimmung kochte fast über, als einige AfD-Politiker sich weigerten, nach dem Massaker von Brüssel in die kollektive Trauerkaraoke einzustimmen. „Wann seid ihr endlich solidarisch mit den Lebenden?“, fragte Marcus Pretzell völlig zu Recht. Auch Beatrix von Storch meldete sich über Facebook zu Wort und nahm mit einem lapidaren „Hat aber alles nix mit nix zu tun“ diejenigen auf die Schippe, die tatsächlich nach jedem neuen Massaker kundtun, dass das Ganze nichts mit dem Islam zu tun habe, wofür man ihr prompt unübertreffbaren „Zynismus“ und „Geschmacklosigkeit“ bescheinigte.
In Wahrheit besteht der Zynismus in der abgefeimten Trauer, die von Menschen zelebriert wird, die mit ihrem Entsetzen geradezu kokettieren: in einer Mischung aus Mitgefühl und Wichtigtuerei, das nur die Berauschung an der eigenen Ergriffenheit meint. Die Reaktionen nach den jeweils neuesten Massakern sind nichts anderes als pflichtschuldig abgeleisteter Betroffenheitskitsch, der einzig den Zweck erfüllt, den am Ritual Beteiligten das Gefühl von authentischer Teilhabe zu vermitteln: Wer bekannt ist, legt für die Kamera ein trübes Gesicht auf und kondoliert im Predigtton; wer nur Facebook hat, ist plötzlich „Je suis XY“. Das Problem dabei ist nicht die Trauer oder die Wut, sondern die Instrumentalisierung der jeweiligen Gefühlsregung fürs unbekümmerte „Weiter so!“, das regelmäßig einhergeht mit der zynischen Schönrednerei der Religion, die den Tätern die Ideen liefert und sie zum Kriegführen inspiriert. Die Toten sind noch nicht geborgen, schon erklärt der erste Islamexperte die Täter zu deklassierten Jugendlichen, der zweite warnt vor einem Generalverdacht gegen Muslime und der dritte empfiehlt zur Prävention islamischer Bomben, Moslems mit noch mehr Islam zu integrieren.
Zu den neudeutschen Tugenden zählt, dass man lang mit betroffener Miene Klage gegen die Einheimischen führen kann, aber mit vollem Verständnis pariert, wenn Angehörige fremder Kulturen die Sau raus lassen. Dieser selbstanklägerische Hang, sich durch demonstrativen Einsatz gegen die Schlechtigkeit der eigenen Kultur ein gutes Gefühl zu verschaffen, ist längst kein Alleinstellungsmerkmal antideutscher Kleingruppen mehr. Blanker Selbsthass gepaart mit Sündenstolz bestimmen die Gefühl- und Erlebniswelt auch derjenigen Deutschen, die in Politik und Medien den Ton angeben. Von den radikalen Antideutschen, die in den letzten Monaten den Eindruck hinterließen, als seien sie über den zeitweiligen Anstieg rechter Gewalt nicht allzu unglücklich, weil damit die Wiederaufnahme der antifaschistischen Beschäftigungstherapie und die Regression auf Jugendantifastimmung verbunden war, können die zaghafteren postnationalen Demokraten aber noch lernen, wie man es dem eigenen Gemeinwesen, auf das man bei aller Abgrenzung doch fixiert ist, so richtig zeigt.
Die Zukunft der AfD ist offen. Parteiinternes Gezänk und schwankende Umfragewerte verweisen darauf, dass man von einer Etablierung in der deutschen Parteipolitik noch weit entfernt ist. Was jetzt aber schon feststeht, ist, dass die besorgten Demokraten aller Fraktionen mit dem Islam viel besser leben können als mit einer AfD in den Parlamenten, weswegen sie getrieben vom Fanatismus des Staatsantifaschismus daran arbeiten, ausnahmslos jede Kritik des Islam unter den Verdacht des Rassismus zu stellen und als „Angriff auf die deutsche Leitkultur“ (Heribert Prantl) zu bekämpfen. (35) Solch beispielhafter Einsatz für den Islam und die antirassistische Leitkultur nutzt vor allem denjenigen Berufsmoslems, die mit dem notorisch pikierten Aiman Mazyek – der den Verbandsislam als Mischung aus hochgeschleimtem DGB-Funktionär und orientalischem Mafiosi allein ästhetisch bestens verkörpert – der Meinung sind, dass es mit der AfD „zum ersten Mal seit Hitler-Deutschland eine Partei gibt, die erneut eine ganze Religionsgemeinschaft diskreditiert“. (36)
Sich selbst in einer Mischung aus Beschränktheit und Dreistigkeit als Naziopfer in Szene zu werfen, mithin nahezulegen, die AfD sei angetreten, einen Holocaust an den Moslems im Land vorzubereiten, hat nicht nur den Zweck, die Vernichtung der europäischen Juden zu verharmlosen. Die Mitleidnummer verschafft auch einen Wettbewerbsvorteil im politischen Geschäft, auf den die Mazyeks beim Jammern stets schielen: Jeder als antimuslimisch Gebrandmarkte ist ein willkommener Anlass, sich beleidigt aufzuplustern und noch mehr respektvolle Sonderbehandlung einzufordern. Die europäische Antwort auf dieses durchschaubare Taktieren verlogener Berufsmoslems heißt mitmachen und den Islam hofieren, wo man ihn trifft. Dies geschieht nicht nur, weil man diese unerhellte Religion als faszinierende Menschheitsbeglückung und Integrationsmaßnahme für deklassierte Migranten zu schätzen weiß, sondern auch in der Absicht, die militanten Glaubensbrüder zu besänftigen, obgleich diese die zarten Zuwendungen allein deswegen nicht als Handreichung zum friedlichen Miteinander annehmen, weil sie keinen Frieden wollen. Ganz im Gegenteil interpretieren die djihadistischen Mörder und ihre Helfershelfer die ihnen zuteilwerdende Anerkennung als Schwäche, die dazu animiert, den Krieg gegen die Ungläubigen, den Westen und die Juden noch entschlossener fortzusetzen. Diesem Unheil nichts entgegenzusetzen, es vielmehr blind vor Sündenstolz und Kultursensibilität zu befeuern, darin besteht der gegenwärtige Beitrag der antirassistischen deutschen Leitkulturvertreter, die damit mehr für die Kontinuität des deutschen Schreckens leisten als die zum Volksfeind erklärte AfD.
David Schneider / Mario Möller (Bahamas 73 / 2016)
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