In der Ausgabe vom Januar 2016 erschien als Titelbild der Wiener Wochenzeitschrift Falter eine Zeichnung der Illustratorin Bianca Tschaikner zu den massenhaften sexuellen Übergriffen moslemischer Männer auf Frauen in der Silvesternacht in Köln. Die Zeichnung zeigt Dutzende schwarzhaarige, physiognomisch gleich aussehende Männer, die mit entschlossen aggressivem Gesichtsausdruck ihre Hände nach vereinzelt in ihrer Mitte gefangenen, weinenden blondhaarigen Frauen ausstrecken; ein Polizist wird von der Männermenge in Richtung Bildrand abgedrängt. (1) Die Männer formen einen undurchdringlichen Block, ohne deshalb eine Bande zu bilden. Vielmehr scheinen sie untereinander so wenig Beziehungen zu haben wie die einzelnen Frauen, die von ihnen umzingelt werden und sich gegenseitig nicht helfen können. Was die Männer verbindet, ist offenbar eher das momentane Ziel des Übergriffs als eine vorweg bestehende Zusammengehörigkeit.
Zu einem Zeitpunkt, als in der Bundesrepublik zu den mit großer Verspätung bekannt gewordenen Vorfällen in Köln neben Forderungen nach einer Verschärfung des Sexualstrafrechts ausschließlich beschwichtigend verallgemeinernde Phrasen über die Omnipräsenz „sexualisierter Gewalt“ im Alltag zu hören waren, gegen die nun endlich vorzugehen sei, hatte das österreichische Magazin, das seit seiner Gründung 1977 mit einer dezidiert libertären Haltung konservativen wie linken Provinzialismus attackiert, durch Wahl dieses Titelbildes alle Tatsachen festgehalten, die nach kurzem Erschrecken sogleich zerredet, zerdeutet, verleugnet und schließlich in kollektiver Amnesie dem Vergessen überantwortet wurden. Nicht zuletzt in dieser Amnesie, die die Übergriffe (dass es auch in anderen Städten welche gab, weiß längst niemand mehr) zu einer Reihe diffuser Einzeltaten zusammenschrumpfen ließ, ähneln die Kölner Ereignisse den Attentaten von Paris, an die mittlerweile nur noch das Fortbestehen des Ausnahmezustands erinnert, der in ihrer Folge ausgerufen wurde, während tatsächlich zum schlechten Normalzustand zurückgekehrt worden ist. Als Täter figurieren im einen Fall „im Namen des Islam“ mordende „Extremisten“, im anderen Fall „kriminelle Asylanten“, während der Alltagsislam in Westeuropa, der Ermöglichungsgrund von beidem ist, unangetastet bleibt.
Tschaikners Illustration dagegen verdeutlicht, was im begleitenden Artikel der Falter-Autorin Sibylle Hamann mit Recht hervorgehoben wird (2): dass es sich bei den sexuellen Aggressionen auf dem Domplatz nicht um Akte animalisch enthemmter Triebtäter handelte, sondern um die kollektive Erniedrigung erkennbar westlicher Frauen durch selbsternannte moslemische Herrenmenschen, ausgeführt mit ruhiger Zielstrebigkeit und in stolzer Gewissheit der eigenen Übermacht. Die Mischung aus Selbstgewissheit und Häme, die auf der Illustration die Gesichter der Täter kennzeichnet, desavouiert die Behauptung, Alkoholkonsum, fehlgelenkte sexuelle Begierde oder Leiden unter sozialer Inferiorität hätten die Übergriffe motiviert. Dass es sich bei den Männern zwar um eine übermächtige Gruppe, aber um keine Bande handelt, widerspricht dem Versuch, die Ereignisse als Erscheinungsform organisierter Kriminalität zu verharmlosen. Der von der Männermenge abgedrängte Polizist, vereinzelt wie die Frauen, indiziert schließlich, was niemand nach den Kölner Vorfällen auch nur anzudeuten wagte: dass hier, als gleichsam alltagspraktisches Echo auf die Attentate von Paris, kollektiv und spontan ein islamischer Gegensouverän auf den Plan getreten war, um an den unzüchtigen Schlampen, denen im westeuropäischen Alltag bislang zumindest nicht überall gezeigt werden darf, was von ihnen zu halten ist, erstmals ein für jeden sichtbares öffentliches Exempel zu statuieren. Selbst, dass die Frauen blond und die Männer schwarzhaarig sind, ist klärend statt verunklarend, weil die Qualität der Taten ohne Reflexion auf die ethnische Herkunft der Täter überhaupt nicht auf den Begriff gebracht werden kann. Überdies gelingt es der Zeichnung gerade durch solche Typisierung, die Kölner Ereignisse statt als Addition von Einzeldelikten als das darzustellen, was sie waren: ein Standgericht zwecks Abstrafung zur Nichtigkeit verdammter weiblicher Individuen, und damit auch einer Öffentlichkeit, in der Frauen ohne Schutz durch Bruder, Freund oder Freundin ihrem Vergnügen nachgehen können. Die Entindividualisierung der Täter wie der Opfer war kein manipulativer Eingriff der Zeichnerin, sondern brachte das erschreckend Neue an den Ereignissen zum Ausdruck.
Tschaikner jedoch hat für ihre Zeichnung im vergangenen April keinen Preis, sondern eine Rüge vom österreichischen Presserat erhalten. Der Klage einer Leserin, die beanstandet hatte, in Tschaikners Zeichnung würden die Kölner Täter als „spezifisch nordafrikanisch porträtiert“, womit pauschal „Muslime und Schwarze“ (!) diskreditiert würden, ist damit stattgegeben worden. Durch „die Uniformität der Darstellung“, meinte der Presserat, werde suggeriert, dass es sich bei den Tätern „nicht um einzelne Individuen, sondern um eine homogene Gruppe handle, bei der sich alle Mitglieder gleich verhalten würden“ (3) – als wäre nicht genau das in Köln auch geschehen. Die Verhandlung über die Klage hatte am 22. März, dem Tag der Anschläge von Brüssel, stattgefunden. Auf den Erkenntnisgehalt dieser Koinzidenz wies Tschaikner in einer Stellungnahme auf Facebook hin, die wegen ihrer ungewöhnlichen Klarheit ausführlich zitiert zu werden verdient:
Heute morgen habe ich […] der „Gerichtsverhandlung“ des österreichischen Presserats zu dem von mir im Jänner gezeichneten Falter-Cover zum Thema Köln beigewohnt. […] Am selben Tag werden wieder mal (man gewöhnt sich ja fast schon langsam dran, nicht wahr?) mitten in Europa für die hehren Ziele des politischen Islam Dutzende Menschen ermordet und ganze Städte in Angst und Schrecken versetzt […]. Die selbstzerstörerische Borniertheit und Blindheit derer, die sich weigern, zu erkennen, dass das Problem nicht Leute wie ich sind, die es wagen, sexuelle und andere Terrorakte von islamistischer und muslimisch-patriarchaler Seite zu thematisieren, und dass nicht wir es sind, die mit der Benennung dieser Taten den Islam verunglimpfen, sondern dass der politische Islam das Problem ist, und dass der Islam derzeit den Job, sich selbst zu verunglimpfen, schon selbst sehr gut erledigt, macht mich schlicht fassungslos. Die Selbstzerstörung, die derzeit vor allem in Deutschland und Österreich stattfindet, erinnert mich mittlerweile langsam an ganz andere dunkle Zeiten, in denen dank dem Wegschauen der Bevölkerung die furchtbarsten Dinge geschehen konnten – Dinge, die zuvor ebenfalls niemand für möglich gehalten hätte. Ich möchte all den politisch korrekten islamismusfreundlichen kulturrelativistischen GrenzegegnerInnen eines mitgeben: Wenn das, was wir jetzt durchleben, und das, was noch auf uns zukommt, Geschichte sein wird, werdet ihr es sein, ihr, die all ihr Handeln und Denken einzig von der blinden Angst, dass sich die Geschichte wiederholt, leiten lassen, ihr werdet es sein, die sich ihrerseits den schon bekannten Fragen stellen werden müssen: Warum habt ihr zugeschaut? Warum habt ihr nichts gesagt? Wie konntet ihr das zulassen? (4)
Hier ist in unübertroffener Prägnanz zusammengefasst, was eine aufklärte Öffentlichkeit, schon um die Bedingungen ihres Selbsterhalts zu sichern, angesichts der Kölner Ereignisse reflektieren müsste: dass zwischen den Vorfällen von Köln und den Attentaten von Paris und Brüssel ein Zusammenhang besteht – nicht, weil sich die Kölner Täter von djihadistischen Massenmördern inspirieren ließen, sondern weil sie mit diesen, auch wenn sie mit ihnen nichts zu tun haben, den Hass auf die westlichen Gesellschaften, die in ihnen garantierten Rechte und vorausgesetzten Pflichten, und den unbedingten Willen teilen, diese Gesellschaften durch gemeinschaftliche Akte islamischer Dezivilisierung ihrer Grundlage zu berauben; dass eben deshalb, und durchaus unabhängig davon, dass einzelne Djihadisten im Zuge der jüngsten Flüchtlingsbewegungen nach Westeuropa gelangt sind, die Kölner Übergriffe, die djihadistischen Attentate und die Flüchtlingspolitik sinnvoll nur gemeinsam thematisiert werden können; schließlich die Einsicht, dass Warnungen vor einer Wiederholung der Geschichte, wie sie in der Mobilisierung gegen den sogenannten Rechtspopulismus omnipräsent sind, systematisch darüber hinwegtäuschen, dass Geschichte stets nur verwandelt wiederkehrt und die konkrete Form, die die Bedrohung des Nationalsozialismus unter den Bedingungen der multikulturalistischen Zivilgesellschaft annimmt, nicht FPÖ oder AfD, sondern der islamische Terror und seine basisdemokratische Voraussetzung, der Alltagsislam, sind, die nicht zufällig in Deutschland am stärksten verharmlost werden.
Erwartungsgemäß bildete sich, nachdem der Presserat der Klage stattgegeben und seine Rüge ausgesprochen hatte, in den sozialen Netzwerken um Tschaikner keine der sonst üblichen Solidarisierungswolken. Nur die Redaktion des Falter druckte eine allerdings deutliche Solidaritätsadresse (5); eine „Wir sind Bianca“-Kampagne blieb aber aus, und keine einzige sich als emanzipatorisch-feministisch verstehende Zeitschrift druckte die Zeichnung nach. Im Gegenteil, das „feministische“ österreichische Magazin An.schläge, dessen Name dadurch einen ganz neuen Beiklang erhielt, beendete die seit sechs Jahren bestehende Zusammenarbeit mit der Illustratorin und widerrief zwei bereits vereinbarte weitere Aufträge, weil die Redaktion Tschaikners Darstellung der Kölner Übergriffe für „rassistisch diffamierend“ hielt, eine Einschätzung, die, wie mit autoritätssüchtiger Zufriedenheit konstatiert wurde, „vom Presserat jetzt bestätigt“ worden sei. Die Kooperation sei, verlautbarte die Redaktion in adäquatem Arbeitgebertonfall, in „gegenseitigem Einvernehmen“ beendet worden, man selbst wisse sich auf der zivilgesellschaftlich korrekten Seite: „Unsere Berichterstattung zu den Übergriffen in der Silvesternacht in Köln richtet sich […] sowohl gegen rassistische Hetze als auch gegen ein Verschweigen der Vorfälle im Namen des Antirassismus.“ (6)
Die Januar-Ausgabe der An.schläge enthielt zum Köln-Thema allerdings keine Kritik des Antirassismus, sondern den deliranten Text einer Irmtraud Voglmayr über die angeblich durch mediale Bildpolitik beförderte „Konstruktion gefährlicher Körper“, zu denen neben „Körpern“ von „Sexarbeiter_innen, Bettler_innen, Obdachlosen“ auch die von „Geflüchteten“ zählten, deren Dämonisierung der Verwandlung der Öffentlichkeit in einen „Angstraum“ diene – ein fast schon plakatives Beispiel für die demagogische Umdeutung nachweislicher Straftaten in ein Ergebnis von „Konstruktionen“ und „Wahrnehmungen“, die bald die Köln-Debatte bestimmte und der Tschaikner mit ihrer Zeichnung gerade entgegengearbeitet hatte. (7) Tschaikners Klarstellung, die Zusammenarbeit mit ihr sei einseitig aufgekündigt worden, und ihre Erklärung angesichts der Klage vorm Presserat wurden gar nicht erst kommentiert – eine konsequente Anwendung des in der Redaktion beliebten Begriffs der Definitionsmacht. Dabei hatte der Falter die Zeichnerin und die Autorinnen zum Köln-Thema bereits mit Rücksichtnahme auf den sprechorttheoretischen Amoklauf eines Teils seiner Leserschaft ausgewählt. Tschaikner hat in Chile studiert, zwei Jahre in Marokko gelebt, in palästinensischen Flüchtlingslagern in Jordanien gearbeitet und Iran, Dubai und die Westsahara bereist (8); Sibylle Hamann, die den Essay zum Thema verfasste, schreibt für Emma und berichtete für das Nachrichtenmagazin Profil unter anderem aus Ruanda, dem Kongo und Afghanistan. Beide können also Naherfahrungen mit dem Alltag in islamischen Ländern sowie linkes und feministisches Engagement vorweisen. Da aber Emma wegen der vernünftigen Äußerungen Alice Schwarzers über den Islam in genderfeministischen Kreisen längst als Sprachrohr eines westlichen, also bösen Feminismus gilt und weder Tschaikner noch Hamann über moslemische Wurzeln verfügen, konnten ihre Wortmeldungen als Ausdruck eines unreflektierten Eurozentrismus übergangen werden.
Maßgeblich für die Wahrnehmung der Kölner Ereignisse wurde wenige Wochen nach den ersten Presseberichten stattdessen die Deutung der ehemaligen Traditionsfeministin Barbara Vinken, die am 4.2.2016 in einem Interview mit dem Deutschlandfunk die sexuellen Übergriffe als Konstituenten eines „Mythos“ beschrieben hatte, wonach „ein Land, um geeinigt zu werden, den fremden Mann braucht, der auf die einheimischen Frauen übergreift“. (9) Die Attacken versteht Vinken weniger als reale Vorfälle denn als nationalistisches Phantasma, als „Szenario“, wonach „unsere deutschen, milchweißen Frauen“ durch „fremde, dunkle Männer“ bedroht seien. Nicht der patriarchalische Übergriff, sondern der um ihn geschaffene Mythos habe „Deutschland verändert, insofern als hier ein sehr fremdenfeindliches, sehr patriarchalisches Szenario wiederbelebt“ worden sei. Damit war der Rahmen geschaffen, um den in Köln angegriffenen Frauen pauschal rassistische Projektionen unterstellen und ihnen die Fähigkeit absprechen zu können, das, was ihnen geschah, angemessen zu beurteilen. Vom Ausdruck einer politischen und gesellschaftlichen Gefahr wurde Köln zum Symptom der Psychopathologie weißer deutscher Frauen, die zwecks Aufarbeitung ihres verleugneten Rassismus unbedingt eine kulturwissenschaftlich versierte Mythologin konsultieren sollten. Ob alle der in Köln belästigten Frauen überhaupt weiß und deutsch waren, hat nie jemanden interessiert.
Angesichts der Querfront aus Islam-Apologetinnen, Antizionistinnen, Genderaktivistinnen, Jungle World- und Konkret-Autorinnen, die nach den Kölner Ereignissen allesamt die „Ausnahmslos“-Initiative der berüchtigten Rainer-Brüderle-Stalkerin Anne Wizorek unterzeichneten, worin eine Verschärfung des Sexualstrafrechts im Sinne des Konzepts der Definitionsmacht gefordert und vor der Instrumentalisierung der Vorfälle für antimuslimischen Rassismus gewarnt wurde (10), hätte sich das Thema für eine antideutsche Intervention eigentlich von selbst angeboten. Stattdessen brachte die einzige dezidiert antideutsche Publikation, die sich zu den Kölner Ereignissen überhaupt geäußert hat, ein Kunststück fertig, das nicht einmal Konkret und der Jungle World gelang (11), nämlich den Islam im Zusammenhang mit den sexuellen Übergriffen überhaupt nicht zu erwähnen.
Unter dem unfreiwillig treffenden Titel Austreibung der Restempathie veröffentlichte die Speerspitze der Nürnberger Ideologiekritik (die inzwischen größtenteils nach Freiburg abgewandert ist), die Redaktion der Zeitschrift Pólemos, Ende Januar 2016 einen Text, der in puncto Islam-Verharmlosung und Frauenverachtung nicht einmal von Tschaikners ehemaligen Arbeitgeberinnen übertroffen wurde. Dass die Kölner Vorfälle bis ins Detail an das erinnerten, was in Kairo Alltag ist, kam der Redaktion nicht in den Sinn. Vielmehr sei in Köln „eine Silvesternacht“ zum Anlass genommen worden, „einen von Medien und Polizei angedrehten Staatsnotstand zu inszenieren“, anlässlich dessen (womit man nicht sich selbst meinte) „noch einfache Verstandestätigkeiten abtraten“. In Treue zu einem von der Zeitschrift schon früher vertretenen Begriff von Ideologiekritik, für den das bürgerliche Recht nicht wahrheitsfähig ist, man sich seiner also nach Belieben partiell und instrumentell bedienen kann, wurde phantasiert: „Was genau in jener Nacht an der Kölner Domplatte geschah, lässt sich nachträglich kaum rekonstruieren. Tatsächlich gab es eine große Menschenansammlung – laut Polizeiangaben gegen 23 Uhr etwa 1.000 Personen überwiegend junge Männer „migrantischer“ Herkunft. Gesichert ist, dass es im Laufe des Abends zu einer beträchtlichen Anzahl von sexuellen Übergriffen und Diebstahlsdelikten gekommen ist. […] Mit Sicherheit wird es eine […] für die betroffenen Frauen unerträgliche Situation gewesen sein. Doch schon das Ausmaß der Straftaten lässt sich kaum seriös angeben: Haben bis zum Abend des 2. Januar rund 30 Geschädigte Anzeige erstattet, waren es einige Tage später, nachdem die Zeitungen bereits begonnen hatten, sich mit stets neuen Schreckensmeldungen zu übertrumpfen, schon über 800 […]. Zwar ist es durchaus möglich, dass sich durch die öffentliche Berichterstattung auch mehr Opfer von Straftaten getraut haben zur Polizei zu gehen; ebenso denkbar ist aber […], dass viele Anzeigen auf Sachverhalten basieren, die unterhalb der Grenzen der Strafbarkeit liegen.“ (12)
Auf diese Weise wurde aus dem Prinzip bürgerlichen Rechts, im Zweifel für den Angeklagten zu votieren, zu einem Zeitpunkt, als es noch gar keine Angeklagten gab, die Maxime, schon vor Beginn irgendeines Prozesses die Aussagen von Opfern und Zeugen anzuzweifeln. Dass kaum eine der medialen „Schreckensmeldungen“ ohne Warnungen vor ethnisierenden Verallgemeinerungen auskam und schon die verspätete Bekanntgabe der Ereignisse durch die Polizei von der Furcht mitbestimmt war, rassistische Vorurteile zu bedienen, scheint für Leute, die das Wort „migrantisch“ längst so automatisiert in Anführungszeichen setzen wie Critical Whiteness-Ideologen, keiner Erwähnung wert zu sein. Darüber, dass viele der angezeigten Sachverhalte „unterhalb der Grenzen der Strafbarkeit“ lagen, musste sich die Justiz von angelernten Staatskritikern auch gar nicht belehren lassen. Vielmehr spricht die Tatsache, dass seither nur wenige Verdächtige identifiziert und noch weniger Fälle zur Anklage gebracht wurden, eher dafür, dass sich der Staatsapparat im Falle von Köln trotz der neuen Situation, mit der die Exekutive dort konfrontiert worden war, durchaus an seine eigenen Maßgaben hält. Das Bedürfnis, „keine Zurückhaltung mehr üben (zu) müssen, sondern enthemmt los(zu)schlagen“, das Pólemos nicht im Verhalten der Täter, sondern in den Reaktionen der Öffentlichkeit am Werk sah, hat sich in der Strafverfolgung jedenfalls bislang keine Geltung verschafft.
Nun hätte man die Tatsache, dass sich in den Übergriffen auf dem Domplatz Delikte wie sexuelle Belästigung, Vergewaltigung, Beleidigung, Diebstahl und Körperverletzung auf hierzulande in dieser Form bislang unbekannte Weise verbanden – was die Strafverfolgung fraglos erschwert –, zum Anlass für die Frage nehmen können, ob nicht wirklich etwas Präzedenzloses geschehen war, auf das nicht allein juristisch, sondern politisch geantwortet werden müsste. Statt die Präzedenzlosigkeit der Ereignisse in Betracht zu ziehen, sieht Pólemos aber in Eintracht mit Barbara Vinken diskursive Mächte am Werk, die Präzedenzlosigkeit bloß konstruieren: „Raub und Vergewaltigung verschwammen mit sexueller Nötigung und Diebstahl, die Weigerung Platzverweisen Folge zu leisten, Körperverletzung, Beleidigungen, usw. – alles wurde unterschiedslos gleich bewertet und vor allem der gleichen ‚Tätergruppe‘ zugeschrieben.“ In Wahrheit sei es, wurden hysterisch Anzeige erstattende Frauen belehrt, „doch naheliegend“, dass sich in Köln einfach nur „eine nicht ganz unübliche Ansammlung angetrunkener und sexuell aggressiver junger Männer zusammengefunden hat, die sich vor allem durch die pure Anzahl von dem Wahnsinn unterschied, der in allen größeren Städten nachts an jedem Wochenende zu beobachten ist“. Schließlich komme, und damit war endgültig unteres Antisexismusniveau erreicht, „beim Oktoberfest“ auch niemand auf die Idee, „angetrunkene aggressive Männer, pöbelnde Idioten, Diebe, Räuber und Vergewaltiger unterschiedslos als ein und dieselbe Gruppe zu betrachten“. Wer zu bedenken gibt, dass es sich in Köln weniger um ein eskaliertes Oktoberfest als um den kollektiven Versuch handelte, solche und ähnliche Feste im Namen einer durchaus unbayerischen Sexualmoral künftig zu unterbinden, dem fehlt die „Restempathie für diejenigen, die auf Gnade des Staates angewiesen sind“. Womit natürlich nicht die Frauen auf dem Domplatz gemeint waren, für die die Restempathie diesmal leider nicht gereicht hatte.
Natürlich wollte die Redaktion auch nicht an Mitgefühl für die Kölner Täter appellieren, von denen sie immerhin annimmt, dass es sie irgendwie gegeben haben muss. Adressat der Empathie waren vielmehr „die Flüchtlinge“, aus deren Gruppe sich nach bisherigem Erkenntnisstand der Mob in Köln offenbar tatsächlich zu großen Teilen, aber eben nicht vollständig zusammensetzte. Die legitime Geste, Flüchtlinge gegen kollektive Vorverurteilungen zu verteidigen, wird zur Kritik jedoch erst dann, wenn zur Kenntnis genommen wird, dass der Sittenkodex, dessen Exekutoren sich in Köln an zufällig den öffentlichen Raum durchquerenden Vertreterinnen von Unzucht und Zivilisation ausgetobt hatten, gerade für moslemische Migranten, die sich von dieser Zivilisation ein besseres Leben erhoffen, eine größere Gefahr darstellt als jede Pegida-Demonstration. Vom Charakter der Geschehnisse in Köln wollte man sich jedoch gar kein Bild machen; stattdessen war der Köln-Text nur die Vorarbeit für eine wenig später veröffentlichte „Kritik der Flüchtlingspolitik“, die den Islam ebenfalls mit keinem Wort thematisiert und die Kölner Übergriffe nur noch für den letzten Satz brauchen konnte – als Beispiel für „eine Silvesternacht“, die nichts als ein Alibi gewesen sei, um „Menschen in Not die Hilfe zu verweigern“. (13)
Während antideutsche Ideologiekritiker ihre ersten Gehversuche auf dem Gebiet des konstruktiven Journalismus unternahmen, schuf die Bundesregierung in Zusammenarbeit mit diversen Agenturen der Zivilgesellschaft Tatsachen, um den Hass auf volksfremde Sozialschmarotzer mit dem Primat kultursensibler Islamophilie zu versöhnen. Alle politischen Initiativen, die seither als Reaktion auf die Vorfälle von Köln angekündigt oder schon durchgesetzt wurden, dienen dieser Versöhnung: die Schaffung juristischer Grundlagen zwecks schnellerer Abschiebung „krimineller Asylanten“, was am allerletzten die Angehörigen des Kölner Mobs treffen wird, denen sich in den seltensten Fällen individuell Straftaten werden nachweisen lassen, sondern Gelegenheitsdiebe und andere Kleinkriminelle, die durch ihr gesellschaftlich völlig bedeutungsloses Fehlverhalten den Anspruch auf Hilfe durch die Volksgemeinschaft verspielt haben; die Verschärfung des Sexualstrafrechts, mit der sich gegen die Etablierung der Taharrush gamea auf europäischen Großstadtplätzen nichts ausrichten lässt, die aber jedem Migranten, der aus Unsicherheit oder Unwissen im Café oder in der Diskothek die falsche Frau zu früh an falscher Stelle berührt, die erhoffte bessere Zukunft zerstören kann; das geplante Verbot „sexistischer Werbung“, von dem sich schon gar nicht mehr sagen lässt, ob es eher antisexistischen oder islamischen Sittenwächtern gefallen will und das die letzten Spuren jener Liberalität aus dem öffentlichen Raum zu tilgen hilft, die nicht wenige Migranten überhaupt erst zur Einwanderung motiviert hat. All das fügt sich in längst Durchgesetztes wie die Residenzpflicht und die Abspeisung von Migranten mit Taschengeld und Naturalien, die die Bildung homogener Cliquen befördern und Erwachsene als unmündige, zur Verantwortung unfähige Kleinkinder behandeln; die Vorwegbereitstellung von Gebetsteppichen, Koran-Ausgaben und Halal-Essen; die Unterbringung homosexueller und christlicher Flüchtlingen in gesonderten Unterkünften, um sie vor Übergriffen durch islamische Flurwächter zu „schützen“ und diese so von vornherein ins Recht zu setzen.
Prägnantestes Beispiel für diese Versöhnung sind aber die „Flüchtlings-Knigges“, die nach zahlreichen sexuellen Übergriffen von Migranten neuerdings in Schwimmbädern und Diskotheken ausgehängt oder verteilt werden. (14) Mit ihnen sollen die Neuankömmlinge – als stilkritische Ergänzung zu den integrationspolitischen „Leitfäden“ für die Orientierung in der deutschen Mehrheitsgesellschaft (15) – lernen, wie man sich „hier“ benimmt. Der Flüchtlings-Knigge der Münchener Bäderbetriebe, der in Comic-Form daherkommt und als vorbildlich gilt, hält neben üblichen Verhaltenshinweisen etwa für den Fall von Unglücken fest: „Keine verbale und körperliche sexuelle Belästigung gegenüber Frauen in jeglicher Bekleidung“. Abgebildet ist eine Frau im Bikini, nach deren Po sich eine mit einem durchgestrichenen Verkehrsschild markierte Hand ausstreckt. Was mit der etwas kryptischen Formulierung „in jeglicher Bekleidung“ gemeint ist, verdeutlicht eine andere Regel, die schon wesentlich islamsensibler lautet: „Egal, welche Badekleidung eine Frau trägt, sie ist zu achten und zu respektieren“ (ob die Frau oder die Kleidung gemeint ist, versteht nicht nur der Flüchtling nicht, obwohl gerade dieser Unterschied der entscheidende wäre). Das Comic-Bild hierzu zeigt nebeneinander eine Frau im Bikini, eine im Badeanzug und eine im Burkini, der islamisch korrekten „Badekleidung“. (16) Die Burkini-Frau statt die Bikini-Frau auch auf dem Bild für die Regel zum Verbot sexueller Belästigung abzubilden, ist wohl nur deshalb unterlassen worden, weil die Szene sonst zu unrealistisch gewesen wäre. Tatsächlich hätte man die Burkini-Frau auch auf dem anderen Bild nicht darstellen müssen: Sie ist bereits ein wanderndes Verbotsschild, während Bikinis und Badeanzüge ihren Trägerinnen gerade die Möglichkeit gewähren, auf Männer (und Frauen) attraktiv zu wirken und sich, wenn man selber Lust dazu hat und die passenden Bedingungen gegeben sind, von sympathischen Menschen sogar absichtsvoll berühren zu lassen.
Schließlich besteht ein wesentlicher, die heterosexuelle Matrix durchaus transzendierender Impuls für den Besuch von Schwimmbädern darin, Leute betrachten zu dürfen, die nicht so vollständig bekleidet sind wie im bürgerlichen Alltag. Erst recht gilt das für Diskotheken, die von Frauen wie von Männern nicht selten überhaupt nur zu dem Zweck besucht werden, in hoffentlich entspannter Atmosphäre jemanden zu finden, dem man zu beiderlei Vergnügen an den Po fassen kann. Moslemische Migranten und Migrantinnen über solche Glücksangebote des Westens im Unklaren zu lassen und sie stattdessen in der meist ohnehin bestehenden Idolatrie gegenüber „Achtung“ und „Respekt“ zu bestärken, indem man den Anschein erweckt, ein Bikini sei einfach nur eine legere Burka und eine westliche Frau etwas Ähnliches wie Frischobst, nach dem man nicht vorschnell grapschen darf, bekräftigt die islamische Sexualmoral, statt sie zu brechen, und arbeitet mit an der Verwandlung der Öffentlichkeit in ein islamisch-antisexistisches Kriegsgebiet, auf dem sich niemand mehr schutzlos und naiv bewegen darf, alle ständig gewahr sein müssen, Anmachen, Attacken und Übergriffe zu parieren, sich am besten jeder mit Reizgas und Pfefferspray ausstattet, die Kampfsportkurse über Monate ausgebucht sind, auf jede zögernd-freundliche Frage mit einem rabiaten „Was willstu?“ geantwortet wird und jede Erinnerung daran getilgt ist, dass die bürgerliche Revolution einmal mit der Hoffnung auf ein schutzloses Leben aller Menschen verbunden war, das Verteidigung gegen Gewalt, sei es seitens des Staates oder selbsternannter Gegensouveräne, nicht nötig hätte, weil sich alle darin einig wären, sich selbst und einander keinen Harm anzutun.
In Wahrheit sind sich debile Verwaltungsangestellte, die ernsthaft glauben, dass sich Leute, die minderjährige Mädchen auf der Wasserrutsche abfangen, um ihnen in die Vagina zu fassen (17), durch Verbotsschilder zu zivilisiertem Verhalten ermuntern lassen, arische Antisexistinnen, die vorm Mikrophon des Regionalfernsehens bekennen: „Ich lass’ mich doch nicht von jedem Fremden begrabschen“, und eingeborene Männer, die unter dem Motto „Pegida schützt“ gegen den Volkstod demonstrieren, mit dem Alltagsislam darin einig, dass die Welt in Ordnung ist, solange jeder „seine“ Frauen schützt, den eigenen Leib und den seines weiblichen Eigentums gegen Fremdzugriffe aller Art verteidigt und jedem, der Anstalten macht, das falsche Händchen zu halten, mit dem Rohrstock auf die Finger haut. Mit dem Freiherrn Adolph Franz Friedrich Ludwig Knigge, dessen Name von islamsensiblen Flüchtlingshelfern als Kürzel für ihr Verhaltensmanagement verwendet wird, hat all das nichts zu tun. Knigge, dessen 1788 veröffentlichte Schrift Über den Umgang mit Menschen keine Verhaltensfibel, sondern eine Denkschrift über die unausgesprochenen, meist gar nicht reflektierten und im alltäglichen Leben gründenden Voraussetzungen ist, auf denen Zivilisation aufruht und ohne die sie keine Wirklichkeit hat, war selbst 1771 durch den hessischen Landgrafen Friedrich II. von seinem Amt als Hofjunker der Kasseler Kriegs- und Domänenkammer wegen „amtlicher und geselliger Misshelligkeiten“ entbunden worden. Bei hessischen Hofdamen machte er sich durch Koketterien, scherzhafte Diebstähle von Schuhen und Dessous und Lästereien über Autoritätspersonen unmöglich, bevor er 1776 „Kurzweilmacher“ am Hof des Herzogs Carl-August von Sachsen-Weimar wurde. Wegen seines gewöhnungsbedürftigen Humors und seines Spotts über das „Hofgeschmeiß“ fiel er immer wieder in Ungnade, bis er sich ab 1785, nach Abschluss seines Romans Geschichte Peter Clausens, vorwiegend seiner schriftstellerischen Arbeit und seiner Tätigkeit für verschiedene Freimaurerlogen widmen konnte. (18) Seine witzige, facettenreiche Schrift, die sich neben dem „Umgang mit Leuten von verschiedenen Gemüthsarten“ etwa auch dem „Betragen gegen Schurken“, dem „Umgange unter Eheleuten“ und dem „Umgang mit und unter Verliebten“ widmet (19), ist das genaue Gegenteil der Straßenverkehrsordnungen, die nun in Clubs und Bädern ausgehängt werden.
Während Knigges Ausführungen über den „Umgang mit Damen“, das „Verhältnis zwischen Herren und Dienern“ oder den „Umgang mit Hof- und Weltleuten“ heute nur noch von historischem Interesse sind, halten seine allgemeineren Maximen Grundlagen höflichen Verhaltens fest, die zu Knigges Zeiten neu und als Prinzipien eines bürgerlichen code civil noch nicht allgemein durchgesetzt waren. Wie Knigge in feudalen Kreisen als Rüpel und Tunichtgut erschien, weil er der Partikularität und Exklusivität der Verhaltenskodizes seines Standes den universalen Kodex eines Umgangs mit Menschen, und eben nicht nur mit seinesgleichen, entgegensetzte, so stehen in seinem Werk Relikte der alten Feudalordnung neben dem weit in die Zukunft weisenden Versuch, eine Lust und Vergnügen an sich selbst und den anderen erst ermöglichende Sublimierung zu denken, die Bestandteil alltäglichen Verhaltens geworden wäre. In einer bürgerlichen Öffentlichkeit, die die ehemals feudalen Prinzipien der Höflichkeit, habituellen Differenziertheit und Diskretion nicht liquidiert, sondern verallgemeinert hätte, würden die Nuancen im Umgang mit anderen Menschen, die das stets spezifische Verhältnis bestimmen, in dem jeder Einzelne zum jeweils anderen steht, nicht verschwinden, sondern sich überhaupt erst entfalten:
Mach einigen Unterschied in Deinem äußeren Vertragen gegen die Menschen, mit denen Du umgehst, in den Zeichen von Achtung, die Du ihnen erweisest! Reiche nicht jedem Deine Hand dar! Umarme nicht jeden! Drücke nicht jeden an Dein Herz! Was bewahrst Du den Bessern und Geliebten auf, und wer wird Deinen Freundschaft-Bezeugungen trauen, ihnen Werth beilegen, wenn Du so verschwenderisch damit umgehst? (20)
Was im höfischen Umgang bloße Standesdistinktion war – nicht jedermann von gleich zu gleich zu begegnen –, wird im höflichen Umgang zum Ausdruck individuellen Unterscheidungsvermögens, das deutlich am Modell des zu Knigges Zeit gerade erst im Entstehen begriffenen Marktes gebildet ist. „Wert“ und „Verschwendung“ sind Begriffe eines an der Marktökonomie, und eben nicht mehr der Feudalgesellschaft, geschulten Verhaltens. Der Umgang mit Menschen, mit den intim vertrauten wie den nur im öffentlichen Raum begegnenden, orientiert sich an einer differenzierten Ökonomie des Takts, der die inzwischen längst schal gewordene Hoffnung zugrunde liegt, jeder könne, gerade indem er im alltäglichen Umgang jedem anderen so feinfühlig und spezifisch wie möglich Gerechtigkeit widerfahren zu lassen sucht, damit auch sich selbst und den eigenen Bedürfnissen am ehesten gerecht werden. Während Knigges Werk so am Beginn einer im Zuge der allgemeinen Durchsetzung des Kapitalverhältnisses sich herausbildenden Öffentlichkeit steht, die in ihm schon vorausgeahnt wird, obwohl die Spuren des Feudalismus in ihm noch deutlich erkennbar bleiben, sanktionieren die sexualpolitischen Verkehrsordnungen, die heute als Integrationsratgeber angeboten werden, den kompletten Bankrott der bei Knigge aufleuchtenden Hoffnung.
Die Neigung, die sexuellen Übergriffe in Köln als Akte enthemmter Triebtäter darzustellen, in der sich Pegida-Anhänger mit ihrem Hass auf vertierte Ausländer und Köln-Verharmloser mit ihrer Propaganda gegen sexistische Grapscher bemerkenswert ähnlich sind, täuscht darüber hinweg, dass sich hier nicht der verdrängte Trieb in unmittelbarer Aggression Bahn brach, sondern im Gegenteil der ganz und gar pragmatisierte Trieb auslebte, mit dem die islamische ebenso wie die antisexistische Sexualmoral die Fähigkeit der Individuen zur Triebsublimierung exorzieren möchte. Der pragmatisierte Trieb ist das Resultat einer den islamischen wie den antisexistischen Alltag tief prägenden Perhorreszierung von Vermittlung: der mit starren und brutal exekutierten Verhaltensregeln für jede Lebenslage, die nicht umsonst den Islam ebenso wie den Antisexismus charakterisieren, den Menschen möglichst von der frühen Kindheit an eingebläuten Überzeugung, den inkommensurablen, unkontrollierbaren, einen selbst ängstigenden Impulsen aller Sexualität lasse sich nur durch deren mit unmittelbarer Beherrschung konvergierende Verstümmelung, nicht durch ihre zivilisierende Verwandlung in ein von allen Menschen geteiltes Glück beikommen. Deshalb richten sich islamische und antisexistische Sexualmoral, indem sich beide obsessiv mit der vermeintlich omnipräsenten Bedrohung durch irreguläre Übergriffe und Berührungen vor allem des weiblichen Leibes befassen, zugleich gegen jede Fähigkeit der Individuen zur Berührbarkeit, gegen alle Aufgeschlossenheit gegenüber Fremdem, gegen die Ansprechbarkeit durch Unbekanntes und gegen die Bereitschaft, sich auf noch nicht gemachte Erfahrungen, und damit auf Erfahrung überhaupt, einzulassen. In diesem Sinne sind Islam und Antisexismus die Avantgarde der Fremdenfeindlichkeit, die den Pegida-Demonstranten längst den Rang abgelaufen hat.
Indem als Reaktion auf die Übergriffe von Köln für den Alltag auf öffentlichen Plätzen, in Schwimmbädern, Bars und Diskotheken eine neue Straßenverkehrsordnung erdacht wird, in der nach Frauenkörpern ausgestreckte Hände mit Stoppschildern versehen sind, potentiell jede nicht vorweg abgesprochene Berührung mit einem „Bis hierher und nicht weiter“ sanktioniert werden kann, das weitaus aggressiver als die Berührung ausfallen darf, und indem an Orten, die dem gedankenverlorenen Vergnügen dienen sollen, Sperrzonen zwecks Frauen- und Kinderschutzes errichtet werden, wird der gesamte westliche Alltag in eine sexualpolitische Gefahrenzone verwandelt, in der antisexistischer und islamischer Kontrollwahn in einer Weise verschmelzen, die jedem, der die Hoffnung auf ein besseres Leben noch nicht ganz aufgeben hat, akute Angst bereiten muss, gerade weil es sich bei diesem Prozess nicht einfach um die Unterwerfung einer unter eine andere Kultur handelt, sondern um die Entstehung von etwas Neuem, das die schlimmsten Tendenzen in den gegenwärtigen westlichen und islamischen Gesellschaften zusammenführt. Ist diese neue Ordnung erst einmal durchgesetzt, kann man sicher sein, dass kein Flüchtling, der sich nach einem freieren und glücklicheren Leben sehnt, es in dieser Hölle lange aushält.
Magnus Klaue (Bahamas 73 / 2016)
Frühere Aktivitäten sind im Aktuell-Archiv aufgeführt. Dort gibt es auch einige Audio-Aufnahmen.
Alle bisher erschienenen Ausgaben der Bahamas finden Sie im Heft-Archiv jeweils mit Inhaltsverzeichnis, Editorial und drei online lesbaren Artikeln.