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Heft 75 / Winter/Frühjahr 2017
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Die Minarette sind unsere Bajonette!

Eine Reisewarnung an alle Freunde einer zivilen türkischen Republik

Seit dem 20.1.2017 ist alles vorbei. Das türkische Parlament hat mit den Stimmen von Erdoğans AKP und der Mehrheit der Abgeordneten der nationalchauvinistischen MHP – zusammen 80 Prozent der Abgeordneten – für die Errichtung einer islamistischen Präsidialdiktatur gestimmt. Dass die für Ende Mai vorgesehene Volksabstimmung daran noch etwas ändert, ist eher unwahrscheinlich. Es wird ein dunkles Land werden: voller Gerüchte, Heimlichkeiten und Angst. Die Verlierer, vor allem die Frauen, die dem Kopftuch nichts abgewinnen können, werden sich so unsichtbar wie möglich machen, ihre Gespräche werden erfüllt sein von lauterster Harmlosigkeit, und die Annäherung zwischen den Geschlechtern wird sich noch schuldbewusster und verklemmter vollziehen als bisher schon.

Viele westliche Türken aber werden ihren Kompromiss mit den Verhältnissen machen, der ihnen gar nicht so schwerfallen wird. Zunächst haben sie sich, von Panik und Todesängsten getrieben, aber auch von dem dringenden Bedürfnis dazugehören zu wollen, stramm hinter den vom Führer verkündeten Sieg des Volkes gegen einen „verbrecherischen“ Putschversuch gestellt, um dann auf den Massenkundgebungen des geeinten Volkes verhöhnt zu werden. Dann haben nicht wenige festgestellt, dass ihre Republik und die Erdoğans in Schicksalsfragen sich so viel nicht nehmen, was ihrer Unterwerfung einen Teil des bitteren Beigeschmacks nimmt.

Zusammenstehen gegen die Rache der Ermordeten

Manche von denen, die als die nächsten Opfer des unaufhaltsamen Durchmarsches des einfachen Volkes unter seinem geliebten Führer schon feststehen, haben am Untergang einer Republik, in der es nie selbstbewusste Bürger gegeben hat, fleißig mitgewirkt. Kaum ein türkischer Sozialdemokrat oder Linker würde zugeben, dass der selbstbewusst und aggressiv Türkentum geheißene Nationalstolz, an dem sie nicht rühren wollen, auf dem Genozid an den Armeniern 1916 genauso wie den Massenmorden an vor allem Griechen in den Jahren 1920 bis 1923 aufruht. Im Gegenteil: Wenn einer die Gründungsverbrechen der Republik auch nur benennt, kommt es zum ganz großen Schulterschluss, dann gibt es keine Parteien mehr, sondern nur noch Türken. Zuletzt war es am 17.1.2017 wieder soweit: „Am fünften Tag der Marathondebatte um die Verfassungsänderungen trat Garo Paylan von der prokurdischen Partei HDP ans Rednerpult, um für eine pluralistische Demokratie zu plädieren: ‚Kollegen, zwischen 1913 bis 1923 haben wir vier Völker verloren – die Armenier, die Griechen, die Assyrer und die Juden. Sie sind aus diesem Land vertrieben worden, mit Massakern und mit einem Völkermord. Liebe Kollegen ...‘ Dann musste er seine Rede wegen der vielen Unmutsbekundungen und Zwischenrufe unterbrechen. ‚In diesem Land hat es nie einen Völkermord gegeben‘, schrien Abgeordnete aus den Reihen der islamischen Regierungspartei AKP und der nationalistischen MHP ebenso wie Vertreter der kemalistischen CHP, die sich als sozialdemokratisch versteht. ‚Hören Sie auf, die Geschichte dieser Nation zu beleidigen!‘, brüllte ein Abgeordneter. Schließlich schaltete sich Sitzungspräsident Ahmet Aydin ein: ‚Kollege Paylan, bitte berichtigen Sie Ihre Worte. Es hat keinen Völkermord gegeben.‘ Beschwichtigend wandte sich Paylan abermals an das Plenum. ‚Sehen Sie mal, Kollegen, wir Armenier waren früher 40 Prozent der Bevölkerung, heute sind wir 0,1 Prozent, irgendetwas muss uns doch passiert sein!‘, beschwor er das Parlament. Aber er wurde wieder niedergebrüllt. ‚Herr Paylan, passen Sie auf, was Sie sagen‘, herrschte Parlamentsvize Aydin den Armenier an. ‚Ich habe Sie gewarnt: Sie dürfen hier nicht die Nation beleidigen.‘ Die Sitzung wurde unterbrochen. Anschließend schloss die Volksvertretung mit überwältigender Mehrheit Garo Paylan für drei Sitzungen aus dem Parlament aus. Seine Ansprache, so beschlossen die Abgeordneten, wird aus dem Parlamentsprotokoll gelöscht.“ (Tagesspiegel, 18.1.2017)

Wie Paylans nicht zu Ende gehaltene Rede aus dem Parlamentsprotokoll, so wurden ganze Bevölkerungsgruppen erst tatsächlich und dann aus dem kollektiven Gedächtnis der Türken ausgelöscht. Doch die Ermordeten, die Vertriebenen und die Geflohenen geben keine Ruhe, sondern geistern als klandestin agierende Verräter am Türkentum durchs kollektive Unbewusste, offensichtlich befähigt das zu tun, was man an ihnen vollstreckt hatte, wenn man sie nicht rechtzeitig enttarnt und unschädlich macht. Mal treten sie als misyoner auf, womit Imperialisten gemeint sind, die, von den USA und Europa unterstützt, das Christentum zu dem Zweck verbreiten, eine antitürkische christliche Irredenta auf den Weg zu bringen. Dann unterwandern sie als dönme getarnt, was eigentlich nur Konvertit bedeutet, den türkischen Staat, um jüdisch wie christlich motivierten, jedenfalls verräterischen Machenschaften nachzugehen. Es können zersetzende Armenier sein, obwohl es in der Türkei davon nur noch ein paar Tausend gibt, oder Juden, deren Zahl auf unter 20.000 geschrumpft ist. Wenn es ganz arg kommt, sind es diejenigen, die sich der nationalen Identität verweigern und zum Beispiel Weihnachten und Silvester feiern. Keineswegs nur in der Logik von Erdoğans Anhängern und den mit ihnen verbündeten Nationalchauvinisten treten die Wiedergänger der Ermordeten heute vor allem als die wirklichen oder vermeintlichen Anhänger ausgerechnet des Islamisten Fethullah Gülen auf, Gespenster zumeist, auf die alle Varianten der Feinderklärung zu passen scheinen.

Die Avantgarde des Staats agiert „spontan“

Der in der Türkei besonders verbreitete Hang, sich die Welt und vor allem die Ereignisse daheim mit Verschwörungstheorien zu erklären, ist nicht immer auf Paranoia zurückzuführen, sondern hat allzu häufig auch einen soliden empirischen Grund. In 93 Jahren Republik ist Rechtssicherheit, Verlass auf die Ordnungsbehörden oder auf staatliche Verlautbarungen und letztlich die persönliche Sicherheit immer nur teilweise durchgesetzt worden. Es gab diesen tiefen Staat, der gar nicht so sehr die bis ca. 2005 existente Doppelstruktur aus gewählter Regierung und dem vom Militär dominierten nationalen Sicherheitsrat meinte, sondern Verbindungen zwischen Militär, Polizeieinheiten oder dem Geheimdienst und extralegalen Kräften, die man ab dem Putsch von 1971 auch Konter-Guerilla nannte. Von Anfang an bestanden halblegale Formierungen hochkrimineller Natur, deren Staatsnähe, ja Avantgarderolle bei der Definition und Exekution eines offiziell noch gar nicht auf der Agenda stehenden Staatszwecks einen verrückt machen konnte.

Auch nach dem 15.7.2016 scheint von Avantgardisten des Staatszwecks verschärfter Handlungsbedarf gesehen worden zu sein. In den Tagen nach der Putsch­nacht waren Rotten von Aktivisten zu beobachten, in den großen Städten des Westens genauso wie im kurdisch-alevitischen Osten, die niemand ausdrücklich auf den Plan gerufen hatte. In Malatya hat die Polizei eine größere Menschenmenge mit Wasserwerfern und Tränengas zerstreut, die offensichtlich vorhatte, ins Alevitenviertel einzurücken. Aus Istanbul kennt man Berichte über Aktivbürger, die durch die Istik­lal-Straße, also die Fußgängerzone in der historischen Altstadt, marschierten und den in den Seitengassen in populären Lokalen sitzenden Biertrinkern auflauerten, sie bedrohten und in einigen Fällen auch zusammenschlugen. Das deckt sich mit einem Vorfall in der gleichen Gegend, als ein paar Jugendliche am Ramadan, der kurz vor dem Putsch endete, in einem Plattenladen mit Bier und Zigaretten eine kleine Release Party zum Erscheinen der neuen CD ihrer Lieblingsband veranstalteten, was sie unvorsichtigerweise über Twitter öffentlich gemacht hatten. Sie wurden zusammengeschlagen. Das deckt sich auch mit einem Pressebericht von Anfang August 2016, ebenfalls aus Istanbul, wonach eine kurze Hosen tragende Frau in einem Bus verprügelt wurde. Ähnliche Berichte gibt es seither mehrere. Am 29.12.2016 erschien auf der Internetseite des Fernsehsenders kanal a die Hetzschrift eines Bünyamin Ertekin, die dazu aufrief, Silvester nicht zu feiern, da an diesem Tag ein Truthahn geschlachtet und verspeist werde. Da im Englischen Truthahn genau wie die Türkei als turkey bezeichnet werde und einst einem Papst ein Truthahn geschenkt worden sei, worauf dieser gesagt habe, „was für ein Tier, wie die Türken läuft es mit rotem Gesicht und aufgeplustert herum, sein Name soll Türke (Türk) sein“, verbiete es sich Silvester zu feiern. (www.kanalahaber.com/yazar/bunyamin-ertekin/noel-yilbasi-kutlama-tehlikesi-27629) Mehrere weniger phantastische, dafür aber genauso zum Hass auf Christen aufrufende Artikel sind im Dezember 2016 in kleineren Zeitungen und Blogs erschienen, wenige Tage vor dem Silvester-Massenmord im Nachtclub Reina mit 39 Toten.

Solch spontanes Tun verweist auf die Ränder des politischen Spektrums, die, seit es die türkische Republik gibt, den von ihnen im Grunde richtig erkannten aktuellen Staatsauftrag von sich aus mit Mitteln umsetzen, die scheinbar über das Ziel hinausgehen. Ihr Tun wird im Fall des Exzesses als „Provokation“ von offizieller Seite gebrandmarkt und genau dann verfolgt, wenn es schon zu spät ist. Meist fügt es sich aber prima ein und bleibt ohne Folgen. Diese Marodeure handeln unabhängig, ohne einen Befehl empfangen zu haben. Das ist wichtig hervorzuheben, denn dieses halb-spontane Element passt nicht ins Weltbild der linken und kemalistischen Opposition, die häufig und meistens falsch mit diffizilen Verschwörungsszenarien aufwartete, weil sie nicht anerkennen will, dass das Unheil oft direkt aus der Hefe ihres Subjekts, dem unverbildeten, nach Freiheit lechzenden Volk, kommt.

Man nehme Malik Karabulut, Funktionär des eher als sozialdemokratisch geltenden Türkischen Elternvereins Hamburg, der nach der Armenienresolution des deutschen Bundestags im Juni 2016 in seinem Facebook-Account von der deutschen „Köterrasse“ sprach, deren Angehörigen man es mal so richtig zeigen sollte (Hamburger Abendblatt, 25.10.2016). Man nehme den Mörder des türkisch-armenischen Journalisten Hrant Dink, der nach seiner Festnahme im Januar 2007 in einer Polizeiwache in Trabzon ausnahmsweise nicht prophylaktisch verprügelt wurde, wie es so vielen Festgenommenen widerfährt, sondern als jugendlicher Held auf einem patriotischen Video mit Polizeioffizieren vor dem Atatürk-Bild posieren durfte. Der junge Mann hatte seine Waffe von einem anderen Terroristen bekommen, der 2004 eine McDonalds-Filiale als Agenten amerikanischen Imperialismus’ überfallen hatte und Mitglied der Partei der großen Einheit war. Diese Formation, die sich 1992 von der MHP abgespalten hatte und bei überregionalen Wahlen fast immer unter einem Prozent blieb, kann dort, wo die Front ist, überdurchschnittlich punkten. Im mittelanatolischen Sivas erzielte sie 1994, genau ein Jahr nach dem Aleviten-Pogrom in einem Hotel der Stadt mit 37 Toten, stattliche 18 Prozent. Das gilt ähnlich für die Provinz Trabzon an der nördlichen Schwarzmeerküste, wo man stolz darauf ist, im Ersten Weltkrieg gegen die Russen und mehr noch danach gegen Armenier und andere Verräter siegreich gekämpft zu haben. Seither unternimmt man alles, um an die christliche Vergangenheit von Stadt und Region nur in Form der Verherrlichung der an Christen begangenen Massaker zu erinnern. Die Opfer dort waren übrigens nur zum kleineren Teil Armenier, sondern vor allem sogenannte Pontos-Christen, über deren furchtbares Schicksal in den Jahren 1922 bis 1924 viel zu wenig bekannt ist. In Trabzon sind es dann junge Fans des Oberliga-Vereins Trabzonspor, von denen manche von der Partei der großen Einheit oder ähnlichen kleineren Gruppierungen mit Rat und Schulung, einer Gratiseintrittskarte ins Stadion und schon mal einer Schusswaffe versorgt werden.

Von Verrätern umstellt

Solche Aktivbürger waren bereits am Anfang der Republik anzutreffen, als es in den späten 1920er und 1930er Jahren galt, die türkische Sprache als alleinige Landessprache durchzusetzen. Man verprügelte Christen und Juden, die man am je eigenen Idiom erkannte. Die gleichen über Zeitungen, Agitatoren und manchmal auch regelrechte Ordnungstruppen mobilisierbaren Aktivisten hatten auch dafür gesorgt, dass bereits Ende der 1930er Jahre im Westen des Landes jenseits von Istanbul und Izmir keine Juden mehr lebten. Die Spur geht weiter über den so seltsam verabredet wirkenden Mob, der 1955 auf entsprechende Hetzartikel hin in Istanbul und auf den der Stadt vorgelagerten Prinzeninseln Griechenpogrome veranstaltete, mit der Folge, dass nach Tagen der Plünderung, Brandschatzung, Vergewaltigung und in einigen Fällen auch des Mordens die letzten Griechen aus der Türkei flüchteten, also jene, denen im Gegensatz zu allen anderen Griechen im Land im Lausanner Abkommen von 1923 ein Bleiberecht in Istanbul zugestanden worden war. Auslöser war die Brandstiftung an Atatürks Geburtshaus in Saloniki, von der man schon bald wusste, dass der Täter oder die Täter dem türkischen Geheimdienst angehörten oder wenigstens enge Verbindungen zu ihm unterhielten – ein im Grunde unwichtiger Umstand, denn die Bereitschaft von tausenden Istanbulern, die letzten Griechen zu vertreiben und sich an ihrem Eigentum zu bereichern, muss schon vorher existent gewesen sein. Provokationen funktionieren nur, wenn das berühmte Pulverfass bereits vorhanden ist.

Die großen Alevitenpogrome in Maraş 1978 mit jedenfalls über hundert, wahrscheinlich einigen hundert Toten gehören in die gleiche Reihe, die zum Mord an Hrant Dink und ein Jahr zuvor, 2006, an einem Priester in Trabzon reicht, den ein angeblich psychisch Erkrankter erschossen hatte, der von sich behauptete, Allahs Willen vollstreckt zu haben. Tatsache ist, dass der Attentäter ausführte, was auf ihre Weise von den lokalen Medien und durch Äußerungen aus der Stadtverwaltung und dem Gouverneursamt in den beiden Jahren davor als Lizenz zum Töten von Verrätern ausgegeben wurde: Der Priester habe sich als Missionar betätigt. Als letztes Opfer einer wahrlich unvollständigen Reihe wurde am 18.7.2016, drei Tage nach dem Putschversuch, Cemil Candaş, der als Erdoğan-Kritiker bekannte Vizebürgermeister von Şişli, einem Stadtteil von Istanbul, ermordet. Candaş war Jude.

Die Vorbereitungen zum Mord folgten stets dem gleichen Schema. Zug eins: öffentliche Feinderklärung gegen fremdrassige Volksschädlinge – Aleviten, Christen, Armenier und Juden. Zug zwei: Zuspitzung durch eine kleine, aber einflussreiche Hetzpresse aus dem nationalchauvinistischen Milieu, das sich inzwischen unter Nation längst eine dezidiert islamische vorstellt. Zug drei: Nicht zufällig, aber gleichwohl auch nicht gezielt in Marsch gesetzt, zieht irgendein ganz unbedeutender, armer, verhetzter Kerl mit einer Knarre oder einem Schlachtermesser los und macht Richtigkeit.

Mit dem Islam hat das nur insoweit zu tun, als in der Türkei diese Religion ethnisiert und nicht etwa als persönliches Bekenntnis Einzelner auftritt. Der rassifizierte Islam hat allerdings in der Türkei gar keine genuin islamischen Wurzeln, er ist vielmehr originäres Produkt der auf ihren Laizismus so stolzen Republik und ihrer Gründungsväter. Ein populärer Slogan, der nach dem Putsch wieder gerne verwendet wurde, lautet: „Die Türkei ist von drei Seiten vom Meer umgeben und von allen vier Seiten von Verrätern“. Diese schon im Dezember 2015 von Erdoğan verwendete, aber viel ältere, auf die Zeit der Republikgründung zurückreichende Parole ist nach dem 15.7.2016 omnipräsent. Inzwischen gibt es Aufkleber im Netz zu kaufen, auf denen zu lesen ist: „Wenn Sie in einem Land leben, das von drei Seiten vom Meer und von allen vier Seiten von Verrätern umgeben ist, dann müssen Sie entweder sehr gut schwimmen können, oder kämpfen…“

Fethullah Gülens Parallelstruktur

Die moderne Türkei war gegen den Islam nur, insoweit dieser die Macht im Staat ausdrücklich gegen die neuen Mächtigen für sich beanspruchte. Die Abschaffung des Kalifats 1922 hatte eine enge Verschwisterung zwischen Staatsmacht, dem Sultan, der offiziell auch der Kalif war, und der Religion, vertreten durch den Sheikh al Islam, beendet. Doch die Position eines Sheikh al Islam blieb erhalten und ging über auf einen Staatsbeamten, der als Chef der obersten Religionsbehörde fungiert, die noch bis 1924 „Behörde für Schariaangelegenheiten und Stiftungen“ bezeichnet wurde und danach erst in „Amt für religiöse Angelegenheiten“, das Diyanet-Ministerium, umbenannt wurde, dessen deutscher Ableger der Ditib ist. Staatsauftrag war die Zurückdrängung eines nach autonomer Macht strebenden Islam und nicht die ausdrückliche Trennung von Religion und Staat unter dem Vorzeichen der Privatisierung der Religion. Dieses politische Konzept ist aufgegangen: In der Türkei gibt es keinen Widerspruch zwischen Islam und Staat, der türkische Islamismus propagiert, anders als das Beispiel der Moslembruderschaft in arabischen Ländern zeigt, keinen Gegenstaat. Das nicht wahrgenommen zu haben, hat nicht nur den säkularen Türken, sondern letztlich auch der Bewegung des Predigers Fethullah Gülen das Genick gebrochen.

Die Gülen-Bewegung nahm in der Welt der avantgardistischen Vorfeld-Organisationen eine Sonderstellung ein. Sie stand zwar mit einem noch zu verwirklichenden radikalen Staatszweck, der Stärkung des Islam gegen säkulare Errungenschaften, im Einklang, aber sie verfolgte ihren Weg klandestin. Die schon erwähnte Partei der großen Einheit etwa stieß sich an der Neuorientierung der ab 1993 in MHP umbenannten Grauen Wölfe, die sich mehr dem politischen Zentrum zuwandte und ihre auch militanten Aktionen weitgehend eingestellt hatte. Für echte Nationalisten war das ein Verrat an der gegen die überall lauernden Feinde dringend geforderten Wehrhaftigkeit. Doch während dieses Spektrum ungehindert öffentlich in Erscheinung trat, entsprach Gülens Weg immerhin teilweise dem, was im paranoiden Massenbewusstsein einer Sekte jüdischer Konvertiten aus Saloniki unterstellt wird, die auf die sogenannten Sabbatianer im ausgehenden 17. Jahrhundert zurückgeht und in den letzten Jahrzehnten im Angst- und Hass-Wort dönme in den Phantasien der Verschwörungsgläubigen eine groteske Rolle spielt.

Das religiöse Netzwerk, das Gülen seit den 1970er Jahren aufbaute, entspricht in mancher Hinsicht westlichem Sektenwesen, zum Beispiel der Church of Scientology. Er gründete Gesprächskreise, welche die in Massenauflagen erschienenen Broschüren mit den Predigten des Meisters studierten und deren Teilnehmer auch privat zueinander hielten. Innerhalb seiner Gemeinde gelten Hierarchien des Eingeweihtseins und damit des Einflusses; und natürlich geht es, je weiter man nach oben gelangt, auch umso klandestiner zu. Das ökonomische Imperium der Gülen-Gemeinde etablierte sich zunächst als ein Netz von Nachhilfeschulen. Was hierzulande mit den sogenannten Repetitorien vergleichbar ist, also Paukstudios, die Jura-Studenten privat aufs Examen vorbereiten, betrifft in der Türkei bereits Schüler ab dem Alter von zehn Jahren. Sie nehmen Nachhilfestunden, um später einmal die aberwitzigen Aufnahmetests für die Zulassung zur Universität im Fach ihrer Wahl zu bestehen. Diese Prüfungen werden landesweit zeitgleich an allen Schulen veranstaltet. Sechs Wochen später hängen die Ergebnislisten mit den inzwischen verschlüsselten Namen der Schüler und den erzielten Punktmengen an den Schulen aus. Das ist dann die Zeit der Feiern und der Verzweiflung bis hin zu Selbstmorden.

Die relativ erschwinglichen und offenbar ziemlich erfolgreichen Nachhilfeschulen der Gülen-Bewegung konnten sich auf einem freien und sehr lukrativen Markt auch deshalb durchsetzen, weil es Sozialrabatte für einkommensschwache Schüler gab. Im nächsten Schritt machte sich Gülen die seit den 1990er Jahren erleichterten Möglichkeiten zu Nutze, Privatschulen zu gründen, häufig waren es Internate, die ebenfalls Sozialrabatte für Einkommensschwache vorhielten. Im Lauf der Jahrzehnte kamen miteinander kooperierende Wirtschaftsbetriebe aus allen Branchen hinzu, vor allem im Bausektor, deren Eigentümer eifrige Spender an die Gülen-Gemeinde waren, aber auch als Wohltäter in ihren Heimatstädten hoch geachtet in Erscheinung traten. Und, so viel darf als gesichert gelten: Aus dem Gülenimperium, wohl schon in den Nachhilfeschulen beginnend, kamen Leute, die von Anfang an ihren Weg im Staatssektor machen wollten, mit dem Ziel, ihn dereinst zu infiltrieren und dann zu übernehmen. Gülen ging erklärtermaßen davon aus, dass die Zerschlagung seiner Bewegung nur dadurch verhindert werden könnte, dass Putsche einmal nicht mehr möglich sein würden, daher sei der islamische Gedanke im Staat gegen das Militär zu stärken. Gewalt als Mittel zum Erfolg schloss er bei allen inhaltlichen Übereinstimmungen mit militanten Islamisten grundsätzlich aus. Der Erfolg dieser Strategie des Einsickerns in Justiz, Polizei, Geheimdienst, aber auch im Bildungssektor war erheblich, was nicht zuletzt Gülens langjähriger Verbündeter Recep Tayyip Erdoğan nach dem Bruch, der spätestens 2013 stattgefunden hat, in Form gezielt lancierter, peinlicher Enthüllungen erfahren musste. Dafür, dass die Gülen-Leute vergleichbaren Einfluss innerhalb des Militärs gewonnen haben, gibt es keine Belege.

Das einfache Volk und seine demokratischen Bewunderer

Die Gülen-Bewegung war seit den 1990er Jahren beliebtes Objekt der Kritik aus laizistischen und linken Kreisen. Entsprechende Aufklärungsbücher erschienen, und die ganze Lust an der Verschwörungstheorie artete ausgerechnet in der Form der Enthüllung aus. Die gleichen Linken und Kemalisten, die mit der dauernden Denunziation der Gülen-Bewegung glaubten, die Islamisierung treffen zu können, haben bezeichnenderweise zu keinem Zeitpunkt den Islam attackiert. Der erschien ihnen gefährlich nur, insoweit er im Verborgenen als verräterische Formation wirklich oder angeblich aktiv war, während sie das, was sich ganz offen im ganzen Land seit spätestens den 1980er Jahren stets im Rahmen des vom Diyanet-Ministerium Erlaubten vollzog, ausblendeten. Die laizistische Türkei hatte den Islam nie wirklich verdrängen wollen; sie wollte ihn zur Stärkung des Staats und des Zusammenhalts der Gesellschaft vielmehr in Dienst nehmen. Das zeigt sich im inbrünstigen Verweis auf den Souverän, das Volk, auf Türkisch: halk. In der Vorstellung vom halk erscheint die von ihm ausgehende existentielle Bedrohung eines jeden dezidiert westlichen Bürgers, vor allem einer jeden dezidiert westlichen Bürgerin, merkwürdig verfremdet in Gestalt eines onkel- und tantenhaft, täppisch-knorrigen Ursprungskollektivs mit seiner gradlinig unverfälschten Lebensart, das man irgendwie einfach gernhaben muss. Das halk wird zugleich als Garant gegen Überfremdung, Verweichlichung und Dekadenz in Anspruch genommen, der nur vor böser Beeinflussung bewahrt werden müsse: letzteres der Erziehungsauftrag der Kemalisten. Dass bereits die Jungtürken seit dem Ende des 19. Jahrhunderts ein islamisches halk mit islamistischen Parolen zum Widerstand gegen die fremdrassigen Feinde im eigenen Land aufgerufen hatten, diese mörderische Propaganda mit Ausbruch des Ersten Weltkriegs noch steigerten und unter dem Banner des Islam 1920 bis 1923 ihren Befreiungskrieg führten – diese Ermächtigung des mit sich identischen Volkes zu Massenmord und Plünderung sollten sie nicht mehr loswerden. Die Kemalisten, die versucht hatten, den Appell ans Ursprungskollektiv auch dazu zu nutzen, ihre unpopulären Reformen durchzusetzen, scheiterten an ihrem eigenen Geschöpf schon bei der ersten freien Wahl 1950, die ein Islamist gewann. Erdoğan hat den Widerspruch erkannt und die Entwicklung der Türkischen Republik nicht etwa im Befreiungskrieg, der ein islamischer Raubkrieg war, wohl aber beginnend mit den Atatürkschen Reformen für fehlgeleitet weil volksfeindlich erklärt und damit radikal jenen westlichen Ballast abgeräumt, den bereits seine laizistischen Vorgänger seit spätestens 1980 zur Beruhigung des stärker werdenden halk in kleinen Portionen zur Disposition gestellt hatten.

Drei Militärputsche – ein Sieger

Die Geschichte dreier Putsche zeigt, dass es keines klandestin agierenden Fethullah Gülens bedurfte, um den kemalistischen Staat in einen islamistischen Staat zu transformieren. Der Putsch von 1960 richtete sich gegen den mit überwältigender Mehrheit regierenden Ministerpräsidenten Adnan Menderes. Ihm wurde alles Mögliche vorgeworfen, zum Beispiel die Verantwortung für die Griechenpogrome 1955 in Istanbul, was ziemlich unwahrscheinlich ist, aber kaum, dass er wirklich ein Regierungsislamist mit Vorlieben für die Ideologie der Moslembrüder war. Er wurde gehängt, ohne dass plausibel geworden wäre, wofür. Das folgende Jahrzehnt markiert eine Stärkung der Staatspartei CHP und einen Linksschwenk hin zu staatlich vorangetriebener Modernisierung und einer Art Pakt mit der erstarkenden Arbeiterschaft. In der Islamfrage wurde an einer Reform unter Menderes nicht gerüttelt: Der hatte den Ruf des Muezzins und die Gebetsformeln wieder in arabischer Sprache durchgesetzt, nachdem die Kemalisten in den 1930er Jahren verordnet hatten, dass diese nur auf Türkisch vorgebracht werden dürften. Damit ging auch die schleichende Rearabisierung oder Reosmanisierung der türkischen Sprache einher; die Erbakans und Erdoğans waren stets an ihrer altmodischen, mit vielen arabischen Wörtern operierenden Sprache zu erkennen.

Der zweite Putsch fand 1971 statt und richtete sich gegen eine permanente Regierungskrise und zunehmend gewalttätige linksradikale Aktivitäten. Zwei Märtyrer dieses Putsches, Ikonen der radikalen Linken, die 1972 hingerichteten Revolutionäre Deniz Gezmiş und Mahir Çayan, hatten sich von der palästinensischen PFLP zusammen mit mehreren hundert Gesinnungsgenossen im Libanon militärisch ausbilden lassen mit dem Ziel, den bewaffneten Kampf in der Heimat aufzunehmen. Çayan hatte 1971 Ephraim Elrom, den israelischen Konsul in Istanbul, ermordet, weil dieser wahrscheinlich wirklich Listen mit den Namen der PFLP-Verbündeten an die türkischen Behörden übergeben hatte. Nichts davon war in der Urteilsbegründung gegen ihn wiederzufinden. Nach dem Putsch von 1971 wurde dem Islamisten Necmettin Erbakan, der eine erfolgreiche Partei anführte, die auch im Parlament vertreten war, mit erheblich größerer Toleranz begegnet als zuvor. Zugleich kam ein chauvinistischer Hang zum außenpolitischen Abenteuer auf, der in der Eroberung Nordzyperns 1974 und der Etablierung einer nordzyprischen Republik von Ankaras Gnaden kulminierte. Die grausamen Gemetzel an unbewaffneten griechischen Zyprern, der damit verbundene chauvinistische Freudentaumel, der das ganze Land in Hässlichkeit geeint hat, verweist bereits auf die aktuell propagandistisch neu belebten Begehrlichkeiten nach den der Türkei vorgelagerten griechischen Inseln.

Der Putsch von 1980 richtete sich gegen bürgerkriegsähnliche Auseinandersetzungen zwischen rechts- und linksradikalen Gruppierungen mit zuletzt mehreren Toten täglich. Im Ergebnis war die brutal verfolgte radikale Linke weitgehend erledigt und darüber hinaus auch die mit ihr teilweise sympathisierenden sozialdemokratisch gestimmten Linkskemalisten. Das Vakuum wurde damals schon recht offen nicht etwa, wie immer behauptet, mit einem Mehr an Faschismus, sondern einem Mehr an Islam gefüllt. Nicht nur, dass Adnan Menderes rehabilitiert wurde, nach dem Straßen und Plätze in vielen Städten umbenannt wurden, der bedeutendste Politiker nach dem Putsch und spätere Staatspräsident Turgut Özal kokettierte ganz offen mit dem radikalen Islam. Was nach dem Putsch von 1971 schon erleichtert wurde, erfolgte nach 1980 im Eiltempo und mit staatlichen Finanzierungshilfen: der Bau immer neuer Moscheen, eine Entwicklung, die sich bis heute fortsetzt.

Der bewaffnete Kemalismus dankt ab

Der Staat im Staat, das Militär mit dem von ihm dominierten nationalen Sicherheitsrat, hatte also schrittweise Zugeständnisse an seine islamistischen Gegner gemacht, ohne die Macht zu verlieren. Er­doğan und nicht etwa der vorsichtig im Halbverborgenen agierende Gülen hatte dem Militär zu einem Zeitpunkt getrotzt, als der mächtige Apparat seine eigene Substanz aufgezehrt hatte. Das Militär war weder vor zehn Jahren noch heute islamisch unterwandert, seine ideologischen Vordenker standen vielmehr einem Gegner gegenüber, den sie zwar verachteten und zunehmend fürchteten, dem sie aber substantiell nichts entgegenzusetzen wussten. Erdoğan – das beweist er jetzt, wo er die totale Macht hat – ist gar kein Antikemalist. Er will keine islamische Sondergerichtsbarkeit und keine islamisch-staatliche Parallelstruktur, er greift nur auf und stärkt, was von Verrätern innen und außen angeblich aufgeweicht wurde, das wehrhafte Selbstbewusstsein des Volkes gegen innere und äußere Feinde, dem alle insgeheim huldigen.

Das Militär war 1997 noch einmal mit einem sogenannten weichen Putsch gegen den bezeichnenderweise in Koalition mit dem Sozialdemokraten Bülent Ecevit regierenden Necmettin Erbakan vorgegangen, der einfach vom Nationalen Sicherheitsrat abgesetzt und mit Politikverbot belegt wurde. Seine Schüler und Nachfolger sagten sich eilig von ihm los: dort Erdoğan, hier Gülen. Erdoğan gründete 2001 im Wesentlichen aus der Restmasse der verbotenen Tugendpartei Erbakans die Gerechtigkeits- und Aufbruchpartei AKP, und Gülen brach an der Seite von Erdoğan zu immer größeren Unternehmungen auf.

Was hätte das Militär noch tun können? An seinen Rändern entstanden merkwürdige Verschwörungsnester von ultranationalistischen Offizieren der mittleren Ränge, deren Bedeutung als sogenanntes Ergenekon-Komplott von Erdoğan maßlos übertrieben wurde, was nicht zuletzt, durch Fälschungen von mutmaßlich gülentreuen Staatsanwälten und Richtern, zur Verurteilung auch hochrangiger Militärs in den Jahren 2007 bis 2012 führte. Dass das Militär damals nicht geputscht hat, kann nur daran liegen, dass der Generalstab das Risiko scheute, einen ungeheuer populären Ministerpräsidenten zu stürzen und damit einem gehassten Regime vorzustehen, für dessen zwingenden Misserfolg es hätte einstehen müssen. Im Jahr 1960 gab es noch um den Atatürk-Nachfolger Ismet Inönü gescharte ideologisch überzeugte, am Reform-Kemalismus festhaltende Generäle, die sogar einen Plan für die Zeit nach dem Putsch hatten. 1971 und 1980 war dagegen vom Reform-Kemalismus kaum mehr als die Fassade übrig. Die Putsche fanden statt, weil es angesichts der inneren Unruhen gute Aussichten für das Militär gab, sich als Wahrer der Ordnung populär in Szene zu setzen. Aber 2007, auf dem Höhepunkt der Ergenekon-Affäre, oder gar 2016 bestand keine Aussicht mehr auf nennenswerten Zuspruch aus der Bevölkerung.

Die gelegentlich von linken und linkskemalistischen Kreisen aufgeworfene Frage, ob denn am 15.7.2016 ein Putsch überhaupt stattgefunden habe, ist einfach zu beantworten: Ein Putsch war es nicht, aber ein bitter ernst gemeinter Putschversuch – alles andere gehört in die Welt der Verschwörungstheorien. Er musste scheitern, weil die entscheidenden Generäle mit ganz wenigen Ausnahmen ihn nicht unterstützen wollten. Selbst wenn es gelungen wäre, Erdoğan wie vorgesehen zu liquidieren, hätte der von den Putschisten erhoffte Erdrutsch im Militär wohl nicht stattgefunden. Darüber, ob die Putschisten nun Gülenisten waren, kann man natürlich nur spekulieren, denn über das Geschehen am 15.7.2016 ist im Grunde fast gar nichts bekannt. Jedenfalls gibt es keine Hinweise darauf, dass Gülen mit der Machtübernahme gespielt haben könnte, und selbst wenn es so gewesen wäre, wüsste man nicht, wer die Gülenisten im Militär eigentlich gewesen sein sollen. Allerdings ist das seines ideologischen Zentrums längst beraubte Militär für mancherlei Einflüsse offen gewesen. Der Putschistenerklärung ist nicht viel zu entnehmen, außer, dass die abenteuerliche Außenpolitik Erdoğans ihnen wohl zuwider war. Welches Recht und welche Ordnung sie wieder einsetzen wollten, ist unklar. Sehr wahrscheinlich ist, dass viele im Militär die finale Demütigung und eben auch Entmachtung im Zusammenhang mit Ergenekon nie verwunden hatten. Allerdings sind die bis 2012 verurteilten Offiziere bis hinauf zum Generalstabschef a.D. Ilker Başbuğ schon zwei Jahre später wieder auf freien Fuß gesetzt worden, und im April 2016 wurden sämtliche 275 Urteile aufgehoben. Warum hätten Militärs, die von Erdoğan ausdrücklich gegen Gülen rehabilitiert wurden, mit Gülen einen Putsch veranstalten sollen? Zumal die Gülen-Leute in Justiz und Geheimdienst eine bedeutende Rolle im Verfahren spielten. Andererseits waren bis 2013 Gülen und Erdoğan Verbündete, kein Offizier konnte glauben, dass Erdoğan nicht seine Hand bei diesen Schauprozessen im Spiel hatte. Erdoğan war nur klug genug, die Provokation zu mäßigen und seine islamistischen politischen Gegner für die von ihm selber maßgeblich zu verantwortende Demütigung des Militärs bluten zu lassen, womit er einen halbwegs annehmbaren Burgfrieden mit dem erschöpften Offizierskorps herstellen konnte.

Erdoğan vernichtet die Gülen-Terroristen

Erdoğan hatte seine erklärten Gegner aus dem demokratischen Lager, die glaubten, ihn und seine Partei mit immer neuen Enthüllungen über die Gülenbewegung und ihre verschwörerische Wühlarbeit in Bedrängnis bringen zu können, verunsichert, indem er damit begann, deren Forderung nach Zerschlagung genau dieser Bewegung umzusetzen, und nach dem Putsch einen wahren Rachefeldzug ver­anstaltete. Und doch: Eine FETÖ, also Fethullahçı Terör Örgütü, eine terroristische Organisation der Gülenisten, gab und gibt es genausowenig wie eine im gleichen Atemzug gerne genannte Bewegung namens PDY, also Paralel Devlet Yapılan­ması, was so etwas wie Parallelstaatsstruktur im Aufbau bedeutet und stärker die kemalistische Variante der Gülen-Paranoia bedient.

Was zwischen Erdoğan und Gülen wirk­­lich zum Bruch führte, ist eigentlich unerheblich. In der Zielsetzung, also der nachhaltigen Islamisierung der Türkei, waren sie sich immer einig. Auch wenn Gülens Anti-Erdoğan-Kampagne eine heftige Kritik an dessen Vorgehen im Zusammenhang mit der Gaza-Flottille um das Schiff Mavi Marmara beinhaltete, gibt es genug Belege, dass er der gleiche knochenharte Antisemit aus der Erbakan-Schule ist wie sein späterer Feind. Sie waren einfach Konkurrenten um die Macht – jeder für sich unumstrittener Herrscher über seine Gefolgschaft –, und der Entferntere und nicht unmittelbar Wirkmächtige sah sich wohl um seinen Anteil betrogen.

Gülen war bis zu einem gewissen Grad wirklich ein Verschwörer. Was ihn groß gemacht hat, die Infiltrierung der Apparate und die starke Beeinflussung des Bildungswesens, war notwendige Flankierung von Erdoğans Populismus und musste ihm trotzdem irgendwann das Genick brechen. Der siegreiche Erdoğan brauchte keine im verborgenen arbeitende Organisation mehr, ein solches Kadernetz wäre auch nie ganz kontrollierbar und irgendwann gefährlich geworden: für ihn persönlich und seine Macht in der Partei, mehr aber noch für seine Macht über die Türken, die er am Unverdächtigsten als der im Offenen agierende Volkstribun ausüben konnte. Den Gülenisten haftete etwas Elitäres und damit Dünkelhaftes an, ihr islamistischer Staat ist der Staat einer durch Eingeweihtsein und Verbindungen ausgezeichneten Elite und damit ein fratzenhafter Wiedergänger der alten kemalistischen Kader. Erdoğan dagegen ist anders als Gülen wahrhaft egalitär und anders als die Kemalisten wahrhaft laizistisch. Er macht wie die Kemalisten die Religion dem Staat dienstbar, der in der Struktur vom kemalistischen sich kaum unterscheiden würde – wäre da nicht ein Automatismus eingebaut, der zur plebiszitären Entfesselung der Massen drängt. Er ruft das halk dazu auf, in seiner auf Massenmord und der Drohung mit Massenmord aufruhenden Ursprünglichkeit wieder zu sich selbst zu kommen und beseitigt alle auch rechtsstaatlichen Hemmnisse und falschen Rücksichtsnahmen, welche die Kemalisten ihm zum Schaden der Republik auferlegt hatten.

Heute, das heißt im Februar 2017 und nicht mehr im Juli 2016, ist das, woran eigentlich nie einer geglaubt hat, die bürgerliche Nation, Vergangenheit. Gegen sie hat das Volk zu sich selbst gefunden. Das Territorium ist genauso offen wie die Eigentumsfrage. Abgeschlossen ist dagegen jede Debatte über die Zugehörigkeit eben nicht zur Nation, sondern zum Volk. Landesgrenzen gibt es nicht mehr – Mossul und Aleppo gehören nach offiziösen Landkarten wieder dazu, genauso wie die vorgelagerten griechischen Inseln. Doch auch diese Maßlosigkeit gibt im Grunde nur das kemalistische Ressentiment gegen das türkische Versailles wieder, den Vertrag von Lausanne von 1923 also, der die derzeit noch bestehenden Landesgrenzen festschreibt und den man im Inneren schon 1955 revidiert hatte, als die Griechen aus Istanbul vertrieben wurden.

Grenzenloses Türkentum

Was die Nation verspricht, feste Grenzen nach außen, die auch die territoriale Saturiertheit symbolisieren, sind genauso gefallen wie der Schutz des Eigentums: Seit Monaten werden in einem seit 1923 nicht mehr gekannten Ausmaß Privat­personen und Personen des bürgerlichen Rechts enteignet. Das meint nicht nur die regierungskritischen Zeitungen und Sender, sondern weit mehr das Vermögen von wirklichen oder eingebildeten Fethullahcis, darunter Betriebe mit mehr als tausend Angestellten. Die Zwangsverwalter sind Erdoğan-Getreue, denen das Vermögen letztlich zufallen wird, gegen eine Abgabe an den Staat vermutlich. Diese gigantische Welle der Enteignungen – die mit der Ruinierung der Existenzen von schon jetzt über 100.000 Personen einhergeht, die aus dem Staatsdienst entlassen wurden – ist das Signal an jeden: Bilde dir nicht zu viel ein auf das von dir Angehäufte, Erwirtschaftete, Ererbte; der Staat kann sich nehmen, was und wann er will und das ohne jede Rücksichtnahme auf Kapitalinteressen.

Der letzte und nunmehr für den Staat im herkömmlichen Sinn womöglich fatale Schritt der Politik der offenen Grenzen ist die wenigstens partielle Schleifung des Gewaltmonopols. Erdoğans Mannen rufen auf zur Volksbewaffnung: „Erdoğan Bektaş, Gouverneur von Rize an der östlichen türkischen Schwarzmeerküste, sagte, dass eine Vielzahl registrierter Waffen an ‚Spender‘ ausgeliefert werden. Er vergleicht seine Amtszeit mit seiner Arbeit als Gouverneur in der ägäischen Stadt Manisa: ‚Ich habe hier in drei Monaten fünfmal so viele Waffen ausgeliefert wie in Manisa innerhalb von zwei Jahren‘. Er würde den Bewohnern persönlich Schusswaffen bringen, ‚sollte es einen neuen Putschversuch geben.’“ (SZ, 28.10.2016)

Wieder traten staatliche Vorfeldorganisationen in Erscheinung, die teilweise zurückgepfiffen werden: „Die einer Miliz ähnelnde Organisation ‚Osmanische Einheit 1453‘, deren Name sich auf das Datum der Eroberung Konstantinopels bezieht, sprach schnell ihre Unterstützung aus, nachdem der Hashtag #AKSilahlanma (AKAufrüstung) in den sozialen Netzen aufgetaucht war. Ihr Anführer Emin Canpolat schrieb: ‚Dies ist ein Aufruf an alle Brüder. Bewaffnet Euch für das Vaterland, für die Flagge und für Erdoğan‘ und fügte hinzu: ‚Wir werden sterben und töten für Erdoğan‘. Der Hashtag verbreitete sich schnell. Im Netz hieß es: ‚Wir sind bereit, bis aufs Blut zu kämpfen. Das Märtyrertum ist unser heiliges Ziel!’“ (ebd.)

Hatten die Kemalisten alter Schule bis 1960 noch die Gefahr, die für sie aus der gestärkten Religion des Volkes erwachsen könnte, erkannt und den Neubau von Moscheen weitgehend unterbunden, sind die vor allem in den Jahren nach 1980 ca. 50.000 erbauten neuen Moscheen die eigentliche Basis für die neue Republik. Ihre totalitäre Funktion, durch Bannmeilen gegen z.B. Alkoholverkauf und dauerndes Lautsprechergeplärr in Form der Gebetsrufe zur Zurichtung aller beizutragen, hatten sie längst schon flächendeckend erfüllt. In der Nacht des Putschversuchs übernahmen sie eine neue Aufgabe: Sie riefen zeitgleich und landesweit das ganze halk dazu auf, seinen Führer auf der Straße zu verteidigen. Daran lässt sich anknüpfen: „Das Präsidium für Religionsangelegenheiten (Diyanet), die höchste islamische Autorität des Landes, die offenbar die Schutzfunktion des Militärs übernommen hat, erklärte, sie habe neue ‚Jugendeinheiten‘ in den Moscheen des Landes eingerichtet. Yaşar Yiğit, einer der höch­sten Vertreter von Diyanet verkündete: ‚Wir wollen in 45.000 von 85.000 Moscheen Jugendeinheiten einrichten. Wenn Gott will, haben wir im Jahr 2021 20.000 davon geschafft.’“ (SZ, 28.10.2016)

Ein altes Lied klingt an: „Die Minarette unsere Bajonette, die Kuppeln unsere Helme // Die Moscheen unsere Kasernen, die Gläubigen unsere Soldaten // Die göttliche Armee ist bereit“, diese Verse schmiedete der Chefideologe des jungtürkisch inspirierten Türkentums Ziya Gökalp (1876–1924) bereits 1913 als völkischen Kampfaufruf an das islamische halk im letzten Balkankrieg. Mangels außenpolitischer Optionen richtet sich dieser Appell heute an die Einheit gegen einen längst besiegten Feind im Inneren, der aber im Verborgenen weiter wühlt. Diese Zeilen sind Erdoğans Kampfaufruf gegen den Säkularismus, für den er vor über zwanzig Jahren sogar eine Weile im Gefängnis saß und über den er seit der Neujahrsnacht 2017 nicht mehr froh wird. Erdoğans zur Zeit der Gezi-Proteste im Jahr 2013 an das säkulare Lager gerichtete höhnische Drohung, hinter ihm stünden 50 Prozent der Türken, die er nur noch schwer zurückhalten könne, ist Realität geworden. Der einmal in Stellung gebrachten göttlichen Armee aus den Moscheen vermag kein Diyanet-Ministerium und auch kein geliebter Führer mehr eine „moderate“ Richtung vorzugeben, geschweige denn Einhalt zu gebieten. Aus dem Rufer ist ein Getriebener geworden.

Justus Wertmüller (Bahamas 75 / 2017)

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