Zur Erklärung wachsender Unzufriedenheit in den westlichen Gesellschaften gibt es einen banalen Grund: hier die Gewinner der Globalisierung, dort die Verlierer.
Manchen dürfte es noch gegenwärtig sein. Als am 27. Januar 2010 anlässlich der Gedenkstunde zum 65. Jahrestag der Befreiung von Auschwitz Israels damaliger Staatspräsident Shimon Peres im Bundestag sprach, blieb Sahra Wagenknecht am Ende von dessen Rede zusammen mit einigen wenigen Anderen ihrer Fraktion demonstrativ sitzen und verweigerte den Beifall. Wie die überwältigende Mehrheit der Abgeordneten spendete hingegen Katja Kipping Peres stehend Applaus.
Doch mehr als eine Differenz in der Form war das nicht. Denn die Begründung für Wagenknechts Sitzenbleiben, die sie kurz nach dem Eklat nachreichte, dürfte ihre schärfste innerparteiliche Gegnerin weitgehend teilen: „Dass ich nach der Rede von Shimon Peres nicht an den stehenden Ovationen teilgenommen habe, liegt darin begründet, dass ich einem Staatsmann, der selbst für Krieg mitverantwortlich ist, einen solchen Respekt nicht zollen kann. Zudem hat Peres mit der Behauptung, der Iran verfüge über Nuklearwaffen, in seiner Rede die Unwahrheit verbreitet. Wie gefährlich solche Äußerungen werden können, ist seit dem Krieg gegen den Irak bekannt.“ (sahra-wagenknecht.de) Anders als Kipping ist Wagenknecht noch so traditionell, um nicht zu sagen alt-links, dass sich für sie die Ablehnung eines jederzeit wehrhaften jüdischen Staates und das pazifistisch-antimilitaristische Geschwätz vom bösen Krieg „an sich“ ideologisch bedingen. Kipping hatte bereits vor Jahren in einem programmatischen Text mit dem Titel Jenseits von Antizionismus und antideutschen Zuspitzungen erklärt: „Moderne linke Kritik globaler Machtpolitik kann nicht bruchlos an die Imperialismuskritik aus Zeiten des Kalten Krieges anknüpfen. Aus heutiger Sicht stellen sich viele ,historische‘ Konflikte in einem anderen Licht dar und erfordern eine politische Neubewertung. Es bedarf einer Kritik, die frei von Mystifizierungen und Verschwörungstheorien ist.“ (katja-kipping.de)
Als antideutsche Zuspitzungen weist sie die bedingungslose Solidarität mit Israel, also auch mit allen Kriegen, die der jüdische Staat wohl noch wird führen müssen, zurück. Die geforderte politische Neubewertung meint lediglich, dass die grundsätzlich zu verwerfende globale Machtpolitik auch auf das Konto von Israels Gegnern gegangen sein könnte. Die Anhänger des hippen Antinationalismus und die des traditionellen Antiimperialismus in der Linkspartei nehmen sich also wenig, wenn es um die Bewahrung des Weltfriedens im Kampf gegen globale Machtpolitik geht. Und doch wäre es ein grober Irrtum, die Unterschiede zwischen der Parteivorsitzenden und der Fraktionsvorsitzenden der Linkspartei im Bundestag auf das Umsichschlagen zweier Kampfhennen zu reduzieren. Was scheinbar nur zwischen zwei Spitzenpolitkerinnen zuletzt auf dem Leipziger Die Linke-Bundesparteitag im Juni 2018 in aller Heftigkeit ausgetragen wurde, wäre bei SPD und Grünen derzeit völlig undenkbar. Mehr als in jeder anderen Partei findet die Auseinandersetzung zwischen den beiden Flügeln einer gespaltenen Gesellschaft wie im Brennglas statt, denn auch in der Linkspartei geht es im Kern nicht um rechts gegen links, Rassisten gegen Antirassisten oder gar Faschismus gegen Antifaschismus. Diese kategorialen Zuschreibungen verraten wenig über den adressierten Gegner, dafür umso mehr über die Absender und ihr Krisenbewusstsein, oder besser noch ihr Nichtbewusstsein einer Krise des Nationalstaates.
Wagenknecht hat in Leipzig die zentrale Frage linken Selbstverständnisses aufgeworfen, als sie konstatierte: „Worüber wir diskutieren, ist, ob eine Welt ohne Grenzen unter kapitalistischen Bedingungen wirklich eine linke Forderung sein kann.“ (die-linke.de) Dieser scheinbar banale Satz wirft tatsächlich die Systemfrage auf und ist zugleich der Kritik der politischen Ökonomie verpflichtet: Es haben sich nämlich nicht die Nation als Rechtsform und das Kapital als gesellschaftliches Produktionsverhältnis vollends voneinander entkoppelt, sondern bestimmte bürgerliche Vorstellungen von staatlicher Wohlfahrt, staatlicher Daseinsfürsorge und damit staatlicher Souveränität ihre Wirkungsmacht eingebüßt, die das Ende jener national verfassten Daseinsform des Subjekts bedeuten könnten, die mit dem Begriff des Citoyen als des selbstbewussten Staatsbürgers verbunden ist, der wenigstens dem Ideal nach einen Common Sense anstrebt. Eine Welt ohne Grenzen zu fordern bedeutet zugleich, das Kapital in ungestörter Kollaboration mit Autokraten aller Art dort walten zu lassen, wo nur Rudimente staatlicher Souveränität existieren und aus Verwertungsgründen kein Grund für Nation-Building besteht. Man mag es Globalisierung, Deregulierung, Postfordismus oder Neoliberalismus nennen, gemeint ist immer nur, der bislang unbekannten Entnationalisierung der Produktions- und Wertschöpfungsketten, dem Rückbau bzw. der Privatisierung des (einstmals) öffentlichen Sektors, der Prekarisierung und Flexibilisierung der Lebensverhältnisse einen möglichst harmlosen Namen zu geben. Nichts anderes gilt für die Romantisierung der immer gnadenloseren Standort- und Lohnarbeitskonkurrenz und des damit einhergehenden Narzissmus als Individuationsersatz für weltoffene Mitläufer. Es geht also um eine Entwicklung, die sich am besten mit dem Begriff postmoderner Kapitalismus bezeichnen lässt und die sich verheerend auf die Triebstruktur und damit die Resistenzkraft des Individuums auswirkt.
Dies ist keine völlig neue Tendenz des Kapitals, sondern zeigt „nur“ die Beschleunigung einer Entwicklung an, die sich schon vor über 50 Jahren, als alles noch scheinbar in ruhigen fordistischen Bahnen verlief, abzeichnete. So beginnen Adornos Erwägungen zur Nation als „die spezifisch bürgerliche Organisationsform der Gesellschaft“ in seiner Vorlesung zum Nationalitätsprinzip von 1964 (1) mit der Feststellung, dass „in der bürgerlichen Spätphase […] die Nationen oder viele Nationen […] sich in etwas wie ungeheure Firmen, wie ungeheure Wirtschaftseinheiten verwandeln und das dann auch bleiben, wenn freihändlerische Tendenzen nach außen hin die Straffheit dieser Organisationsweise temporär mildern. […] Das heißt, die Gleichheit der Organisation des Lebens hat international jene Substantialität des Nationellen, die Hegel noch mit einigem Grund hat behaupten können, zu einer bloßen Fassade herabgesetzt. […] Heute ist nicht, wie man es einmal lehrte, das sogenannte Kosmopolitische das Abstraktere gegenüber den nationellen einzelnen Gestaltungen, sondern es ist das Realere“. Die real existierende anti-nationale Verschwisterung von Kosmopolitismus und Kapital, ihre materielle wie geistige Fusionierung, die Adorno hier beschreibt und an gleicher Stelle, die Kritik am Multikulturalismus vorwegnehmend, eine „trügerische Buntheit“ nannte, kann man als die vorherrschende Denkform des Kapitals bezeichnen, gegen die in ideologiekritischer Absicht nicht die Sehnsucht nach dem Konkreten als dem alten vergangenen Realen der Nation gesetzt werden darf. Zum Skandal müsste erklärt werden, dass der reale Pseudo-Kosmopolitismus, von dem Adorno sprach, sich jener abstrakten Idee bemächtigt und sie pervertiert hat, die dem Kosmopolitismus als einer die bürgerliche Organisationsform der Nation überwindenden Kritik einst zugrundelag und sie mit der kapitalen Vergesellschaftung im Weltmaßstab kurzgeschlossen hat. Diesen Pseudo-Kosmopolitismus zurückzuweisen, ohne die Hoffnung auf eine Weltgesellschaft jenseits von Kapital und Staat aufzugeben, hieße gerade nicht, „die Konkretion der menschlichen Beziehungen in der vergänglichen und selbst längst trügerischen Gestalt der Nationen zu konservieren, sondern diese Konkretion des menschlichen Miteinanderlebens auf einer höheren Stufe neu zu gewinnen“, wie Adorno weiter formuliert. Der postmoderne Kapitalismus beschreibt keine höhere, sondern eine andere Stufe der Vergesellschaftung, die sich längst als Rückfall hinter die „progressive Seite der Nation“ erweist. (2) Mit dieser Formulierung stellte Adorno darauf ab, dass „erst durch die Schaffung der modernen Nationen so etwas wie eine Art von allgemeiner Rechtssicherheit […] überhaupt geschaffen worden ist“, die heute nicht zufällig überall dort zur Disposition steht oder der man längst gänzlich abhold ist, wo sie sich als antiglobales Verwertungshemmnis erweist. Adorno war noch so sehr Optimist im Marxschen Sinne, dass er den kapitalen Pseudo-Kosmopolitismus nicht nur als Gefahr, sondern zugleich als Chance begriff: „Mit dieser höheren Stufe meine ich nun nicht etwa eine mechanische Zusammenfassung der Riesennationen in noch riesigere Blöcke, die eher das Unheil zu verstärken scheint, sondern, gerade im Gegenteil dazu, Veränderung der gesellschaftlichen Organisationsform selber, die jene abstrakte und gegen ihre Mitglieder allemal repressive Form der Organisation ablösen würde. Das ist keineswegs so utopisch, wie es […] vielleicht im ersten Augenblick klingen wird; deshalb nämlich, weil die Technik heute bereits Möglichkeiten der Dezentralisierung darstellt, die diese Zusammenfassung in hierarchischen riesigen Einheiten eigentlich überflüssig machten. Also die bis heute geltende Form der geschichtlich voranschreitenden Rationalisierung ist selber […] gar nicht mehr die rationalste und wird aufrechterhalten nur noch im Interesse der gegenwärtigen Produktionsverhältnisse“.
Mehr als fünfzig Jahre, nachdem sie formuliert wurden, erweisen sich diese Worte, die auch eine vorweggenommene Kritik der Euro-EU enthalten, als die Vorab-Beschreibung einer globalen Realität, in der die Dezentralisierung der Produktion und die Enthierarchisierung der einst riesigen Produktionseinheiten zum Kennzeichen einer Wirklichkeit wurden, die sich Adorno in ihrer Brutalität seinerzeit nicht ausmalen konnte. Seinen Optimismus bezog er vor allem aus der Reflexion des Standes der Produktivkräfte, an dem ihm das Paradox auffiel, dass diese längst buchstäblich an ihre national-staatlichen Grenzen gestoßen seien, sich der Nationalstaat also nur noch als zu enges rechtsförmiges Korsett und damit objektives Hemmnis zur weiteren Entfaltung der Produktivkräfte erwiese. Für Adorno leitete sich aus dieser Objektivität zwar nicht wie noch für Marx ein geradliniger Weg zur Weltrevolution her, aber doch die konkrete Möglichkeit einer unterm Kapital immerhin besser eingerichteten Welt: „Es wäre […] bereits möglich, die Gesellschaft so zu organisieren, dass sie in einer völlig rationalen Weise aus viel kleineren und friedlich miteinander existierenden Einheiten sich zusammensetzte […].“ Jedoch: Gerade das hat unter den Bedingungen des postmodernen Kapitalismus nicht statt. Die „viel kleineren und friedlich miteinander existierenden Einheiten“ erweisen sich in der Wirklichkeit globaler Produktionsbedingungen nicht als kooperatives Miteinander, sondern, wie am Reißbrett postmoderner Theorie entworfen, als gewolltes rhizomatisches Gegeneinander einander tief feindlicher Marktsubjekte. Dass besonders in Deutschland diese Brutalität als völkerverbindender und friedensstiftender Freihandel verniedlicht und zurechtgelogen wird, liegt nicht zuletzt darin begründet, dass der Exportweltmeister einer der schlimmsten Protagonisten und Nutznießer dieser globalen Wirklichkeit ist – womit zugleich über die gesellschaftliche Funktion der antinationalen Ideologie hierzulande alles gesagt ist.
Zum regelrechten Dilemma hat sich für die Kritiker des Pseudo-Kosmopolitismus das Paradox ausgewachsen, dass sich gegen die antinationale Barbarei, die sich nur folgerichtig im Wahn vom Weltsouverän (Gerhard Scheit) Ausdruck verleiht, ausgerechnet die Stärkung des längst anachronistischen Nationalstaates als das einzige Mittel erweist, um zumindest auszubremsen und einzuhegen, was sich sonst noch ungehemmter weltweit durchsetzen würde. Sahra Wagenknecht betonte in ihrer Rede auf dem Leipziger Die Linke-Parteitag direkt an ihre Fragestellung anknüpfend, ob die Forderung nach offenen Grenzen unter kapitalistischen Bedingungen überhaupt erhoben werden könne: „Wir verteidigen das Recht armer Länder, ihre Märkte, ihre Wirtschaft mit Zöllen gegen unsere Agrarexporte zu verteidigen und zu schützen. Das heißt eben auch, dem freien Warenverkehr Grenzen zu setzen. Wir fordern Kapitalverkehrskontrollen um zu verhindern, dass Finanzspekulanten über Währungen, Zinsen und das Schicksal ganzer Volkswirtschaften entscheiden. Also auch dem freien Kapitalverkehr wollen wir natürlich Grenzen setzen“ (a.a.O.). Ihre altbacken linke Hervorhebung besonderer Akteure, die sie als Finanzspekulanten anprangert, als „verkürzte“ Kapitalismuskritik zu kritisieren, mag tun, wer von der etwas längeren Kapitalismuskritik etwas versteht und bereit ist, nicht wegen Böses verheißender Signalwörter die Reflexion ihrer Inhalte einfach zu unterlassen. Denn mit der Funktionsbestimmung des Nationalstaates im Verhältnis zum Kapital gerade auf die ganz oder weitgehend abgehängten Länder bezogen hat sie eine durchaus anti-deutsche Kritik des sprichwörtlich grenzenlosen deutschen Wirtschaftens auf der Basis eines weltweit einmaligen Handelsbilanzüberschusses geleistet. Aus Wagenknecht spricht in diesem Zitat nicht in erster Linie die romantische Antikapitalistin, sondern die Kritikerin der politischen Ökonomie, der es in der Auseinandersetzung mit ihren innerparteilichen Gegnern um eine Ent-Romantisierung der Kapitalismuskritik geht. Die DDR-Nostalgikerin Wagenknecht würde vermutlich der Forderung nach der Qualifizierung von Angehörigen abgehängter Länder in deutschen Betrieben und Hochschulen unbedingt zustimmen, schließlich bedarf es zum Aufbau einer konkurrenzfähigen, nachholenden Nationalökonomie auch der Spezialisten, die den neuen Weg erst einleiten können. Insofern bezieht sich ihre Feststellung: „Wir streiten über die Frage, ob es für Arbeitsmigration Grenzen geben sollte und wenn ja, wo sie liegen“ (ebenda) nicht nur auf die Interessen deutscher Arbeitnehmer in ihrem Kampf um höhere Löhne, sondern zum Beispiel auch auf die gezielte Abwerbung von zum Beispiel bulgarischen Krankenschwestern, die das dortige Gesundheitssystem bedroht. Darauf hat der Flügel um Katja Kipping meist nur die Invektive des „Nützlichkeitsrassismus“ parat. Diesen Begriff haben die Parteierneuerer vor Jahren mit Begeisterung nicht trotz, sondern gerade wegen seiner postmodernen Beliebigkeit von einem populären Bielefelder Antirassisten der ersten Stunde übernommen: „Heitmeyer zufolge hat der Ausgrenzungsdrang eine ,besondere Form der Menschenfeindlichkeit‘ angenommen. Ein neuer Rassismus entsteht – der Nützlichkeitsrassismus“, schrieb Kipping 2008, um dann den Antirassismus mit zentralen Kategorien der Kritik der politischen Ökonomie zu verquirlen: „Wer dem Nützlichkeitsrassismus das Wort redet, schafft Bürgerinnen und Bürger erster und zweiter Klasse: Da die Eliten und dort eine Klasse derjenigen, die nur ihre Arbeitskraft als Ware haben und die sich nicht mehr trauen den Mund aufzumachen, weil Hartz IV droht.“ Diese besondere Form der Rassifizierung der Verhältnisse, die den Antirassismus unterschiedslos allen vorschreibt, die qua gesellschaftlicher Stellung zu den Produktionsmitteln in vor-postmodernen Zeiten noch als die soziale Klasse der Lohnarbeiter und damit als die absolute Mehrheit der Gesellschaft galten, wollte Kipping als ihren Beitrag zu einer „Crossover“ genannten Diskussion verstanden wissen. Gemeint war damit eine über SPD-, Die Linke- und Grüne-Parteigrenzen hinweg geführte Debatte, die, wie Kipping es ausdrückte, ein „ernsthaftes Nachdenken über eine Linksregierung“ auf Bundesebene sein sollte, zu deren Grundvoraussetzung von ihr „der Abschied vom Nützlichkeitsrassismus“ erklärt wurde. (3) Im Ergebnis dieses „Crossover“ kam es Anfang 2010 unter reger Beteiligung Kippings zur Gründung des Institutes Solidarische Moderne (ISM), deren Vorstandsmitglied sie seitdem ist.
Auslöser für die Gründung des ISM war das Scheitern des Versuches, in Hessen unter Führung der Sozialdemokratin Andrea Ypsilanti und Duldung durch Die Linke eine rot-grüne Landesregierung zu bilden. Federführende Initiatorin der Institutsgründung war dann auch Ypsilanti, die neben der Attac-Geschäftsführerin Stephanie Handtmann, der thüringischen Landtagsabgeordneten der Grünen Astrid Rothe-Beinlich, dem Philosophen der Rosa-Luxemburg-Stiftung Thomas Seibert und dem stellvertretenden Die Linke-Parteivorsitzenden Axel Troost Vorstandssprecherin des Institutes ist. Konzipiert als parteiübergreifender Sammlungsverein hat sich das ISM „eine linke Politik auf der Höhe der Zeit“ auf die Fahnen geschrieben, die „ein substanzieller politischer Gegenentwurf zur Ideologie des Neoliberalismus“ sein soll: „Das Streiten für eine Moderne, die beides in sich vereint und weiterentwickelt: die Verteilungssensibilität der ,alten‘ und die individuellen Selbstbestimmungsansprüche der ,neuen Linken‘ […], die so dringend erforderliche Versöhnung zwischen den emanzipatorischen Ansätzen der Industrie- und der Postmoderne“. (4) So steht es im Gründungsaufruf des ISM, in dem ganz in Kippings Sinn weiter ausgeführt wird: „Zu den konzeptionellen Schwächen der industriellen Linken gehörte und gehört ebenso die Fokussierung auf Erwerbsarbeit und eine damit einhergehende Ignoranz gegenüber anderen, gesellschaftlich gleichermaßen bedeutenden Tätigkeiten wie Reproduktionsarbeit, politisches Engagement, Bildungsarbeit und Muße“. Zwar wird auch selbstkritisch eingeräumt, dass „über der Kritik an der industriellen Moderne und an deren politischen Trägern das Bewusstsein für die anhaltende Bedeutung der ,alten‘ sozialen Frage auch in der ,neuen‘ Welt des Dienstleistungs-, Wissens- und Informationskapitalismus […] zum Teil verloren ging“. Wie man die soziale Frage wiederfinden will, bleibt allerdings ein mosaikartiges Crossover-Geheimnis. Natürlich hat den ISM-Leuten die Gründung der von Wagenknecht maßgeblich initiierten Sammlungsbewegung Aufstehen gar nicht geschmeckt. In einer einschlägigen Erklärung lässt man es bereits in der Überschrift an Deutlichkeit nicht missen: „Institut Solidarische Moderne stellt sich gegen Wagenknecht und Lafontaine“. Darin heißt es, dass man den „Vorschlag für eine ,neue linke Sammlungsbewegung’“ deshalb mit „Erstaunen“ zur Kenntnis genommen habe, „weil das Institut Solidarische Moderne wie keine andere Institution für die Suche nach einem Crossover-Projekt einer Mosaiklinken steht“. Gleicht man den Gründungsaufruf von Aufstehen, der von den Verantwortlichen als „die grundsätzliche Gesinnung der Bewegung“ bezeichnet wird, mit den Schriften des ISM ab, so sind es zunächst nur die besonderen Akzentsetzungen, die die ISM-Genossen das Lafontaine-Wagenknecht-Projekt als gefährliches Konkurrenzunternehmen wahrnehmen lassen. Zwar ist man sich bei den Forderungen nach einer Stärkung des Sozialstaates, der sofortigen Rücknahme der Agenda 2010, einem umgehenden Stopp des Privatisierungswahnes und dem Kampf für ein Ende der flächendeckend prekären Lebensverhältnisse einig. Wenn das ISM auch krachend antiamerikanische Formulierungen, wie sie sich im Gründungsaufruf von Aufstehen finden, in der Regel vermeidet, so spricht doch alles dafür, dass auch das ISM die von Aufstehen als vornehmstes Ziel formulierte „neue Friedenspolitik“ teilen dürfte, die mit der Forderung nach mehr Unabhängigkeit von den USA und der Rückbesinnung „auf das gute Erbe der Friedens- und Entspannungspolitik Willy Brandts, Egon Bahrs und der Friedensbewegung in Ost und West“ traditionellen deutschen Antiimperialismus hochleben lässt, der weder links noch rechts, sondern einfach nur deutsch ist.
Das inhaltliche Crossover von ISM und Aufstehen endet da, wo im Gründungsaufruf von Aufstehen als Ziel „ein europäisches Deutschland in einem geeinten Europa souveräner Demokratien“ ausgerufen wird. Denn dort heißt es eben auch: „Auch wenn der Hauptgrund für Zukunftsängste die Krise des Sozialstaats und globale Instabilitäten und Gefahren sind: Die Flüchtlingsentwicklung hat zu zusätzlicher Verunsicherung geführt. […] Viele bereits zuvor vorhandene Probleme wie der Mangel an Sozialwohnungen, überforderte Schulen oder fehlende Kita-Plätze haben sich weiter verschärft. Am Ende leiden vor allem die ohnehin Benachteiligten“. (aufstehen.de) In der bereits im Januar 2018 – Monate also, bevor der Aufstehen-Gründungsaufruf überhaupt bekannt wurde – veröffentlichten Erklärung „Institut Solidarische Moderne stellt sich gegen Wagenknecht und Lafontaine“ begründet man die Abgrenzung so: „Ein linkes Crossover-Projekt (lässt sich) nur auf der Basis von Solidarität entwickeln. Der Umgang mit der sogenannten Flüchtlingsfrage – die in Wirklichkeit eine Frage der Krise des Nord-Süd-Verhältnisses ist – ist dabei paradigmatisch. Nur wer in dieser Frage internationale Solidarität übt; wer eine Spaltung in eine legitime und eine illegitime Bevölkerung verweigert; wer die Überwindung der verschiedenen Herrschaftsverhältnisse anstrebt, egal ob sie auf Klassen, Geschlechtern, Ethnizität, Sexualität oder dem Verhältnis zur Natur beruhen; nur wer diese Herrschaftsverhältnisse gemeinsam in den Blick nimmt, ist auf der Höhe der Zeit und wird an einer Bewegung arbeiten, die ein emanzipatorisches Potential entfalten kann.“
Wer auf der Höhe der Zeit sein will, muss seine Seinsgewissheiten östlich der Zivilisation aufspüren – und Kipping wurde in ihrem Buch Wer flüchtet schon freiwillig – die Verantwortung des Westens oder warum sich unsere Gesellschaft neu erfinden muss fündig, das pünktlich zur Flüchtlingskrise erschienen ist. Darin drängt sie zur „Entscheidung“, die da lautet: „Entweder Aufbruch in einen grenzübergreifenden Postkapitalismus oder eine allmähliche Fragmentierung der Gesellschaft hin zur organisierten Barbarei.“ (Frankfurt/Main 2015, 175) Die Aussage ist kryptisch, denn die Fragmentierung der Gesellschaft, praktisch durch ökonomische Deregulierung und die Aufkündigung der allgemeinen Sicherheitsgarantien durch den Staat und ideologisch durch Herrschaftskritiker*innen, die den Mullah von nebenan, mithin islamische Herrschaftsstrukturen freudig als kulturelle Bereicherung begrüßen, ist schließlich das Programm des grenzübergreifenden Postkapitalismus, der die Barbarei zwar nicht organisiert, sondern nur geschehen lässt. Als Imperativ gegen rechts, wie auch gegen die Konkurrenten in der eigenen Partei, geht eine dermaßen existenzialistische Entscheidung jedoch jederzeit durch. Mit den jungen, akademischen und vorwiegend im Westen Deutschlands beheimateten Antinationalisten weiß man sich einig, dass es nichts gibt, woran man sich halten will, weil Haltlosigkeit dem Mitmachen in schicksalhaften Zeiten einen geradezu rebellischen Zug verleiht. Entsprechend weiß man über „Kultur“, was jeder postmoderne Kulturschaffende einem ohne Unterlass eintrichtert: „Ein realistischer Blick auf Kultur zeigt: Die Idee einer an eine Nation gebundenen Leitkultur ist eine Schimäre. Kultur ist beständig im Wandel. […] Jede konkrete in einem Moment eingefangene Kultur stellt […] lediglich eine Momentaufnahme einer Synthese der Kulturen der Welt dar. Insofern braucht keine Kultur weder in Europa noch in Deutschland noch in irgendeinem imaginären Abendland den Schutz vor dem angeblichen Fremden. Denn über die Sedimente der Geschichte und über die modernen Technologien des Austauschs findet die permanente Neuzusammensetzung wie in einem Prisma sowieso beständig statt. […] Statt von Leit- und Nationalkulturen sollten wir also von liquiden, sich beständig verändernden Kulturen im Plural ausgehen.“ (ebenda, 131 f.).
Katja Kipping war gewiss nie mehr als ein bienenfleißige Sammlerin von Textbausteinen, die sie nach ideologischem Nützlichkeitsprinzip zu einem Textbrei verrührt, den das Delegiertenvolk dann um der Teilhabe an der „Höhe der Zeit“ willen herunterwürgen soll. Dass sie das als Parteivorsitzende einer sozialistischen Partei mit der Begründung immerhin prominent andienen kann, dass die kommenden Veränderungen sich ohnehin nicht aufhalten lassen, ist schon deswegen hervorzuheben, weil diese Partei mit ihrem Kipping-Flügel zunehmend von israelsolidarischen Menschen als Alternative zur Alternative für Deutschland, als das Bessere im zum Chemnitzer Faschismus tendierenden Dunkeldeutschland entdeckt wird. Als brutaler Angriff auf jede Voraussetzung für Solidarität mit dem jüdischen Nationalstaat liest sich jedenfalls dies: „Ein solches Verständnis von Kultur geht einher mit der Absage an eine Politik, die sich als Agent einer längst fragmentierten Souveränität aufspielt. Dabei kann zukunftsfähige Politik selbst heute keine Verteidigung des Staus quo sein. Sie sollte nicht versprechen, was sie nicht halten kann. […] Die kommenden Veränderungen lassen sich ohnehin nicht aufhalten, wir können nur mitbestimmen, wie sie ablaufen, welche Effekte sie haben werden und wer dafür bezahlt“. (ebenda)
In diesem Schicksalsgefasel, das weniger vom völkischen Geschwätz von der ewigen Nation und ihrem unveränderlichen Auftrag enfernt ist, als es einer linken Parteivorsitzenden lieb sein müsste, ist schon angelegt, dass es andere Subjekte sein werden als die Juden in Deutschland oder sonst in Europa und mit ihnen der jüdische Staat, mit denen man ins Geschäft kommen will. Kipping spannt in ihrem Buch die Flüchtlinge, die kein individuelles Schicksal haben und bestimmt keine entsprechenden Wünsche hätten, als Kollektiv und antinationale Manövriermasse vor ihren ideologischen Karren und deklariert auf Helfer-Deutsch: „All die vielen persönlichen Nöte, Ängste und Hoffnungen der Flüchtenden sowie ihr spontanes Begehren verdichten sich immer wieder zu einem kollektiven Akt. Sie treten heraus aus der Unsichtbarkeit. […] Nun würde es womöglich zu weit führen, die Geflüchteten als das neue revolutionäre Subjekt, wenn auch wider Willen, zu bezeichnen. Aber ganz sicher setzen sie die Verteilungsfrage im globalen Maßstab auf die Agenda“. (a.a.O., 13 u. 15) Das revolutionäre Geschöpf wider Willen war in der Revolutionsgeschichte immer jene Masse Mensch, die von gewieften Machtpolitikern mit einem wissenschaftlich begründeten Heilsauftrag ausgestattet und unter Absehung ihrer wirklichen Wünsche als revolutionäres Subjekt in Marsch gesetzt wurde. Früher ging es um die Eroberung der Macht im dann totalitären Staat durch eine skrupellose Clique von Volksfreunden, heute bezieht man sich auf die Einsichten der gleichen Lenins und auch Trotzkis, um dem demokratisch legitimierten Nationalstaat den Garaus zu machen, ohne für sich die Macht zu beanspruchen. Die soll wohl an ein unfreiwilliges Kollektivsubjekt übergehen, von dessen Angehörigen man offensichtlich erwartet, dass sie sich keineswegs von den Beschädigungen durch die staatliche Terrorherrschaft und die ideologische wie religiöse Zurichtung ihrer Herkunftsländer frei machen wollen, sondern gerade kraft ihrer Beschädigungen auch die einheimische Bevölkerung in nachnationale Zeiten führen werden. Das perfide Spiel gerade mit jenen Flüchtlingen, die sich nichts sehnlicher wünschen als endlich erfahren zu können, was es heißt, jenseits der islamischen Kultur aus Sippe, Stamm und Allah so etwas wie ein Individuum sein zu dürfen, macht aus der Vorsitzenden der Partei Die Linke eine Verbündete all jener, die jeden Freitag der Gebetsmeute einbläuen, dass das revolutionäre Subjekt und dessen keineswegs liquide Kultur auf den Namen Umma hört.
Auf der anderen Seite steht zwar über Sahra Wagenknecht fest, dass sie die instrumentelle Willkommenskultur Kippings ganz und gar nicht teilt, sie also ihre Revolutionsphantasien nicht auf die Flüchtlinge projiziert. Überliefert ist jedoch nicht, ob sie die schon vor Jahren öffentlich erklärte Islamliebe Oskar Lafontaines, des neben ihr Hauptverantwortlichen für das Aufstehen-Projekt, teilt oder es nur dabei belässt, in schlechter linker Tradition pauschal dem Westen die Schuld am Islamismus zu geben. (5) Auffällig ist zumindest, dass sich in der Internetpräsenz von Aufstehen statt Islamkritik einzig ein Videobeitrag zur Islamverharmlosung findet, der von einem Pfaffen mit Namen „Kurt“ stammt und in dem es heißt: „Ich glaube, dass das mit dem Islam nicht ganz so gewaltig ist, wie es dargestellt ist. Es wird zu hoch gehängt. […] Im Großen und Ganzen kommt es darauf an, dass wir uns da nicht so emotionalisieren lassen“. (aufstehen.de) Diese eingeforderte Emotionslosigkeit fand in der Praxis der Linkspartei ihren lagerübergreifenden Ausdruck in einem Vorfall im Vorfeld des Leipziger Parteitages. Da wagte es ein junger Genosse aus Sachsen-Anhalt namens Paul Reinhardt, der Parteikommission einen Antrag für den Parteitag mit dem Titel Es braucht eine linke Islamkritik! vorzulegen, in dem es unter anderem heißt: „Wir dürfen es nicht zulassen, jegliche Kritik am Islam zu verweigern und sie den Neurechten als Deckmantel für ihren Rassismus zu überlassen, denn das nützt einzig und allein dem rechten Lager.“ (paulreinhardtblog.wordpress.com) Der Antrag des Störenfrieds wurde als tendenziell rechts und rassistisch, vulgo: islamophob pauschal abgelehnt. (6)
Den offensichtlich lagerübergreifenden Konsens, den es innerhalb der Partei in Sachen Islam gibt, gab es bei Katja Kippings Herzensangelegenheit, dem bedingungslosen Grundeinkommen, dagegen nie. Die vernichtende Kritik, die Wagenknecht an dieser Idee übt, zeigt immerhin, dass sie, die darin nur die versuchte „komplette Abschaffung des Sozialstaates“ erkennen kann, noch eine Vorstellung von Gesellschaft und Solidarität vorweist. In ihrem aktuellen Buch mit dem an Jutta Ditfurth gemahnenden Titel Couragiert gegen den Strom heißt es zum bedingungslosen Grundeinkommen: „Damit verabschiedet sich die Gesellschaft von ihrer Verantwortung, jedem Menschen die Chance zu geben, sich mit eigener Arbeit ein anständiges Einkommen zu verdienen. […] Der Anspruch der Gesellschaft muss doch sein, dass jeder sein Geld mit eigener Arbeit verdienen kann. Jeder kann irgendetwas besonders gut, er muss nur die Chance erhalten, seine Talente zu entwickeln und auszubilden. Das ist die gesellschaftliche Aufgabe und nicht, Almosen zu verteilen und einen erheblichen Teil der Gesellschaft einfach abzuschreiben. […] Jeder, dem die Idee des bedingungslosen Grundeinkommens zunächst faszinierend erscheint, sollte sich die Konsequenzen genau anschauen. Es ist kein Zufall, dass dieses Konzept so viele begeisterte Anhänger unter den oberen Zehntausend hat.“ (Frankfurt/Main 2017, 101 f. u. 105) Diese Kritik, die direkt an die Adresse Kippings geht, obwohl sie nicht ausdrücklich erwähnt ist, besagt konsequent weitergedacht, dass sich ein bedingungsloses Grundeinkommen und eine auch nur halbwegs funktionierende Einwanderungsgesellschaft, die sich nicht durch irreversible Fragmentierung selber dem Zerfall preisgibt, grundsätzlich ausschließen. (7) Kipping wird von Wagenknecht – natürlich ohne namentlich genannt zu werden – zu Recht verdächtigt, eine verkappte progressive Neoliberale (Nancy Fraser) zu sein. (8) Denn, so Wagenknecht weiter: „Die Idee des bedingungslosen Grundeinkommens kommt aus dem Silicon Valley“. (a.a.O., 105)
Die Haltung einer Katja Kipping, die dem postmodernen Kapitalismus in allen seinen Erscheinungen stets „emanzipatorische“ Potentiale attestiert, die eine Linke „auf der Höhe der Zeit“ nur zu nutzen brauche, wird von Wagenknecht so auf den Punkt gebracht: „Weltoffenheit, Antirassismus und Minderheitenschutz sind das Wohlfühl-Label, um rüde Umverteilung von unten nach oben zu kaschieren und ihren Nutznießern ein gutes Gewissen zu bereiten“. (Welt, 25.6.2018) Der Schluss, den sie aus dieser Allianz zieht, hat mehr analytischen Tiefgang als das stets gleichklingende Antifa- und Feuilletongeschwätz vom neuen, alten oder sonstwas Faschismus, den der sogenannte Rechtspopulismus und dessen Wählerschaft angeblich verkörpern sollen: „Auch die Aggressivität, mit der progressive Werte heute wieder in Teilen der Gesellschaft abgelehnt werden, dürfte ihren wichtigsten Grund darin haben, dass die Betroffenen diese Werte schlicht als Teil eines politischen Pakets empfinden, dessen wirtschaftsliberale Komponente ihren Lebensstandard bedroht“. (ebenda) (9) Dass das Denken der Antiimperialistin Wagenknecht solch lichte Momente kennt, hat seinen Grund darin, dass sie als traditionelle Linke an einer Forderung festhält, die bei (post-)modernen Linken so sehr in Vergessenheit geraten ist, dass man sie von einem linken „Sprechort“ schon gar nicht mehr erwartet: „Der Kern linker Politik ist, sich für die sozialen Interessen der großen Mehrheit der Bevölkerung einzusetzen“ (10) Oder: „90 Prozent aller Flüchtlinge weltweit leben in den Nachbarstaaten ihrer Heimat. Um sie kümmert sich außer dem chronisch unterfinanzierten UN-Flüchtlingswerk praktisch niemand. Linke Politik ist immer Politik für die Mehrheit, sie sollte sich also vor allem um diese 90 Prozent kümmern.“ (Focus, 10.2.2018) (11)
Doch gerade beim Stichwort Mehrheit könnte Sahra Wagenknecht der Genosse Trend einen dicken Strich durch die linke Rechnung machen. Zwar erfährt Wagenknecht parteiintern großen Zuspruch, etwa im Thesenpapier zu einer human und sozial regulierenden linken Einwanderungspolitik, unterzeichnet von 18 prominenten Parteimitgliedern um den stellvertretenden Bundestagsfraktionsvorsitzenden und finanzpolitischen Sprecher der Partei Fabio De Masi, in dem unter anderem auf einem „Recht zur Regulierung der Migration“ bestanden, ein „universales Einwanderungsrecht“ bestritten und „der unvermeidlich im Kern nationalstaatlich organisierte Sozialstaat als Instanz einer humanitären und sozialen migrationspolitischen Praxis“ verteidigt wird. (fabio-de-masi.de) Warum jedoch Katja Kipping mit reichlich Rückenwind auf dem Leipziger Parteitag Folgendes verkünden konnte, bedarf einer Erklärung: „Wenn ich mir unsere jungen Neumitglieder anschaue, dann sehe ich keine grünen Hipster, keine neuen Grünen. Ich erlebe Leute, die in wunderbarer Selbstverständlichkeit Flüchtlingssolidarität und Einsatz für Soziales zusammendenken. Wir sollten diesen jungen Linken gut zuhören, denn sie stehen für eine große gesellschaftliche Gruppe in unserem Land, die weder rechts noch neoliberal ist und wir müssen unsere Partei zum Ankerpunkt ihres politischen Engagements machen.“ (die-linke.de) (12) Zwar wäre Sachsens SPD-Wirtschafts- und Arbeitsminister Martin Duhling zu widersprechen, wenn der in der FAZ pauschal über die Linkspartei feststellt, sie hätte längst „ihre ostdeutsche Identität durch eine urban-kosmopolitische ersetzt“. (20.10.2018) Woher jedoch der Wind seit geraumer Zeit weht, kann man zum Leidwesen des Wagenknechtflügels spätestens an den Wahlerfolgen der AfD und der massiven Abwanderung ehemaliger Links-Wähler in der Zone ablesen. Zwar beteuert Kipping, sowohl „die Bockwurstesser“ als auch „die Bionadetrinker“ im Boot haben zu „wollen“ (Taz, 13.1.2018), in ihrem Buch Wer flüchtet schon freiwillig feiert sie aber ausgerechnet die egozentrisch-narzisstische sogenannte Generation Y ab, die als Menschentyp für das prekarisierte Agenda 2010-Leben wie gemacht ist, sich also längst auf dem dritten Weg befindet. (13) Sowohl die Mitgliederentwicklung als auch die Wahlerfolge im Westen belegen, dass die Partei in zunehmendem Maße eine Bionade- und damit Anti-Bockwurstpartei wird. In Auswertung der letzten Bundestagswahl liest sich das im Parteiorgan Neues Deutschland so: „Die Linkspartei punktete vor allem in urbanen Gegenden. Die Erfolge waren meist dann noch ausgeprägter, wenn es dort akademische Umfelder gibt“. (18.8.2017) Zur Mitgliederentwicklung heißt es: „Zwei Drittel der neuen Mitglieder sind 35 Jahre alt oder jünger. […] 72 Prozent der Neueintritte erfolgten im Westen […]. Oftmals ist das Milieu der Neumitglieder akademisch und linksgrün geprägt. Arbeiter und Erwerbslose sind unterrepräsentiert. […] Die bundesweit positive Bilanz […] kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Partei zugleich in vielen Gegenden des ländlichen Raumes und bei sozial Abgehängten an Zuspruch verloren hat“. (8.6.2018) Es spricht vieles dafür, dass Sahra Wagenknecht und die Ihren den richtigen Zeitpunkt für ein Aufstehen in der Linkspartei verpasst haben.
Sören Pünjer (Bahamas 80 / 2018)
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