War was? Anders als es die aufgeregten ersten Reaktionen vermuten ließen, ging Deutschland nach dem antisemitischen Terroranschlag auf die Synagoge in Halle, bei dem Stephan Balliet zwei Menschen, Jana Lange und Kevin S., auf offener Straße und in einem naheliegenden Dönerladen ermordete, schnell zur politischen Tagesordnung über. Bald war allenfalls noch von Interesse, wie sich das Attentat für den Thüringer Landtagswahlkampf gegen die AfD und deren bereits absehbaren Wahlerfolg unter Björn Höcke benutzen ließ – ein Unterfangen, das wenig überraschend keinerlei Erfolg verzeichnete. Das Wahlergebnis fiel in etwa so aus, wie es bereits vor Halle vermutet worden war. Linkspartei und AfD erhielten zusammen mehr Stimmen als CDU, SPD, Grüne und FDP in der Addition. Der Kampf gegen rechts und der gegen den Antisemitismus sind in Zeiten des Staatsantifaschismus zu einer Werbeveranstaltung verkommen, mit der weder der AfD noch dem weit verbreiteten antisemitischen Ressentiment beizukommen ist. „Es hilft nur emphatische Aufklärung, mit der ganzen Wahrheit, unter striktem Verzicht auf alles Reklameähnliche.“, bemerkte Adorno bereits 1962. „Vergessen Sie nicht, daß die Abwehrmechanismen, mit denen wir zu rechnen haben, außerordentlich fein alles Reklameähnliche registrieren und eliminieren“. (1)
Offenbar war man nicht gewillt, die naheliegende Frage zu stellen, ob die Häufung rechtsradikaler Terroranschläge, bei denen Antisemitismus ideologisch eine wichtige Rolle spielt, etwas über die Existenz oder Stärke eines sich global vernetzenden Rechtsterrorismus aussagt und wie sie vor dem Hintergrund der Bedrohung durch islamischen Terror zu sehen sind. Es ist offenkundig, dass Menschen wie etwa Breivik, Bowers, Tarrant oder Balliet dem Djihadismus als effektivster Form des Kampfes gegen die westliche Dekadenz nacheifern, weswegen ihnen gern „Islamneid“ unterstellt wird. Darunter wird dann zumeist verstanden, dass der Rechtsradikale im Islam eine Gemeinschaft mit klarer gesellschaftlicher Hierarchie, strengen Regeln und religiösen Werten im Einklang mit dem kulturellen Erbe erblicke und diese darum beneide. Dies macht sie aber gerade nicht zu christlichen Fundamentalisten, da ihnen die christliche Religion als schwach und verweichlicht erscheinen muss. (2) Es wird aber gern vergessen, dass das, was in klandestinen Internetforen tatsächlich simuliert und beneidet wird, die zum letzten entschlossene, brutale Kampfgemeinschaft ist, als die die Umma immer auch gedacht werden muss. Es könnte aber gerade dieses Fehlen einer echten Kampfgemeinschaft und der göttlichen Überzeugung sein, das die Opferbereitschaft am Ende hemmt.
Entscheidende Bedeutung kommt auch der Wahl der Synagoge als Ziels des Anschlags zu: Anders als es in einem später klammheimlich korrigierten Artikel auf Spiegel online zunächst nahegelegt wurde, war die Synagoge für Balliet keineswegs ein Zufallsziel, weil sie eben näher gelegen habe als die nächste Moschee oder ein linkes Kulturzentrum. Im Gegenteil schreibt er in seinem Manifest, dass er solche Angriffe auf „Golems“ für sinnlos halte, da jeden Tag Hunderte nach Europa geschifft werden, weswegen nur die Vernichtung der eigentlichen Strippenzieher, der Juden, das Unheil abwenden könne. Weder hier noch in seiner auf Video aufgenommenen Erklärung begründet er den Zusammenhang zwischen Juden, Masseneinwanderung, sinkenden Geburtenraten und Feminismus; ob er dies unterlässt, weil es sich für ihn von selbst versteht oder weil er dazu nicht imstande ist, bleibt unklar. Aber seine Entschlossenheit bringt er deutlich zum Ausdruck: Wenn er scheitere und sterbe, dabei aber nur einen einzigen Juden ermorde, dann sei es dies wert gewesen, denn wenn jeder weiße Mann einen Juden umbringe, dann würden „wir gewinnen“. Diese antisemitische Vernichtungswut Stephan Balliets, die Selbstvernichtung in Kauf nimmt, wenn auch das Überleben als „Bonusziel“ ausgegeben wird, hat in Halle zwei Todesopfer gefordert, die als Opfer antisemitischer Gewalt zu benennen offenbar nicht nur denen schwerfällt, die betonen, es habe sich bei ihnen um Deutsche und nicht um „Semiten“ gehandelt. So leicht es vielen fällt, von Antisemitismus zu sprechen, wenn besonders widerliche AfD-Politiker die Frage aufwerfen, was schwerer wiege – die Beschädigung einer Synagogentür oder die Tötung zweier Deutscher –, so schwer fällt es offenbar fast allen, auf das explizit antisemitische Motiv einzugehen.
Sehr schnell ging die Öffentlichkeit nach den obligatorischen Auftritten, Kranzniederlegungen und Mahnwachen vor Synagogen, die bereits oft genug den Charakter hatten, dass hier etwas für statt mit den Juden getan werde, dazu über, nur noch allgemein von „Hass“ oder Rechtsradikalismus zu sprechen, um vom Antisemitismus schweigen zu können. Die Verlockung, den Antisemitismus lediglich als Teil des Problems Rechtsradikalismus und Rechtspopulismus zu betrachten, allenfalls noch unter Erwähnung des linken und islamischen Antisemitismus, war offenbar zu groß. „So gingen in der Bundestagsdebatte vom 12. Oktober zum Thema ‚Bekämpfung des Antisemitismus nach dem Anschlag auf die Synagoge in Halle‘ nur drei der insgesamt zwölf Redner (Horst Seehofer, CSU, Linda Teuteberg, FDP, und Beatrix von Storch, AfD) auf Aspekte des Antisemitismus ein. In mehreren Reden – darunter die Rede von Justizministerin Christine Lambrecht (SPD) – tauchte das Wort ‚Antisemitismus‘ nicht einmal auf. Stattdessen ließ man sich unspezifisch über ‚Hass, Hetze und Gewalt‘, über ‚Rechtsextremismus und Spaltung‘, über ‚Verleumdung und Mobbing‘ über ‚extremistisches Gedankengut‘ oder ‚eine unmenschliche Ideologie‘ aus“. (3) Bundeskanzlerin Merkel hatte bereits am Abend des Anschlags in einem bizarren Auftritt vor der Neuen Synagoge in Berlin, bei dem ausgerechnet eine aufgelöste Sawsan Chebli neben ihr stehen musste, „Jüdinnen und Juden“ als Außenstehende bezeichnet, die lediglich unter dem Schutzschirm der Diversität das bunte Deutschland mit Klezmer, koscheren Restaurants und sonstiger Folklore beglücken dürfen: „Ich möchte ihnen versichern, dass wir alles tun, damit sie weiter unser gemeinsames Leben bereichern können“. (4)
Zentral für den Umgang mit dem antisemitischen Anschlag und Doppelmord von Halle ist gerade die Verdrängung der Tatsache, dass es diese Ideologie ist, die zu einer dramatischen Zunahme antisemitischer Gewalt in Europa und damit zu einem Exodus vor allem der französischen und schwedischen Juden geführt hat. Von links bis weit in die Mitte der Gesellschaft ist die Überzeugung verbreitet, dass die Juden in ihrer verstockten Partikularität und insbesondere Israel als jüdischer Staat als Feinde der Diversität zu gelten haben, was skandalöse Vorgänge nach sich zieht: etwa die richterliche Beurteilung eines Brandanschlags auf eine Wuppertaler Synagoge durch drei Palästinenser als Ausdruck von „Israelkritik“ oder die Freilassung des Syrers, der wenige Tage vor Balliets Anschlag mit einem Messer auf die Mitarbeiter des Wachschutzes der Neuen Synagoge in Berlin losging. Die vollkommen irre Demonstration am 19. Oktober in Halle gegen Hass, Rassismus und für eine losgelöste Toleranz unter dem Motto #hallezusammen, bei der eine beleuchtete Mobiltelefone schwenkende Menge unter Anleitung mäßig prominenter Musiker „Imagine“ von John Lennon anstimmte (5), legt ebenso den Schluss nahe, dass so viele Menschen gegen einen antisemitischen Anschlag demonstrieren, weil er aus der rechtsradikalen Ecke kommt und man sich folglich eine Welt ohne Länder, also auch ohne Israel herbeiträumen kann. Erklären lässt sich das nur mit der gewaltigen Erleichterung, dass der Mörder diesmal kein Moslem war.
Die großen Aufläufe gegen rechts sind Teil der Verdrängung und Verharmlosung der islamischen Gewalt und der voranschreitenden Islamisierung durch eine Gesellschaft, die zu rechter Gewalt ein rein instrumentelles, und zu antisemitischer gar kein Verhältnis hat. Deutschland in seiner derzeitigen politischen Verfassung benötigt rechtsradikale Gewalt geradezu, um den wahnsinnigen Kurs des Islam-Appeasement nach innen wie nach außen (Erdogan, Iran, Palästina etc.) zu rechtfertigen. Darüber hinaus dient der Kampf gegen rechts zur Delegitimierung unliebsamer Regierungen. Als der US-amerikanische Außenminister Pompeo am 7. November anlässlich eines Deutschlandaufenthalts auch die Synagoge und den Dönerladen in Halle besuchte, um der Opfer zu gedenken, ließ sich ein Grüner Stadtrat mit den Worten vernehmen, dass ihm als Vertreter der Trump-Regierung, die unentwegt Rassismus und Frauenfeindlichkeit herausposaune, ein „ehrliches Gedenken für einen auch rassistischen Anschlag“ nicht abzunehmen sei. (6) Im Gegensatz dazu steht es für die Grünen offenbar nicht im Widerspruch zu einem „ehrlichen Gedenken“ an einen antisemitischen Anschlag, dass Claudia Roth nur wenige Tage später mit dem iranischen Parlamentspräsidenten, dem Holocaustleugner Ali Laridschani, zusammentraf und ihn herzlich begrüßte. Auf die Kritik der Bild-Zeitung daran reagierte die Parteivorsitzende Baerbock so verstockt wie sonst nur Wolfgang Gedeon oder Stephan Brandner, während der oberste Iranversteher Omid Nouripour gleich zum Lieblingsmittel aller Antisemiten griff, indem er einen Boykott des Blattes ankündigte.
Den sachsen-anhaltinischen Grünen darf man darüber hinaus aber ein handfestes Kalkül unterstellen, wenn sie als Reaktion auf einen tödlichen antisemitischen Anschlag in Halle auf den amerikanischen Außenminister als Störenfried eindreschen. Schließlich sind sie seit 2016 in einer Kenia-Koalition an der Landesregierung beteiligt, die für den Schutz der Synagoge verantwortlich ist. Wie Lesern der Zeitschrift Bonjour Tristesse bekannt, beklagte sich Max Privorozki, der Vorsitzenden der örtlichen Jüdischen Gemeinde, bereits seit längerem über fehlenden Schutz und fehlende Unterstützung durch die örtlichen Behörden (7) – ein Vorwurf, den er nach der Tat in der Welt noch einmal ausdrücklich bekräftigte. (8) Dass trotz der voll besetzten Synagoge anlässlich des Yom Kippur Festes kein einziger Polizist vor Ort war, dass es über eine Viertelstunde vom Beginn des Anschlags bis zur ersten Begegnung Balliets mit der Polizei dauerte, diese ihn trotz beschädigter Reifen entkommen, einen weiteren Menschen verletzen und ein Taxi stehlen ließ, bis er erst nach 50 Kilometern Flucht gestellt wurde, zeigt, dass die Vorwürfe nicht unberechtigt waren.
Die Frage aber, wieso ein Land, das sich auf seine Lehren aus der Geschichte unglaublich viel einbildet, nicht in der Lage ist, eine Synagoge zu schützen, wollte man sich lieber nicht stellen. Noch im Mai 2019 hatte sich die jüdische Gemeinde im benachbarten Dessau an die Landesregierung und Innenminister Stahlknecht (CDU) mit der Bitte um Verstärkung der Türen und Fenster gewandt, was dieser ablehnte. (9) Die Gemeinde in Halle hatte so lange glücklicherweise nicht gewartet, sondern bereits 2015 aus den Mitteln des Security Assistance Fund der Jewish Agency for Israel, der 2012 nach dem antisemitischen Anschlag von Toulouse ins Leben gerufen worden war, genau die Eingangstür verstärkt, durch die Balliet einzudringen versuchte. (10) Es war also weder der Unfähigkeit des Attentäters noch einem glücklichen Zufall, geschweige denn dem Einsatz der Sicherheitsbehörden zu danken, dass am 9. Oktober das geplante antisemitische Massaker in der Synagoge unterblieb, sondern allein der durch die vom deutschen Staat im Stich gelassene jüdische Gemeinde mit internationaler Unterstützung vorgenommenen Maßnahmen zum Selbstschutz. Ein möglicherweise zeitlich besser abgepasster Anschlag mit professionellerer Ausrüstung hätte dennoch ein Blutbad angerichtet, bevor auch nur der erste Polizist vor Ort gewesen wäre; angesichts dieser Tatsache ist es zumindest „irritierend“ (Zentralrat der Juden in Deutschland), dass sich die Landesregierung durch Innenminister Stahlknecht und den Grünen-Politiker Striegel selbst bescheinigte, dass die Sicherheitsbehörden sich nichts vorzuwerfen hätten, sondern dass sich im Gegenteil die jüdische Gemeinde falsche Tatsachenbehauptungen zuschulden habe kommen lassen. (11) Mit Ausnahme der AfD-Fraktion, der Jusos und des lokalen Bündnisses gegen rechts fand niemand dieses Verhalten des Innenministers, der als Favorit auf die Nachfolge von Ministerpräsident Haseloff gilt, rücktrittswürdig. Die gewaltige Erleichterung darüber, dass es dem antisemitischen Mordbrenner nicht gelungen war, Juden zu töten, sondern „nur“ zwei Deutsche, ermöglichte es nicht nur einem deutschen Innenminister, den frechen Juden über den Mund zu fahren. Auch in dem gemeinsamen Interview, dass Der Spiegel mit dem ehemaligen Außenminister Gabriel und dem noch amtierenden Ministerpräsidenten Haseloff führte, schwadronierte ersterer vom „Glück im Unglück“, da ein Massaker in der Synagoge „die internationale Sicht auf Deutschland“ verändert hätte. (12) Konkrete Juden, die nur knapp einem antisemitischen Massaker entronnen sind, interessieren Deutsche in ihrem Kampf gegen Antisemitismus herzlich wenig, sondern jüdische Gemeinden sollen als bereicherndes „jüdisches Leben“ die Staffage im Bild des moralisch geläuterten Deutschlands abgeben.
Auch wenn nach dem Anschlag davon ausgegangen werden kann, dass der Schutz von Synagogen zumindest kurzzeitig verstärkt und den Nutzern rechter Internetforen größere Aufmerksamkeit gewidmet werden dürfte, bleibt die Tatsache, dass Juden in Deutschland Opfer alltäglicher antisemitischer Gewalt sind, dadurch vollkommen unbeantwortet. Seit Jahren beklagen sich ihre Vertreter über die Zunahme der Bedrohungen und ausbleibende Konsequenzen. Zudem zeigt sich bei Befragungen unter Juden in Deutschland, die Opfer antisemitischer Angriffe wurden, ein gänzlich anderes Bild als in der polizeilichen Kriminalstatistik: Bei 62 Prozent der Beleidigungen und 81 Prozent der körperlichen Angriffe gaben sie muslimische Personen als mutmaßliche Täter an. (13) Diese Tatsache ist nicht deswegen relevant, um den islamischen gegen den rechtsradikalen Antisemitismus auszuspielen, dessen mörderische Potenz jedem denkenden Menschen auch vor dem 9. Oktober klar gewesen sein muss. Vielmehr zeigt sie auf, dass die bunte Gesellschaft ganz offenbar nicht bereit ist, das Problem des Antisemitismus in seinem tatsächlichen Ausmaß zur Kenntnis zu nehmen und deswegen auch nicht befähigt ist, ihm entgegenzutreten. Wenn aber „die wirklich zur Verfügung stehenden Machtmittel“ (14) gegen antisemitische Täter nicht oder nur im Falle politischer Opportunität zum Einsatz gebracht werden, dürfen sich alle anderen ermutigt fühlen, ebenfalls zur Tat zu schreiten – ein Zusammenhang, den diejenigen, die den Antisemitismus gern fein säuberlich in verschiedene Kategorien sortieren, unter den Tisch fallen lassen. Der sofortige Verweis auf die AfD, der nicht per se falsch ist, wenn man die zahlreichen einschlägigen Aussagen ihrer Vertreter und Anhänger betrachtet, erfüllt somit immer auch den Zweck, den universellen Charakter des Judenhasses zu verdrängen. Demgegenüber muss jede Befassung mit dem Antisemitismus „geleitet sein von dem Gedanken der Notwendigkeit, solche Phänomene und Manifestationen zu begreifen und sich einzugestehen, anstatt sich zu entrüsten. Nur wenn man auch das Alleräußerste – nicht einfühlend, sondern schematisch – noch zu verstehen vermag, wird es einem möglich sein, sinnvoll und mit Wahrheit dagegen zu wirken“. (15) Dazu gehört selbstredend die Tatsache, dass man in islamischen Familien in Europa „den Antisemitismus mit der Muttermilch einsaugt“ (Georges Bensoussan), oder allgemeiner gesprochen: „Die kindlichen Ursprünge des Antisemitismus sind im allgemeinen im Elternhaus zu suchen. In der Schule ist meist alles schon entschieden“. (16) Insofern läge es nahe, statt unmittelbarer Schuldzuweisung und Abspulen des politischen Programms, das ohnehin auf der Tagesordnung steht, im Umfeld des Täters und in seinen Äußerungen nach Hinweisen zu suchen. Unmittelbar nach dem Anschlag gab Balliets Mutter, eine Grundschullehrerin, gegenüber Spiegel-TV (17) einschlägige Hinweise zu Protokoll, die allerdings eher nach DDR und Linkspartei als nach AfD klangen: „Er hat nichts gegen Juden in dem Sinne. Er hat was gegen die Leute, die hinter der finanziellen Macht stehen – wer hat das nicht?“
An dem kurzen Text, den Stephan Balliet in englischer Sprache hinterlassen hat, fällt auf, dass er antisemitische Bezeichnungen verwendet, wie sie vor allem unter US-amerikanischen Verschwörungstheoretikern verbreitet sind. So spricht er etwa von Juden als kikes, eine Bezeichnung, die Anfang des 20. Jahrhunderts auf Ellis Island entstand. Viele jüdische Einwanderer waren entweder Analphabeten oder beherrschten die lateinische Schrift nicht, weigerten sich aber, die Formulare mit einem in solchen Fällen üblichen X zu unterzeichnen, da sie dies an das christliche Kreuz erinnerte. Stattdessen taten sie dies mit einem Kreis, wofür das jiddische Wort Kikel lautet. In der Folge wurden diejenigen, die mit einem Kreis unterzeichneten, schließlich als kikes bezeichnet und das Wort entwickelte sich zu einer gebräuchlichen, abwertenden Bezeichnung für Juden.
Der zweite aus den USA bekannte Begriff, der in Balliets Notiz auftaucht, ist ZOG, Abkürzung für „Zionist Occupied Government“, einer antisemitischen Verschwörungstheorie in der Tradition der Protokolle der Weisen von Zion. Diese sieht die Regierung der USA als von Zionisten besetzt und kontrolliert an, wobei als Zionisten für den Neonazi Eric Thompson, der den Begriff 1976 als Erster verwendete, nicht nur Juden, sondern auch alle anderen galten, die sich als „nützliche Idioten“ der Juden für Israel und jüdische Interessen einsetzten. (18) Die Bezeichnung war zunächst unter Rechtsradikalen wie dem Oklahoma-Bomber Timothy McVeigh gebräuchlich. Größere Verbreitung auch jenseits dieser Kreise erlangte der Ausdruck zunächst in den Verschwörungstheorien zum 11. September, etwa in der Theorie, die Juden steckten dahinter, weswegen alle in den Twin Towers arbeitenden Juden gewarnt worden seien. Insbesondere die nicht selten jüdischen Neocons um Paul Wolfowitz galten als Beweis dafür, dass die Juden hinter der Bush-Regierung, ihrer Nahostpolitik und ihrer Parteinahme für Israel und gegen den Antisemitismus steckten. Anhänger dieser Verschwörungstheorie schreiben insbesondere AIPAC (American Israel Public Affairs Committee, zu Deutsch: Amerikanisch-israelischer Ausschuss für öffentliche Angelegenheiten) größten Einfluss zu, was zum Beispiel zur Einrichtung eines Büros zur Beobachtung und Bekämpfung des Antisemitismus weltweit im amerikanischen Außenministerium im Jahr 2004 geführt habe. Durch das Buch Die Israel-Lobby und die US-Außenpolitik von John Mearsheimer und Stephen Walt (19) und öffentliche Figuren, ob nun links und rechts, wie zum Beispiel der ehemalige Kongressabgeordnete John Trafficant oder der CIA-Mitarbeiter Michael Scheuer, die den Kongress als „Besitz“ von AIPAC bezeichneten und darin den Grund für US-Kriege in der islamischen Welt nach 9/11 sehen wollen, wurde die Theorie popularisiert. Auch unter linken, libertären und rechten Gegnern einer interventionistischen US-Außenpolitik, die oft Obama, Ron und Rand Paul oder Donald Trump in ihren Präsidentschaftskandidaturen unterstützten, ist die Ansicht nicht selten, dass die USA mit ihren Kriegen und ihrer einseitigen Unterstützung Israels die islamische Welt vor den Kopf stießen und sinnlos das Geld amerikanischer Steuerzahler verschwendeten sowie das Leben von Amerikanern gefährdeten – und zwar sowohl amerikanischer Soldaten als auch Zivilisten durch erhöhte Terrorgefahr. Auch wenn nicht alle von ihnen in Verschwörungsdenken abgleiten, fällt auf, wie viele von ihnen sich die interventionistische Politik, den war on terror und das Bündnis mit Israel als Resultat sinistrer Machenschaften erklären.
Das Ende der Ära Bush und die Wahlerfolge Obamas und Trumps, die politisch entschiedene Gegner des Neokonservatismus sind, hat solche wahnhaften Vorstellungen allerdings interessanterweise nicht gemindert, sondern verschärft. Während Trumps proisraelische Politik nach altem Strickmuster mit den Juden um ihn herum und seine Außenpolitik als permanenter Kampf zwischen dem Nichtinterventionisten Trump und seinen vom Neokonservatismus beeinflussten Beratern wie etwa dem inzwischen entlassenen John Bolton interpretiert wird, verhält es sich bei dem Israelkritiker und Iran-Appeaser Obama zwiespältiger. Seine deutlich zur Schau gestellte Verachtung Netanjahus und der Missachtung sämtlicher Israelischer Bedenken in der Iranpolitik sowie seine Enthaltung im UN-Sicherheitsrat, mit der er zum Abschluss seiner Amtszeit 2008 eine israelfeindliche Resolution passieren ließ, steht eine enge Sicherheitskooperation und der Abschluss des finanziell umfangreichsten Sicherheitspakets aller Zeiten gegenüber. Wie Antisemiten sich das erklären, liegt auf der Hand und wurde von Obamas langjährigen Pastor Jeremiah Wright bereits 2009 ausgeführt. In einem Interview behauptete er, dass „diese Juden“ ihn nicht mit ihm sprechen ließen und Obama unter dem direkten Einfluss jüdischer, von AIPAC kontrollierter Wählerstimmen stünde. Darin sei auch die Erklärung zu suchen, warum jener sich im Zuge des Wahlkampfes 2008 von ihm distanziert habe.
Inzwischen ist die Wahnvorstellung, jüdisches Geld stünde hinter der US-amerikanischen Unterstützung Israels, weit in den politischen Mainstream eingesickert. „It’s all about the Benjamins baby“ (20) twitterte die demokratische Kongressabgeordnete Ilhan Omar im Februar 20019 als Kommentar zu einem Beitrag, in dem die republikanische Kritik an ihrer israelfeindlichen Haltung angegriffen wurde. Im Zuge der Kontroverse sprang ihr David Duke, der ehemalige Grand Wizard des Ku-Klux-Klans, zur Seite und verkündete: „Durch ihren Ungehorsam gegenüber der ZOG ist Ilhan Omar NUN die wichtigste Abgeordnete im US-Kongress!“ (21) Seien es schwarze Pastoren, Rechtsradikale, linke und islamische Kongressabgeordnete, Geheimdienstmitarbeiter, Politikwissenschaftler: Sie alle eint die antisemitische Vorstellung der Juden, die die Fäden ziehen und hinter allem Übel stehen. Dies zeigt die ganze Sinnlosigkeit des Unterfangens, den Antisemitismus in einen linken oder rechten zu unterteilen, denn ob Robert Bowers, der nur wenige Monate vor Omars Tweet einen Terroranschlag auf die Tree of Life-Synagoge verübte, seine Tiraden gegen die von Juden kontrollierte Trump-Regierung nun durch David Duke, Louis Farrakhan oder Abgeordnete der Demokraten bestätigt gesehen hat, spielt schon allein deswegen keine Rolle, weil der Antisemit keine Parteien, sondern nur Juden kennt und sich dankbar aus allen Quellen bedient, die seinem projektiven Wahn den Anschein von Rationalität verleihen. Dass Balliet trotz der mannigfaltigen deutschen Vorbilder, vom Nationalsozialismus über die RAF bis zum Magazin Compact und Strömungen der Friedensbewegung, sich in englischer Sprache im Jargon antisemitischer Internetforen äußert, verstärkt den Eindruck, dass er als isolierte Figur die Bestätigung seines Weltbilds aus denselben Quellen bezieht wie der Pittsburgh-Attentäter Bowers und wie der Christchurch-Attentäter Tarrant in der globalen Netzgemeinde auch das Publikum für seine Tatinszenierung sieht.
Da die Fährten, die Balliet hier gelegt hat, auf andere Quellen verweisen als die Behauptung eines von Juden gelenkten Bevölkerungsaustauschs, die er im Tatvideo andeutete, verwundert es wenig, dass sie in der Diskussion kaum eine Rolle spielten. Die Wahnvorstellung des großen Austauschs eignet sich besser als Waffe gegen alle politischen Kräfte, insbesondere rechts der Mitte, die der Idee eine Absage erteilen, auf sinkende Geburtenraten und Bevölkerungsrückgang mit Immigration, insbesondere aus der islamischen Welt zu reagieren. Diese Ablehnung mit dem Antisemitismus zu verrühren, ist zudem geeignet, jüdische Kritiker, die die Gefahr dieser Politik für die europäischen Juden benennen, von Arik Brauer über Henryk M. Broder bis Rafael Korenzecher, zu unterstellen, sie kollaborierten mit der antisemitischen Rechten. Fatal ist diese staatsantifaschistische Propaganda, weil sie das Offensichtliche leugnet: Wenn jeder Europäer klar und deutlich sehen kann, wie sich die Bevölkerungszusammensetzung verändert, wenn offensichtlich ist, dass auch in ostdeutschen Mittelstädten wie Halle (22) antisemitische Bedrohungen zunehmend von Moslems ausgehen und ebenso, dass sich seit Beginn des neuen Jahrtausends der Bevölkerungsanteil aus islamisch geprägten Ländern in praktisch allen westdeutschen Ländern in etwa verdoppelt hat, dann ist es das Gegenteil von Aufklärung, diesen Vorgang zu verleugnen oder die Auswirkungen insbesondere auf bestimmte Bevölkerungsgruppen, zu denen nicht zuletzt Juden zählen, zu beschönigen. Wenn die Gegner des Antisemitismus gegen Verschwörungstheoretiker in einer Weise argumentieren, die fast noch dümmer ist als diese, dann besteht allerdings Anlass zur Sorge. Die Antworten, die Balliet und seiner Mutter gegeben wurden und die wirkten, als wolle man einen Truther davon überzeugen, dass die Twin Towers noch stünden, klangen oft sinngemäß so: Es gebe keine Kompensation sinkender Geburtenrate durch Zuwanderung, eine Islamisierung finde nicht statt, weil es keine mächtigen Hintermänner gebe.
Die Hilflosigkeit dieses Staatsantifaschismus, der es mit der Regierung halten muss, weil man die Hand nicht beißt, die einen füttert, fand ihren Ausdruck folgerichtig in Forderungen nach Beschränkung der Redefreiheit statt in Aufklärung. Wer in den Tagen nach dem Anschlag deutsche Medien konsumierte, dem musste auffallen, wie schnell von einem antisemitischen Anschlagsversuch und Doppelmord zu Diskussionen über Internetzensur (als angeblich elementarem Kern des Kampfs gegen rechts) übergegangen wurde, also zu dem Programm, das ohnehin angesagt ist. Weil nicht nur Internetkonzerne wie Facebook, Google und Twitter bereits dafür sorgen, unliebsame Redner und deren meist legale Inhalte zu verbannen, sondern auch der deutsche Staat mit Instrumenten wie dem Netzwerkdurchsetzungsgesetz weitergehende Maßnahmen zur Beseitigung von „Hate Speech“ ergriffen hat, ist die Gefahr, die davon für die Freiheit der Rede ausgeht, offensichtlich. In den USA ist der Kampf um Redefreiheit im Netz längst eng verbunden mit dem um die Redefreiheit an Hochschulen und es ist sicher kein Zufall, dass keine zwei Wochen nach Halle Bernd Lucke, der nach einem Ausflug ins Europaparlament in seinen Beruf als Professor für Volkswirtschaftslehre zurückkehrte, in Hamburg von Antifaschisten an seiner Vorlesung gehindert wurde. Die Universität Hamburg, sein ihm gegenüber zur Fürsorge verpflichteter Arbeitgeber, reagierte darauf mit einer in ihrer Schändlichkeit beispielhaften Erklärung: „Die Durchführung freier wissenschaftlicher Lehre gehört zu den grundgesetzlich garantierten Pflichten und Rechten jedes Hochschullehrers und jeder Hochschullehrerin. Der Staat ist verpflichtet, die Durchsetzung dieser Rechte grundsätzlich [!] zu gewährleisten. Unabhängig davon ist festzustellen, dass Universitäten als Orte der Wissenschaft die diskursive Auseinandersetzung [!] auch über kontroverse gesellschaftliche Sachverhalte und Positionen führen und aushalten müssen – insbesondere vor dem Hintergrund der deutschen Geschichte [!]“. (23)
Ganz offenkundig steht es allerdings nicht im Widerspruch zur deutschen Geschichte, wenn jüdische Kinder massenhaft von Schulen gemobbt oder in etlichen Klassen Unterricht über Holocaust und Antisemitismus nicht mehr vernünftig durchgesetzt werden kann. „In Fällen, wo vom Elternhaus starker Gegendruck ausgeübt wird, dürfte ein Erzieher auch vor Konflikten mit den Eltern nicht zurückschrecken. Er müßte die Kinder lehren, daß das, was sie zu Hause hören, nicht lauteres Gold ist, daß ihre Eltern irren können, und warum. Die Zivilcourage zu solchen Konflikten wäre von den Erziehern zu erwarten“. (24) Druck auf Kinder auszuüben, die bereits von klein auf mit antisemitischer Hetze indoktriniert wurden, scheitert allerdings bereits am antizionistischen Grundkonsens in Deutschland, der vom Außenminister bis zur Grundschullehrerin reicht. Eine Regierung, die sich für die Wahl in den UN-Menschenrechtsrat feiern lässt, in dem regelmäßig die größten Schlächterregime das Wort führen und dessen Hauptbeschäftigung die Verurteilung Israels ist, an denen sie sich regelmäßig beteiligt, kann nicht glaubwürdig begründen, warum Israels Sicherheit, wie Merkel sich einst ausdrückte, Teil der deutschen Staatsraison sein soll. Mit ihrer widersprüchlichen Haltung, ihrem Appeasement und ihrer Förderung der größten antisemitischen Scharfmacher einerseits und der Sicherheitskooperation mit Israel andererseits befeuert sie den antisemitischen Wahn derer, die täglich aus staatsnahen Verlautbarungen bestätigt bekommen, welche Schandtaten die Juden angeblich begangen hätten und sich nicht erklären können, warum die Regierung daraus nicht endlich die von ihnen ersehnten Konsequenzen zieht. Zu den Perversitäten nach dem Anschlag von Halle gehörte es, wie schnell die üblichen Verdächtigen, Kahane, Ates, Salzborn und Co sich wieder um weitere Fördergelder bewarben. Der durchschlagende Erfolg ihrer „Aufklärungsarbeit“, durch deren Förderung der deutsche Staat eine Art säkularen Ablasshandel betreibt, drückte sich nicht zuletzt darin aus, dass in einer jüngst veröffentlichten Studie des World Jewish Congress 25 Prozent der Deutschen als Antisemiten eingestuft wurden (25) – weit über den rechten Rand hinaus und bis in die sogenannten Eliten der Gesellschaft. Kritik des Antisemitismus, die Aufklärung und Wahrheit verpflichtet ist, hat folglich zu den Vertretern des Staatsantifaschismus auf maximalen Abstand zu gehen.
Martin Stobbe (Bahamas 83 / 2019)
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