Licht und Luft und Sonnenschein lasst zum offnen Fenster rein!
Ich habe den Eindruck, das Wir-Gefühl überwiegt […] Ich nenne das Corona-Patriotismus.
Als Robert Koch 1876 seine Arbeit zum Milzbrand veröffentlichte, war dies die erste lückenlose Beschreibung des Lebenszyklus eines bakteriellen Krankheitserregers. Infolge dieses wissenschaftlichen Durchbruchs berief man Koch an das Kaiserliche Gesundheitsamt in Berlin, später wurde er ordentlicher Professor für Hygiene am neu geschaffenen Hygienischen Institut der Berliner Universität, schließlich bis zu seinem Ruhestand 1904 Direktor des Königlichen Instituts für Infektionskrankheiten in Berlin, das 1912 den Namenszusatz „Robert Koch“ erhielt. Den heutigen Namen Robert-Koch-Institut (RKI) gab man der Einrichtung im Jahr 1942.
Auch wenn Anfang der 1930er Jahre noch keiner der Wissenschaftler des RKI Mitglied der NSDAP war, sah man dort „mit Hitler durchaus wieder die Chance eines Aufstiegs der deutschen Wissenschaft“ (Annette Hinz-Wessels, Medizinhistorikerin an der Charité, 2017), so dass der stellvertretende Leiter des RKI sich 1933 folgerichtig an einem Aufruf Berliner Hochschullehrer zur Wahl der NSDAP beteiligte. Kurz nach Beginn des Zweiten Weltkriegs feierte im September 1939 ein Propagandafilm über den Namensgeber des RKI Premiere: Robert Koch, Bekämpfer des Todes. Koch wird darin von Emil Jannings gespielt, dessen imposante Weihnachtsmann-Erscheinung zwar nichts mit dem eher schmalen Koch gemeinsam hatte, aber dafür umso deutlicher die Rolle betonte, die Koch im kollektiven Bewusstsein der Deutschen einnahm: der geniale, väterlich-autoritäre Mediziner, der erkannte, was zu tun war, und es – fast allein mittels seines stechenden Blicks – auch umzusetzen wusste. Der Film beginnt mit einer Szene, in der Koch die Eltern eines tuberkulosekranken Mädchens, Martelchen, aus Mitgefühl vor die Tür verbannt, während er dem Kind beim Sterben zuschaut. „Siehst du den Engel dort? Ganz in Weiß und Silber? Jaja, das ist dein Engel, Martelchen“, sagt Koch, und meint sich selbst.
Koch muss sich im Film gegen drei Widersacher durchsetzen: Göhrke, den Vater des zu Anfang verstorbenen Mädchens, der nichts von Medizin versteht; den spießigen Lehrer, der seine Autorität durch das Aufreißen der Fenster untergraben sieht, das Koch den Schülern als Mittel gegen die Tuberkulose befohlen hatte; und den Vorbeter einer Gesundbeter-Sekte, der sich der naive Göhrke anschließt und die sich schließlich versammelt, um Koch den Teufel auszutreiben. Bevor er das Dorf verlässt, schleudert er diesen drei Feinden, die seine Genialität nicht erkennen, entgegen: „Der einzige Teufel, der hier auszutreiben wäre, ist eure hirnverbrannte Dummheit“, nachdem er zuvor, im sezierten Gewebe wühlend, seinem Schüler Fritz von Hartwig erklärt hatte: „Da, schau mal! Du wirst nichts sehen als das zerfallene Gewebe. Ich sehe auch nichts weiter, aber ich weiß, dass der Erreger da ist, so sicher wie die Welt steht.“ Mit dieser offenbar allein durch Eingebung erlangten Erkenntnis gewappnet trifft er in Berlin auf den nächsten großen Kontrahenten, Rudolf Virchow, einen liberalen bürgerlichen Arzt. Dieser bestreitet, wie zuvor die Dorfbewohner, die Existenz von Bakterien und damit die Genialität Kochs und wird schließlich von Bismarck auf seinen Platz verwiesen: „Große neue Dinge werden in der Regel von der Welt nicht verstanden. Dann werden sie bekämpft, und schließlich sind sie selbstverständlich.“ Bismarck schwört das Filmpublikum noch weiter auf den Endsieg ein: „Ein Appell an die Furcht hat im deutschen Herzen noch niemals ein Echo gefunden!“ Der Film endet mit einer Rede Kochs am Hygiene-Institut der Universität. Koch wird dort vorgestellt mit den Worten: „Das ist der Sieg eines unerschütterlichen Glaubens an die einmal erkannte Sendung. Unvorstellbarer Fleiß und geniale Intuition sind die Voraussetzungen einer solchen Leistung, wie sie Robert Koch uns allen als Vorbild geschaffen hat. Dass dieser Mann vom Schicksal dazu ausersehen ist, noch weiter zum Segen der Menschheit zu wirken, dafür bietet das von ihm bisher Geleistete eine kostbare und untrügliche Gewissheit.“ Koch erwidert in seiner Rede bescheiden: „Man hat meine Arbeit hier ein Verdienst genannt. Ich tat nur meine Pflicht. [...] Wir alle sind sterblich und können irren! Aber nichts darf uns abhalten, den Weg unserer Pflicht zu Ende zu gehen, der einzig und allein dem Wohl der leidenden Menschheit geweiht ist. Arzt und Helfer der Menschheit zu sein – diese Tat hat nichts mit lautem Ruhm zu tun. Sie ist still und namenlos, wie die Opfer, die ihretwegen gebracht werden. Ihr jungen Menschen, Ihr werdet mich verstehen, wenn ich sage, dass es kein Leben und kein Vorwärts zu großen Zielen gibt ohne Opfer!“
Der Autor der Biographie Kochs, die dem Film zugrunde liegt, heißt Hellmuth Unger. Er war Begründer der Zeitschrift Neues Volk, Pressesprecher der Reichsärztekammer und als Arzt einer der Wegbereiter der Kindereuthanasie, deren erster Fall, das „Kind K.“, auf den Sommer vor dem Kriegsbeginn 1939 datiert. Am 28. September 1939, zwei Tage nach der Premiere des Films im UFA-Palast in Berlin, teilten sich die Sowjetunion und das „Deutsche Reich“ die Polnische Republik auf, der Krieg hatte begonnen. Neben der Neigung zur Mystifikation historischer Figuren ist der Film getragen von einem Fortschrittsglauben, der mit dem NS untrennbar verbunden ist. Überhaupt verbietet es sich, den NS schlicht als obskurantistische Sekte zu begreifen – genauso wenig wie heutige Obskurantisten, seien es Evangelikale, die an den Teufel glauben, oder Anthroposophen automatisch fanatische Impfgegner oder Verschwörungstheoretiker sind. Im Gegenteil wurde der Kampf gegen die – wie Koch Krankheitserreger mitunter in seinen früheren Schriften bezeichnet – „Fremden“, die den deutschen (Volks-)Körper bedrohen, auch von „strahlenden Engeln in Weiß und Silber“ geführt, von als überlebensgroße Genies vorgestellten Gestalten wie Koch selbst. Wer heute die heftige öffentliche Reaktion auf ein paar verstreute Irre verstehen will, die das Corona-Virus für eine Erfindung von Bill Gates halten, kommt um eine Auseinandersetzung mit der Geschichte des Obskurantismus, zumal seiner deutschen Ausprägung, nicht herum.
Der Obskurantismus hat als irrationalistische und gegenaufklärerische Ideologie seine eigene Dialektik, weil er notwendig von jenem Rationalismus geprägt ist, gegen den er sich wendet. Die Phantasie von der unumschränkten Macht der Freimaurer, Illuminaten und Juden und die damit verbundene Vorstellung, dass ein kleiner eingeschworener Zirkel über die Welt herrscht und sie den eigenen Interessen gemäß steuert, ist ursprünglich ein antibürgerliches, vom Klerus und der Feudalbürokratie in Umlauf gebrachtes Ideologem. In ihm spricht sich am Vorabend der bürgerlichen Revolution die Erwartung der bevorstehenden eigenen Niederlage aus – und zwar bemerkenswerterweise in einer Form, die ein wesentliches Merkmal der aufklärerischen Ideen, die ja dadurch delegitimiert werden sollen, in sich aufnimmt: die Vorstellung, dass Herrschaft etwas Menschengemachtes, aus menschlichen Handlungen Hervorgegangenes vorstellt und nicht nach Privileg und Willkür ausgeübt, sondern den Kriterien der Rationalität unterstellt werden soll. Die Urform des gegen Freimaurer, Illuminaten und Juden gerichteten Verschwörungsdenkens ist also vermittelt durch Grundannahmen der rationalistischen Philosophie und gewissermaßen bereits ihr Produkt: „In der Vorstellung einer geheimen, ‚hinter den Kulissen‘ ausgeübten Macht, die sich in den Händen weniger Menschen vereinigt und es ihnen ermöglicht, mit überlegener Bosheit unsichtbar die Geschicke der Menschen zu lenken, in solchen Konstruktionen des ‚Geheimen‘ mischt sich ein rationalistischer Glaube an die bewusste Herrschaft des Menschen über die geschichtlichen Ereignisse mit einer dämonisch-phantastischen Angst vor einer ungeheuren, sozialen Macht und oft noch mit dem säkularisierten Glauben an eine Providenz“, schreibt Carl Schmitt über die geistesgeschichtliche Lage des ausgehenden 18. Jahrhunderts in seiner Abhandlung Politische Romantik (Schmitt 1998, 88). Dass noch der Kronjurist des „Dritten Reichs“ Verschwörungstheorien treffender beschrieben hat als das heutige Feuilleton und ein Großteil dessen, was inzwischen aus den Sozial- und Geisteswissenschaften geworden ist, sagt über diese allerdings mehr aus als über Schmitt.
Zollt demnach die ursprüngliche Gestalt der antibürgerlichen Verschwörungstheorie dem rationalistischen Ideal einer bewussten und vernunftgeleiteten Beherrschung der Welt ihren Tribut, so nimmt im Laufe des 19. Jahrhunderts umgekehrt das bürgerliche Denken Momente des Obskurantismus in sich auf: Die Dialektik der Gegenaufklärung fusioniert mit der Dialektik einer gegen sich selbst blinden Aufklärung.
Die unabweisbar werdende Erfahrung der Bürger, selbst als tonangebende Klasse einer geheimnisvollen Macht ausgeliefert zu sein, die Erfahrung vor allem der unheilbaren Krisenhaftigkeit der von ihr dominierten Ordnung straft die Annahme Lügen, die Befreiung der bürgerlichen Ordnung aus den Fesseln feudaler Herrschaft bedeute die Abschaffung von Herrschaft überhaupt – und übersteigt zugleich die Grenzen des bürgerlich-rationalistischen Verstandes: Weil dieser sich Herrschaft immer nur nach dem Muster des Feudalismus, d.h. als direkte Herrschaft einiger Weniger vorstellen kann, kann die wesentlich abstrakte und subjektlose Macht des Kapitals nur personalisiert und konkretistisch vorgestellt werden. Die „unsichtbare Hand“ des Marktes wird als angebliche Macht der Freimaurer und Juden fassbar gemacht. In der nunmehr bürgerlichen Verschwörungstheorie vertritt die obskurantistische Annahme einer rätselhaften Macht ein rationales Moment: weil darin die Erkenntnis aufscheint, dass das Kapital tatsächlich ein „sinnlich-übersinnliches“ Subjekt darstellt – während die ursprünglich rationalistische Idee einer sich in bestimmten Grenzen vollziehenden Selbstbestimmung der Menschheit sich ins blanke Gegenteil verkehrt: in die pathisch projektive Vorstellung von der Allmacht, der totalen Herrschaft und dem grenzenlosen Ausbeutertum einer verschworenen Elite. Was aber der pathisch Projizierende den Juden vorwirft, begehrt er insgeheim selbst: „Im Bild des Juden, das die Völkischen vor der Welt aufrichten, drücken sie ihr eigenes Wesen aus. Ihr Gelüst ist ausschließlicher Besitz, Aneignung, Macht ohne Grenzen, um jeden Preis“. (Adorno/Horkheimer 2016, 177) Auch Hannah Arendt hat das verschwörungsantisemitische Denken unter dem Gesichtspunkt analysiert, dass der Antisemit insgeheim das von den Juden begehrt, was er ihnen in seiner Propaganda unterstellt: Die Nationalsozialisten, so Arendt, bedienten sich der Protokolle der Weisen von Zion als „eines Hausbuches für die künftige Organisation deutscher oder arischer Massen für die Errichtung eines Weltreiches“. (Arendt 1986, 568) Die unerhellte Ratio des bereits im Verfall begriffenen Aufklärungszeitalters schlägt also insofern in Irrationalismus um, als sie den Unterschied zwischen dem Weltgeschehen und ihrem eigenen Begriff davon, der auf die Vorstellung unbegrenzter Macht hinausläuft, nur noch darin zu verstehen imstande ist, dass sie diese Macht auf eine als klandestin imaginierte Clique projiziert, um sich diese vermeintliche Macht durch Ausschaltung ihrer Inhaber zuzueignen. Selbst noch in dieser irrationalistischen Verfallsform lebt aber die in blinde Abwehr verkehrte Vorstellung eines die Welt beherrschenden Logos fort.
Die Vertreter solcher heute objektiv anachronistischen Verschwörungstheorien beanspruchten für sich, eine Wahrheit zu kennen, derer das Individuum nicht durch Anwendung wissenschaftlich überprüfbarer und begrifflich bestimmbarer Kriterien habhaft werden kann – Wahrheit und Unwahrheit werden vielmehr rein willkürlich, nach Meinen und Dafürhalten unterschieden. Im Gegensatz dazu beansprucht die heute wichtigste Formel zur Welterklärung namens Antirassismus für sich, weder eine verborgene Wahrheit noch die Kriterien zu ihrer Ermittlung zu kennen. Stattdessen erklärt sie Wahrheit und jeden anderen unteilbaren Begriff wie Zivilisation, Geschichte, Schönheit oder Geschlecht zum Resultat einer neu entdeckten großen Verschwörung: der Aufklärung. Der postmoderne Dogmatiker ist ebenfalls ein Verschwörungstheoretiker, der aber die Vorstellung von universeller Wahrheit, rationaler Beherrschbarkeit der Welt und schließlich der Vernunft selbst als anmaßend und kolonialistisch verwirft – Wahrheit wird zu einer Frage der Bewertung anhand erfundener kollektiver Identitäten und Narrative.
Einer ähnlichen Abwehr von Vernunft und Kritik folgt auch die seit der „Corona-Krise“ zum Volkssport gewordene Warnung vor Verschwörungstheoretikern: Statt das Unbehagen an politischen Entscheidungen wie den Maßnahmen der Bundesregierung zur Pandemiebekämpfung von dessen ideologischer Verarbeitung zu unterscheiden, wird schlichtweg schon dieses Unbehagen selbst für tendenziell paranoid, womöglich antisemitisch erklärt, womit man es vermeidet, sich mit dem Unbehagen oder mit dem realen Antisemitismus dann weiter auseinandersetzen zu müssen. Der offene Antisemitismus von Personen wie Attila Hildmann, einem veganen Fernsehkoch, der zur Gallionsfigur des extremen Rands der Proteste gegen die Corona-Maßnahmen avanciert ist, gelegentlich Hitler zitiert und überzeugt ist, dass Bill Gates und andere Zionisten die Menschheit zwangsimpfen wollen (tagesspiegel.de, 19.6.2020), springt ins Auge. Die Proteste der „Corona-Rebellen“, die aber abgesehen von Stuttgart und einmalig Berlin in den meisten Städten schon zahlenmäßig kaum erwähnenswert gewesen wären, zogen eine Welle der Empörung und der Mahnungen nach sich, die, ginge es tatsächlich nur um den Kreis der Verrückten um Hildmann, völlig überzogen wirkt. Die gesamte deutsche Presse, einschließlich sogar der Jungen Freiheit (15.5.2020), warnte einhellig vor der Gefahr, die von den „Corona-Lügen“ ausgehe, die auf diesen Kundgebungen propagiert würden. Wie schon bei den „Pegida“-Demos Ende 2014 formierte sich angesichts der gegen die Corona-Maßnahmen gerichteten Proteste eine bis heute haltende Phalanx aus Medien und Politik, die gegen ein quantitativ unbedeutendes Phänomen aus allen Rohren feuert.
Gerade weil der verschwörungstheoretische Antisemitismus, aufgrund dessen etwa Xavier Naidoo von RTL als Juror für „Deutschland sucht den Superstar“ geschasst worden ist (welt.de, 12.3.2020), so offensichtlich ist, ist er im heutigen Deutschland nicht mehr mehrheitsfähig. Der ehemalige Leiter des Zentrums für Antisemitismusforschung an der TU Berlin, Wolfgang Benz (dlf.de, 7.3.2020), und der Antisemitismusbeauftragte des Landes Baden-Württemberg, Michael Blume (stuttgarter-zeitung.de, 5.5.2020), betrachten dennoch gerade solche Verschwörungstheorien, die ihre Affinität zum völkischen Antisemitismus nicht einmal zu verschleiern versuchen, als Urbild all dessen, was sie als irrationalistische Verarbeitung einer Krisenerfahrung deuten. Wer es wagt, nach dem Sinn der Corona-Maßnahmen der Bundesregierung zu fragen, ist demnach bereits Verschwörungstheoretiker und damit potentiell Antisemit. Laut Blume sind Verschwörungstheorien einfach die Folge eines schlechten Umgangs mit empfundener Unsicherheit in Krisenzeiten – Wissenschaft, Politik und Journalismus könnten keine schnellen Antworten liefern, weshalb eben dann an den Plan von Bill Gates geglaubt werde, die Menschheit im Auftrag der Rothschilds zu unterjochen (juedische-allgemeine.de, 18.5.2020). Mit anderen Worten: Wer nicht mit der Kaltschnäuzigkeit des universellen Chefarztes der Deutschen, Christian Drosten, oder gänzlich unbewegt, gleichsam buddhistisch in sich ruhend wie die Bundeskanzlerin die komplette Stilllegung des öffentlichen Lebens abnickt, sondern es wagt, mit Verunsicherung und Kritik zu reagieren, steht bei den neuen Verschwörungswarnern allein dadurch schon im Verdacht, im Garten ein KZ zu bauen oder, schlimmer noch: vielleicht sogar mit der AfD zu sympathisieren. Schon im März sah Blume Deutschland nicht etwa wegen des moslemischen Alltagsantisemitismus, sondern wegen Corona an der Schwelle zu antisemitischen Pogromen: „Zwar würden die Auswirkungen für Juden nicht so schlimm wie die der Pestpogrome, dennoch müsse die gesamte Bevölkerung wachsam sein und dem Einhalt gebieten, forderte Blume“. (pro-medienmagazin.de, 15.3.2020).
Oberste Qualifikationsanforderung für einen deutschen Antisemitismusbeauftragten ist es offenbar, Antisemitismus, der sich offen und gewalttätig ausagiert wie der moslemische, zu beschweigen oder zu bagatellisieren und überall dort, wo er sich unter bloß verbalen Äußerungen womöglich verstecken könnte, zur großen Gefahr zu erklären. Die Vorstellung, die dieses widersinnige und realitätsfremde Verhalten ermöglicht, ist die vom „strukturellen Antisemitismus“, die auch unter Antideutschen gang und gäbe ist und dem Dunstkreis antideutscher Debatten entstammt. Der Begriff, der Anfang der 1990er Jahre in Umlauf kam (s. etwa Postone in: Dan Diner (Hg.): Zivilisationsbruch. Denken nach Auschwitz, 1988; Brumlik et al.: Der Antisemitismus und die Linke, 1991), verdankt sich dem Versuch, Antisemitismus positiv beschreibbar zu machen, also gewissermaßen einen Kriterienkatalog zu erstellen, in dem der Antisemitismus in verschiedene Kategorien eingeteilt wird (offener Antisemitismus, struktureller, sekundärer etc.), um auf diese Weise ein gesellschaftliches Frühwarnsystem zu installieren, das Antisemitismus frühzeitig erkennt und auf diese Weise effektiv „den Anfängen wehrt“. Die Erfahrung, dass Antisemitismus sich auch an Ersatzobjekte heften und dadurch scheinbar unverdächtiger Gestalt daherkommen kann, führt dazu, Antisemitismus als eine abstrakt-allgemeine Form aufzufassen, die dem konkreten Antisemitismus vorgelagert sei, die etwa durch Merkmale wie „verkürzte Kapitalismuskritik“ (d.h. die „strukturell antisemitische“ Unterscheidung zwischen schaffendem und raffendem Kapital) oder „Verschwörungstheorie“ definiert wird. Erfüllt eine Äußerung diese abstrakten Formvoraussetzungen, dann ist sie eben „abstrakt“ oder „strukturell“ antisemitisch, während sie durch die Hinwendung zum Juden als Personifikation aller Übel dann konkret antisemitisch werde.
Unbestritten verändert sich der Antisemitismus im Laufe der Zeit und kann je nach historischen, geo- wie biographischen Umständen des Urhebers in sehr unterschiedlicher Gestalt erscheinen – so hat der durchschnittliche Antisemit in Europa etwa heute gelernt, nicht mehr von langnasigen Rothschilds zu sprechen und agiert seinen Judenhass deshalb vorzugsweise als „Israelkritik“ aus. Diese Erfahrung aber dergestalt zu verwissenschaftlichen, dass verschiedenste Erscheinungsformen im bürokratischen Generalnenner eines „strukturellen Antisemitismus“ aufgehen, führt zu deren Nivellierung, d.h.: Es lässt den Antisemitismus in seinen lediglich zusammenaddierten Erscheinungsformen aufgehen und macht jede qualitative Unterscheidung zwischen dem konkreten Judenhass und seinen Verarbeitungs- und Verschiebungsformen nahezu unmöglich. Auf diese Weise wird der Begriff des Antisemitismus inflationiert und damit entwertet.
Aber wie so oft ist das Manko der Theoriebildung gerade ihr praktischer Vorzug: Denn unter einen derart dehnbaren Antisemitismusbegriff lassen sich zusammen mit tatsächlich antisemitischen Haltungen nun bedenkenlos auch alle Äußerungen subsumieren, die je nach politischer Konjunktur als inopportun, illegitim oder einfach missliebig gelten; so unterschiedliche Phänomene wie die Protokolle der Weisen von Zion und die Behauptung, Corona sei nur ein Vorwand, um Grundrechte einzuschränken, gelten dann gleichermaßen als antisemitisch. Nivelliert wird dadurch aber nicht nur der Unterschied von tatsächlicher Judenfeindschaft und ihren Verschiebungsformen, sondern auch die Grenze zwischen antisemitischer Ideologie und Praxis, zwischen verbalen Äußerungen und der wirklichen Tat. Aber auch aus diesem Manko erwächst ein Vorteil, weil es erlaubt, den Antisemitismus wie eine „politisch unkorrekte“ Gesinnung zu behandeln, die deshalb mit unermüdlicher Akribie und zum Teil grotesken Verrenkungen gerade an verbalen Äußerungen aufgespürt wird und vorzugsweise an solchen, wo Antisemitismus mit der Lupe gesucht werden muss, während man den Gehalt von auf den ersten Blick als antisemitisch erkennbaren Taten zugleich abstreitet und mit windigen Argumenten entschuldigt – wie etwa der schon erwähnte Wolfgang Benz Angriffe auf Kippa tragende Juden in Berlin als „jungmännertypisches Machtgebaren“. (https://twitter.com/MoritzMichelson/status/1285194091182067718.) Aus dem Begriff des Antisemitismus wird auf diese Weise eine Allzweckwaffe, die sich im Verdrängungswettbewerb professioneller Hysteriker, die mit moralischem Verdächtigen und Erpressen ihr Geld verdienen, wirkungsvoll einsetzen lässt. Und aus Ideologiekritik, die in der gedankenlosen Phrase – und eben nicht generell „in der Sprache“, wie es immer wieder heißt! – lauernde Gewalt benennt, noch bevor einer wirklich zuschlägt, wird ein universeller Gesinnungsverdacht, der es auch Antideutschen ermöglicht, im florierenden Verdächtigungsgewerbe zu reüssieren.
Dabei gibt es auf die Frage, was den Antisemitismus ausmacht, eine einfache Antwort – allerdings eine, die sich weder zu einem wissenschaftlichen Kriterienkatalog objektivieren noch für politische Zwecke nutzbar machen lässt – die aber umgekehrt eine Selbstreflexion auf die stillschweigend angenommenen Voraussetzungen wissenschaftlichen Denkens und politischen Handelns erzwingt. Die Antwort haben Horkheimer und Adorno in den Elementen des Antisemitismus gegeben, wo Antisemitismus als „rationalisierte Idiosynkrasie“ sowie als „pathische Projektion“ bestimmt wird. Antisemitismus ist, wenn keine Wahrnehmung mehr stattfindet, sondern der „unerhellte Trieb“ ohne den Umweg des Denkens mit wahrnehmbaren Momenten der Außenwelt sich kurzschließt und diesen Kurzschluss dann, gerne auch mit wissenschaftlichen Mitteln, zurechtrationalisiert – und ein untrügliches Indiz für diesen Ausfall von Wahrnehmung und denkender Vermittlung ist die Stereotypie, Phrasenhaftigkeit und Schlagworthaftigkeit des Denkens und Redens.
Aus dieser Einsicht lässt sich im Grunde nur jene Konsequenz ziehen, wie sie in einem sprichwörtlich gewordenen Urteil des amerikanischen Supreme Court über Pornographie ausgedrückt ist: „I know it when I see it.“ Um Antisemitismus zu erkennen und ihm entgegenzutreten, braucht man kein erklügeltes Frühwarnsystem mit Checkliste, sondern es braucht beim Erkennenden genau jene Momente, die in der antisemitischen Weltanschauung sich wahnhaft verselbständigt haben: das idiosynkratische „Anspringen“ auf Phänomene der Außenwelt – sprich hier: das Abgestoßenwerden von antisemitischen Äußerungen und Taten – und die „überschießend“ projektive bzw. philosophisch ausgedrückt: spekulative Vorwegnahme des antisemitischen Syndroms, bevor es in allen Einzelheiten erforscht ist. Ohne den idiosynkratischen Impuls und ohne das ungeschützte Projizieren wäre keine alltägliche Wahrnehmung möglich und erst recht keine wissenschaftliche Forschung; das Phänomen des Antisemitismus konfrontiert aber dessen Gegner notwendig mit den „irrationalen“ bzw. „unbewussten“ Anteilen der eigenen, rationalen theoretischen Erkenntnis, die in der institutionalisierten Wissenschaft eifrig verleugnet werden – und lässt umgekehrt jeden wissenschaftlichen Zugriff auf ihn, der diese Verleugnung aufrecht erhält, als so ungenügend und lächerlich erscheinen, wie er es tatsächlich ist. Am Antisemitismus wird offenbar, dass eine Vernunft, die ihre „irrationalen“ Voraussetzungen nicht wahrhaben will, ihrem Anspruch nicht gerecht wird – und dass umgekehrt der Antisemitismus, der es dem Subjekt erlaubt, diese Momente blind auszuagieren und sie mit wissenschaftlichem Brimborium zu rationalisieren, die Kehrseite dieser halbierten Vernunft darstellt.
D.h. die notwendige Bedingung, um Antisemitismus auf den Begriff zu bringen, ist die idiosynkratische, nicht weiter begründbare Ablehnung antisemitischer Phänomene – und die hinreichende Bedingung die denkende Vermittlung von vor- und zurückgreifender Spekulation mit dem Grenzen setzenden Begriff im Prozess des Erkennens. Der antisemitische Gehalt von Aussagen und Taten lässt sich nur demonstrieren bzw. kritisieren – ihn wissenschaftlich „beweisen“ zu wollen, ist ungefähr so aussichtsreich wie dasselbe bezüglich der Hässlichkeit eines Misthaufens zu versuchen. Denn dabei wird im Ansatz schon unterstellt, es handele sich beim Antisemitismus um einen widerlegbaren Irrglauben und damit um eine Gestalt des Denkens, deren Behauptungen sich logisch oder empirisch falsifizieren ließen. Aber der Antisemitismus ist eine Weltanschauung und er markiert genau den Punkt, wo eine – zweifellos dem Kapitalfetisch entspringende – Denk-Form in den entgrenzten, sprich formlosen Wahnsinn umschlägt; die Formlosigkeit des Antisemitismus ist dabei nur ein anderer Ausdruck für den kompletten Ausfall von Wahrnehmung und Realitätssinn.
Die Kritik des Antisemitismus restlos verwissenschaftlichen zu wollen, wie es im Konzept eines „strukturellen Antisemitismus“ zum Ausdruck kommt, bedeutet daher nicht nur die Preisgabe jedweder Kritik bzw. effektiver Gegnerschaft zum Phänomen, weil es die antisemitische Gegenaufklärung begrifflich nicht erreicht und ihr deshalb nichts entgegenzusetzen weiß – es ist in der blinden Verstocktheit gegen die Selbstreflexion wissenschaftlichen Denkens letzten Endes selbst ein gegenaufklärerisches Verhalten. Die Rede von einem „strukturellen Antisemitismus“ verdeckt das, was sie zu erhellen behauptet: die Differenz zwischen dem idiosynkratischen Impuls, der spekulativen Struktur des antisemitischen Weltbildes und dem manifesten Antisemitismus, der in der Konsequenz zumindest virtuell auf die Judenvernichtung hinausläuft. Die Vorstellung von allgegenwärtigen dunklen Mächten mit geheimen Riten dürfte ihren ohnehin nur noch geringen Publikumserfolg heute eher der Naivität einiger Konsumenten entsprechender Produkte der Kulturindustrie zu verdanken haben, als dass sie etwas über antisemitische Dispositionen in der Bevölkerung aussagt. Die Abneigung gegen jegliche Kritik, die sich seitens der Gegner der „Hygiene-Demos“ scheinbar nur gegen dort vertretene Verschwörungstheorien, letztlich aber gegen jede Einsicht in den Zusammenhang von Spekulation und Erkenntnis richtet, zeugt demgegenüber gerade bei denen, die sich rational und realitätstüchtig vorkommen, von einem kollektiven Ressentiment gegen Selbstreflexion, das dem antisemitischen Impuls tatsächlich nahe ist. Wer über offensichtliche Sachverhalte wie moslemischen Antisemitismus kein Wort verliert, aber eine Linie von den Pestpogromen über Auschwitz bis zu Ken Jebsen zieht, betreibt de facto oder mit Überzeugung das Geschäft der Gegenaufklärung – aber er wird heutzutage dafür nicht wie die verhassten Alu-Hüte ausgelacht oder institutionell neutralisiert, sondern zum Antisemitismusbeauftragten ernannt.
Hierin zeigt sich die Funktion, die die „Hygiene-Demos“ für die wohlmeinenden Ökobürger erfüllen: Sie sind der willkommene Anlass, nicht nur die Differenz zwischen tatsächlichem antisemitischen Verschwörungswahn und dem Unbehagen am Bestehenden zu verwischen, sondern auch all diejenigen zu diskreditieren, die im Krisenzustand weiterhin auf einer meinungspluralistischen Debatte und auf der Notwendigkeit von öffentlicher Redefreiheit beharren. So musste sich etwa Hamed Abdel-Samad den Vorwurf anhören, ein Verschwörungstheoretiker zu sein, als er sich mit dem Schild „Im Zweifel immer Freiheit” vor das Brandenburger Tor stellte und diese Aktion mit den folgenden Worten kommentierte: „Wir sind Bürger dieses Landes, keine Untertanen. Wir halten uns an die Regel, aber wir dürfen diese Regel infrage stellen. Die erste Aufgabe des Staates ist aus unserer Sicht, die Freiheit der Bürger zu schützen [...] Wir sagen laut und deutlich: Im Zweifel immer Freiheit!” (Facebook-Post vom 2. Mai). Dabei stellt sich das Problem – und das wäre trotz aller Sympathie für Abdel-Samad einzuwenden –, dass die durch die Corona-Pandemie ausgelöste Gesundheitskrise rechtlich gesehen eine neue Situation geschaffen hat, die von den politisch Verantwortlichen nicht vorausgesehen werden konnte. Während in anderen Krisen, die öffentliche Gesundheit betreffend, zumeist zwischen zwei einigermaßen bekannten Größen abgewogen werden kann (z.B. zwischen dem Risiko einer Masseninfektion durch verunreinigte Lebensmittel und den Rechten des Herstellers, die durch eine amtliche Warnung vor seinen Produkten verletzt sein könnten), und die Frage der Angemessenheit möglicher Gegenmaßnahmen (nach dem Verhältnis zwischen den Rechtsgütern, die durch den Eingriff geschützt werden, und denen, in die eingegriffen wird) auf dieser Basis beantwortet werden kann, galt dies anfangs für Corona nicht.
Solange nicht klar ist, welche Langzeitschäden von dem Virus verursacht werden, oder was es mit dem teils dramatischen, teils milden Verlauf genau auf sich hat, solange also weder der Umfang des möglichen Schadens feststeht noch die Wahrscheinlichkeit, mit der mit ihm zu rechnen ist, findet auch die Abwägung zwischen Gesundheitsschutz und Freiheitsrechten im luftleeren Raum statt. Hinzu kommt, dass in der Gefahrenabwehr der mögliche Schaden mit größerer Sicherheit erst nachträglich und nur hypothetisch ermittelt werden kann, also hier nur durch die statistisch hochgerechneten Todesfälle, die durch die Maßnahmen verhindert worden sind. Ob in den westeuropäischen Metropolen durch die Corona-Maßnahmen bis Anfang Mai circa 3,1 Millionen Menschenleben gerettet worden sind (welt.de, 8.6.2020), kann – da es sich um das Ergebnis hypothetischer Ex-post-Abschätzungen handelt – weder bewiesen noch widerlegt werden. Dass die Fans der Präventionsgesellschaft sich angesichts von Corona genauso wie die „Corona-Rebellen“, nur mit wesentlich größerer öffentlicher Zustimmung, auf zu empirischen Fakten aufgenordete Hypothesen berufen, verweist darauf, wie ähnlich sich beide Fraktionen, so vehement sie einander zu Gegnern erklären, in der Verwechslung von Spekulation und Empirie sind. Während manche „Corona-Rebellen“ eine Faschisierung der Gesellschaft unter dem Deckmantel der Hygienepolitik behaupten oder die Pandemie zu einem ideologischen Betrug interessierter Kreise erklären (etwa auf der Website der Gruppe Z am 5.4.2020), machen die Hygienefans in jedem, der ihren Appellen zur eigenverantwortlichen Achtsamkeit widerspricht, einen Euthanasie-Anhänger aus. Dass beide Seiten sich in der (durch den zeitweiligen Lockdown ohnehin weitgehend sistierten) öffentlichen Diskussion kaum anhören, was die jeweils andere zu sagen hat, und sich darauf kaprizieren, aus ihren notwendig vorläufigen Meinungen eine solide Weltanschauung zu basteln, bezeugt, wie weit der Verfall der politischen Ratio mittlerweile fortgeschritten ist.
In der Unfähigkeit zur Unterscheidung zwischen objektiven und subjektiven Anteilen von Erkenntnis, zwischen Empirie und Spekulation, ähnelt der Schlagabtausch in Sachen Corona-Maßnahmen der Frontstellung in puncto „Antirassismus“ und kulturelle „Diversität“, mit deren wahnhafter Energie sich die Gesundheitsdiskussion in Deutschland so auflädt, dass man den Eindruck gewinnt, hier werde ein älteres und längst im Spielplan verankertes Stück mit veränderten Inhalten aufgeführt. Die Methode, antiaufklärerischen Wahn im Gewande reputabler Wissenschaft vorzutragen und umgekehrt alle, die sich üblichen wissenschaftlichen Standards verpflichtet sehen, als Anhänger der größten Verschwörung namens Aufklärung zu brandmarken, bleibt gleich, während die konkreten Inhalte und Anlässe austauschbar sind. Den komplett freidrehenden Aberglauben der Diversity-Freunde veranschaulicht hat die als „Grievance Studies Affair“ bekannt gewordene Aktion dreier US-Wissenschaftler, die von 2017 bis 2018 unter wechselnden Pseudonymen 20 frei erfundene Quatsch-Artikel bei akademischen Fachzeitschriften in den Gender Studies und vergleichbaren, von ihnen später als „Grievance Studies“ („Beschwerde-“ oder „Quengelforschung“) bezeichneten Disziplinen einreichten, um deren Evaluationsverfahren zu überprüfen (Pluckrose, Lindsay, Boghossian: Academic Grievance Studies and the Corruption of Scholarship, 2018). Einer dieser Artikel bestand aus einem Kapitel von Hitlers Mein Kampf, in dem das Wort „Jew“ durch „White“, und „Jewish“ durch „Whiteness“ ersetzt wurde – der Text erhielt zustimmende Rückmeldungen. In einem anderen Kapitel von Mein Kampf wurden die gleichen Begriffe mit „men“ oder „patriarchy“ ersetzt; dieser Text wurde, wie etliche andere, tatsächlich veröffentlicht. In einem weiteren Text wurde von einer Rape Culture auf Hundespielplätzen gesprochen, wobei ca. 10.000 Hundepenisse untersucht worden seien. Dieser Text wurde nicht nur veröffentlicht, sondern sogar von der veröffentlichenden Zeitschrift als besonders lesenswert hervorgehoben (wobei in einer der Rückmeldungen zuvor Bedenken geäußert worden waren, ob denn die Privatsphäre der untersuchten Hunde ausreichend gewahrt worden sei). Eines der absurdesten Fakes war ein Text, in dem gefordert wird, männliche weiße Schüler im Unterricht als Strafe für die Sklaverei (und als Therapie für ihren inhärenten Rassismus) nicht sprechen zu lassen, sondern sie in der Mitte des Raumes auf dem Boden anzuketten. Das Peer Reviewing ergab, dass eine Überarbeitung notwendig sei, allerdings nicht aus inhaltlichen Gründen. Was die drei Wissenschaftler Peter Boghossian, James A. Lindsay und Helen Pluckrose gezeigt hatten: Selbst die eigenen lächerlich niedrigen redaktionellen Standards der von ihnen vorgeführten postmodernen Disziplinen waren gleichgültig, solange das Ergebnis in das bestehende ideologische Raster passte. Wenn die einzige formelle Voraussetzung der Konsens ist, geht jegliche Vernunft verloren, sobald eine kritische Masse an Irren erreicht worden ist, die ihren Irrsinn allen anderen aufzwingen.
Die Autoren bezeichnen die Disziplinen der „Quengelforschung“ als modernen Hexenkult, deren Anhänger mit einem Säuberungseifer stalinistischer Ausmaße gegen Abweichler vorgehen. Belegt wurde diese These durch ein Fake, das der Aktion unter Verweis auf die Sokal-Affäre den Beinamen „Sokal Squared“ einbrachte: Der Text beschäftigte sich mit der These, dass akademische Scherze („Hoaxes“) oder andere Formen satirischer oder ironischer Kritik an denjenigen Geisteswissenschaften, die sich mit sozialer Gerechtigkeit („social justice“) befassen, unethisch sind, von Unwissenheit geprägt und auf dem Wunsch beruhen, Privilegien zu bewahren. Das Ziel des in einem führenden amerikanischen „Magazin für feministische Philosophie“ namens Hypatia veröffentlichten Artikels war es, die Argumente gegen das Projekt vorwegzunehmen und sie mit sich selbst zu widerlegen: Die zu erwartende Reaktion auf den Text, also Ausgrenzung und Hysterie, waren in dem Hoax-Text vorab so genau beschrieben worden, dass jede kritische Replik ihn eigentlich hätte zitieren müssen. Diese Reaktionen blieben nicht aus. Peter Boghossian erhielt ein Redeverbot seiner Uni auferlegt, alle drei Autoren hatten mit erheblichen Angriffen von Kollegen und ihren Unis zu kämpfen. Alles, weil sie es gewagt hatten, des Kaisers neue Kleider zu benennen.
Mag man sich auf dem Gebiet von Genderforschung und verwandten Gebieten noch fragen, wen eigentlich interessiert, was da veröffentlicht wird – wenn diese Arbeitsweise die Geschichtswissenschaft erreicht, ist Vorsicht angebracht: Zwar ist diese, ähnlich wie die Juristerei, resistenter gegen die Propaganda der „Grievance Studies“, weil sie stärker an dem Ideal von Objektivität orientiert ist als etwa die Politik- oder gar die Kulturwissenschaft. Setzt sich aber einmal der postmoderne Wortsalat durch, übernimmt einmal die Willkür der Definitionsmacht, wird es bedrohlich. Wenn Geschichte auf dieselbe Weise gefiltert wird, wie man es vorher mit Geschlecht, Sexualität, Gesellschaft getan hat, wenn also, was geschehen ist, sich nicht länger danach bestimmt, was am wahrscheinlichsten ist und sich aus den Quellen ergibt, sondern danach, was gerade opportun ist, dann zerfällt die politische ebenso wie die alltägliche Wirklichkeit. Ist nicht die Bewertung des Vergangenen, sondern das Vergangene selbst, also sein Inhalt verhandelbar, gibt es keine Geschichte mehr. Nikole Hannah-Jones, die Gründerin des antirassistischen „1619 Project”, hat die Stellung der postkolonialen Ideologie zur historischen Wirklichkeit auf den Begriff gebracht, indem sie verkündete, dass die Schwarzen vor Kolumbus auf dem amerikanischen Kontinent angekommen seien, um in friedlicher Kooperation mit den dortigen Ureinwohnern indigene Menschenopfer-Pyramiden auf dem Gebiet des heutigen Mexiko aufzubauen, während Kolumbus als Gesamtrepräsentant der teuflischen weißen Rasse nicht besser als Hitler gewesen sei (thefederalist.com vom 25. Juni). Man schiebt dem Engel der Geschichte also einfach einen anderen Trümmerhaufen hin, in der Hoffnung, dass er es nicht merkt.
In der Vorrede zur Deutschen Ideologie schreiben Marx und Engels: „Ein wackrer Mann bildete sich einmal ein, die Menschen ertränken nur im Wasser, weil sie vom Gedanken der Schwere besessen wären. Schlügen sie sich diese Vorstellung aus dem Kopfe, etwa indem sie dieselbe für eine abergläubige, für eine religiöse Vorstellung erklärten, so seien sie über alle Wassersgefahr erhaben. Sein Leben lang bekämpfte er die Illusion der Schwere, von deren schädlichen Folgen jede Statistik ihm neue und zahlreiche Beweise lieferte. Der wackre Mann war der Typus der neuen deutschen revolutionären Philosophen.“ (MEW III, 13). Während zwischen diesem wackren Mann und dem Plebs aber noch Einigkeit darüber herrschte, dass es das Wasser gibt, hält der Antirassist das Wasser für eine Erfindung alter weißer Männer.
Dass die wirkmächtigen Antisemiten sich heute nicht hinter Alu-Hüten, sondern hinter antirassistischen, queerfeministischen und vermeintlich staatskritischen Parolen verstecken, zeigt sich gegenwärtig auch an Personen und Gruppen im Dunstkreis von Black Lives Matter im Hass auf die in der Präambel der Unabhängigkeitserklärung der Vereinigten Staaten verbriefte Gleichheit unter dem Gesetz. Beginnend in Minneapolis, wo George Floyd starb, wurden Statuen abgerissen, Häuser angezündet, Läden geplündert, während der Anlass, der Tod Floyds, immer weiter in den Hintergrund trat und die tatsächliche Datenlage zur angeblich durch und durch rassistischen Polizei der USA sowieso links der Zuschauer von Fox News niemanden mehr interessiert. Auch dass ein beträchtlicher Teil der Schwarzen in den USA diese antiwestliche Vernichtungswut nicht bereit ist mitzutragen, scheint im größten Teil der deutschen Medien kaum eine Erwähnung wert zu sein, während in den USA die Kritik der sicherlich kontroversen Candace Owens an Black Lives Matter zurzeit breit diskutiert wird. Während also die Aktivisten dieser Sekte, die sich für „schwarze Leben“ nur dann interessieren, wenn sie von Weißen beendet wurden, eine Art Hexenkult um die im Sinne von Malcolm X als Herrenrasse begriffenen Schwarzen betreiben, feiert mit der Auflösung der lokalen Polizeieinheiten in einigen amerikanischen Gemeinden auch die Hexenverfolgung einen neuen Höhepunkt, wenn Polizisten unabhängig von ihrer Hautfarbe angegriffen werden, nicht, weil sie den Plünderern irgendetwas getan hätten, sondern, weil sie als Repräsentanten einer verhassten Ordnung abgelehnt werden. Wer diese Ordnung bejaht, ist nach der Vorstellung der Critical-Whiteness-Forschung entweder tatsächlich weiß oder als „Nichtweißer“ von der weißen Gesellschaft korrumpiert.
Die autoritäre Staatsfeindschaft, wie sie sich im kulturalistischen Sturmlauf gegen den bürgerlichen Common Sense und in Riots wie denen in den USA, die dessen praktische Nutzanwendung sind, artikuliert, hat eine andere Trägerschaft und ist anders motiviert als die anarchoindividualistische Staatsfeindschaft von „Corona-Rebellen“. Dafür drückt sich im kulturalistisch-antirassistischen Wunsch, die staatlichen Institutionen auf dem Weg zu ihrer Selbstdemontage im Namen ethnifizierter Cliquen vor sich her zu treiben, den bürgerlichen Staat also mit seinen eigenen Mitteln zu entmächtigen, ein Bedürfnis aus, das der Absicht der Hygiene-Fans, der Staat möge den Schutz individueller Freiheiten zugunsten eines Regimes permanenter Selbstbeaufsichtigung der Bürger hintanstellen, näher ist als den Kritikern gesundheitspolitischer Präventionsmaßnahmen. Diese nämlich berufen sich zumindest in den USA und in Großbritannien (in schroffem Gegensatz zu deutschen „Corona-Rebellen“) auf die konstitutive Bedeutung, die Versammlungsfreiheit, Bewegungsfreiheit und freier öffentlicher Austausch für eine liberale Demokratie haben, nehmen also für sich in Anspruch, den staatlich garantierten Schutz individueller Freiheitsrechte gegen die staatlichen Institutionen selbst zu verteidigen. In Deutschland jedoch, das in puncto Corona wieder einmal einen „dritten Weg“, diesmal zwischen staatlich verordneten und kontrollierten Präventionsmaßnahmen wie in Österreich und dem als verantwortungslos gebrandmarkten schwedischen Weg gehen will und auf die Selbstverwandlung der Bürger in eigenverantwortliche Virenbekämpfer setzt, verstehen sich die „Corona-Rebellen“ nicht minder als die Vertreter der Hygiene-Fraktion buchstäblich als Ein-Personen-Staaten, als zivilgesellschaftliche Staatsagenten, die gegenüber dem Primat der Gesellschaft und der staatlichen Souveränität das Recht der aus lauter Mini-Souveränen formierten Gemeinschaft stärken wollen. Die heimliche Affinität der einander bekämpfenden Fronten findet ihren Ausdruck in der Besinnungslosigkeit, mit der beide Spekulationen zu Tatsachen und Tatsachen zu Spekulationen erklären.
Mit dem „Ende der großen Erzählungen“ des aufklärerischen Vernunftzeitalters (Lyotard) stellt sich die Frage, nach welchem Maßstab Kritik überhaupt noch möglich sein soll, wenn die Grenzen zwischen Verschwörungstheorie, Kritik und Empirie verschwimmen, weil die Vernunft als Mittel und Zweck der Gesellschaft zusehends ihre Segel streicht. Die Voraussetzung immanenter Kritik ist das Auseinanderfallen von Anspruch und Wirklichkeit in der Ideologie - die Kritik misst die Ideologie an deren eigenen Versprechen. Will man die Kritik retten, muss man sich zwangsläufig Gedanken darüber machen, woher sie ihren Maßstab nehmen soll, wenn ihr Gegenstand zerfällt.
Matthias Achersleben / Nathan Giwerzew / Clemens Nachtmann (Bahamas 85 / 2020)
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