Am 15. Dezember 1924 wurde Esther Loewy in Saarlouis als Tochter des Kantors und Lehrers Rudolf Loewy und seiner Ehefrau Margarete Loewy geboren. Esther hatte drei weitere Geschwister. „Obwohl die Massenmedien alle möglichen Lügen über die jüdische Bevölkerung verbreiteten“ (1), blieb die Familie Loewy im Saarland zunächst von den Auswirkungen der antisemitischen Politik Nazideutschlands verschont. (2) Mit dem Anschluss des Saarlandes an Deutschland, für den 90,5 Prozent der Saarländer bei der sogenannten Saarabstimmung im Jahr 1935 votierten, änderte sich das schnell. Esthers Vater war ein dekorierter Weltkriegssoldat und wie viele seiner jüdischen Kameraden auch Patriot. Die Flucht aus Deutschland war auch aus diesem Grund für die Familie Loewy zunächst keine Option. 1936 zog die Familie nach Ulm, wo die Eltern ein Jahr später entschieden, dass die beiden älteren Geschwister Esthers, Gerdi und Tosca, auswandern sollen. Der Bruder wanderte in die USA, die Schwester nach Palästina aus. 1938 schloss sich Esthers zweite Schwester Ruth einem Vorbereitungslager zur Auswanderung nach Palästina in Oberschlesien an.
Erst nach den deutschlandweiten antisemitischen Ausschreitungen im November 1938 verlor der Vater die Hoffnung, dass sich die politische Lage in Deutschland in naher Zukunft wieder normalisieren könnte. Er wurde verhaftet, drei Tage später aber als sogenannter „Halbjude“ freigelassen. (3) Esthers Schwester Ruth wurde von SA-Schergen misshandelt und floh nach Holland. Trotz aller Bemühungen scheiterten die Versuche Rudolf Loewys, mit dem Rest der Familie Deutschland zu verlassen. Die Mutter erkrankte aufgrund der sukzessive sich dramatisierenden Lebenssituation der gesamten Familie schwer, dennoch zogen beide Eltern mit ihrer einzig bei ihnen verbliebenen Tochter Esther nach Berlin. Dort besuchte Esther die Jugend-Aliah-Schule, um sich ebenfalls für die Auswanderung nach Palästina vorzubereiten. Von dieser Schule wurde sie weiter in ein Vorbereitungslager der zionistischen Organisation Sochnuth (Jewish Agency) geschickt. Nachdem 1941 alle Fluchtmöglichkeiten für Juden verschlossen waren, wurden die zionistischen Vorbereitungslager geschlossen. Die dort lebenden Juden wurden deportiert und zur Zwangsarbeit gezwungen. Während ihres Aufenthaltes im Zwangsarbeiterlager wurden beide Eltern nach Kowno, ihre jüngere Schwester Ruth nach Auschwitz deportiert. Sie alle wurden kurz nach ihrer Ankunft ermordet, wovon Esther erst nach dem Krieg erfuhr. Sie wurde am 20. April 1943 nach Auschwitz deportiert. Die Willkür und Launen einiger SS-Männer führten dazu, dass sie zunächst für das Lagerorchester abgeordnet und dann nach einer Erkrankung an Typhus in einer Krankenstation behandelt wurde. Im November 1943 wurde Esther von Lagerarzt Josef Mengele zur „Viertelariern“ erklärt und in das Frauenkonzentrationslager Ravensbrück zur Zwangsarbeit überstellt.
Wie viele andere Häftlinge bekam auch Esther das nahe Kriegsende mit: „Die Sowjets waren im Anmarsch auf Berlin. […] An den vielen Fliegeralarmen merkten wir, dass die Nazis bald ausgespielt haben würden. Ich freute mich über jeden Fliegeralarm.“ (4) Ende April sollte das Lager „evakuiert“ werden. Die KZ-Insassen wurden auf einen „Marsch“ ins Ungewisse geschickt. Kurz vor dem Eintreffen alliierter Truppen konnten Esther und weitere Häftlinge dem Kommando entkommen und wurden von US-Truppen bei dem mecklenburgischen Städtchen Lübsch aufgelesen. Zusammen mit ebenfalls heranrückenden sowjetischen Soldaten feierten die entkommenen Häftlinge das Ende des Naziregimes. Noch 1945 wanderte Esther nach Palästina aus.
Die Loewys wurden wie alle Juden, die dem Zugriff der nationalsozialistischen Verfolgung durch Auswanderung oder Flucht nicht entkommen konnten, zu Opfern der deutschen Vernichtungsmaschinerie. Nur die beiden älteren Geschwister konnten dieser durch rechtzeitige Emigration entkommen. Esther überlebte das Grauen lediglich durch Zufall, aufgrund willkürlicher Kategorisierungen und aufgrund der Willkür des SS-Personals. In seinem Werk „Ist das ein Mensch?“ beschreibt Primo Levi die Funktion und den Zweck der Todesindustrie. Man „wisse, daß sie [die Häftlinge] nur vorübergehend hier sind und daß in ein paar Wochen nichts weiter von ihnen übrig sein wird als eine Handvoll Asche.“ Das Überleben war für die Juden, auf die sich Levi ausdrücklich bezieht, nicht vorgesehen. Aus diesem Grund blieben von den Insassen der Todeslager „nur ein paar hundert; keiner von diesen war ein gewöhnlicher Häftling.“
Die Untergegangenen bildeten dagegen den „Kern des Lagers“, sie waren „die anonyme, die stets erneuerte und immer identische Masse schweigender marschierender und sich abschuftender Nichtmenschen.“ (5) Auch Esther Bejanaro schildert diese Erfahrung zunächst aus ihrer Sicht. Sie musste in Auschwitz völlig sinnlose Arbeiten verrichten, indem sie etwa Steine von der einen Seite eines Feldes auf die andere schleppte. Mit denen, die „schlapp machten“, hatte die SS kein Erbarmen. (6) Im Gegensatz zu Levi resümiert Bejanaro jedoch, dass sie und ihre Leidensgenossinnen zusammenhielten, „weil wir alle denselben Feind zum Teufel wünschten, die Naziverbrecher, die wir alle unendlich hassten.“ (7) Es habe auch keinen Hass zwischen den übrigen Häftlingen und den Orchesterspielerinnen gegeben. „Das hätte auch keinen Sinn gehabt, denn“, so Bejarano, „ob Musikant oder Kolonnenarbeiter, wir erlebten alle das Gleiche.“ (8)
Wenn Levi hingegen festhält, dass von jenen, die in die Vernichtungslager deportiert wurden, nur „die Ärzte übrig blieben, die Schneider, Flickschuster, Musiker und Köche, attraktive junge Homosexuelle und Freunde oder Landsleute irgendwelcher Lagerautoritäten; darüber hinaus besonders rücksichtslose, kräftige und unmenschliche Individuen, […]; und endlich diejenigen, die zwar keine besonderen Ämter bekleideten, aber vermöge ihrer Durchtriebenheit und Tatkraft stets imstande waren, mit Erfolg zu organisieren und demzufolge außer dem materiellen Nutzen und dem Ansehen auch noch Nachsicht und Achtung der Lagergewaltigen für sich buchen konnten“, dürfte er die Realität in den Todeslagern − den dort vielfach beschriebenen und von der SS bewusst herbeigeführten Kampf aller gegen alle und die Bedingungen des je individuellen Überlebens − treffender charakterisieren, als es Bejarano in ihren Erinnerungen vermochte.
Aus dem Überleben im Vernichtungslager, wie es Levi beschreibt, lassen sich − konträr zur deutschen Gedenkpolitik jüngeren Datums − weder moralisch aufgeladenen Schlussfolgerungen für eine bessere Gesellschaft ziehen, noch lässt sich irgendein gerne bemühter „Sinn der Geschichte“ ableiten. Der Zweck und auch das Ergebnis von Auschwitz und anderer Vernichtungslager war es, Juden auszulöschen. Die wenigen überlebenden Juden und auch die am 27. Januar 1945 herangerückte sowjetische Armee konnten das Geschehene nicht wieder rückgängig machen. Mit ihrer Vernichtung sollte gleichsam die Geschichte der europäischen Juden eliminiert werden. Die einzige Möglichkeit, als handelnde Subjekte wieder in die Geschichte einzutreten, war der Aufstand. Anders als diejenigen, die aufgrund von Zufällen oder der Willkür der Täter wegen überlebten, überlebten einige der Aufständischen in Sobibor, Treblinka wie auch in den Ghettos, weil sie versuchten, sich durch den Einsatz von Gewalt gegen die permanente Erniedrigung zu stemmen. (9) Der französische Jude, Resistance-Kämpfer und Filmemacher Claude Lanzmann beschreibt genau dies mit folgenden Worten: „Die Juden waren zum Untergang verurteilt, weil sie über keinen politischen Status und über keinen nationalen Staat verfügten. Sie waren überflüssig geworden, lebende Tote. […] Der Holocaust war nicht nur ein Massaker an Unschuldigen, sondern ein Massaker an Gewaltlosen. Ihre Gewohnheiten, ihre Kultur und ihre tausendjährige Tradition des Exils und der Verfolgung hat die Juden dazu gebracht, den Gebrauch von Gewalt, ja sogar den Gedanken an Gewalt aufzugeben.“ Im Aufstand in Sobibor sah Lanzmann eine Abkehr aus der bis dahin vorherrschenden Ohnmacht und Unterwerfung der Juden angesichts der übermächtig erscheinenden Vernichtungsmaschinerie. Im Aufstand von Sobibor sah Lanzmann die Wiederaneignung von Gewalt durch die Juden und eine Wende in der jüdischen Geschichte, die mit der Gründung des Staates Israels vollendet wurde. „Danach begann das Abenteuer der Freiheit: ein neuer Mensch war geboren. […] Dank der Existenz Israels, Dank der Armee verfügen die Juden heute wie alle anderen Völker über Instrumente und Mittel der institutionalisierten Macht.“ (10)
Über die Staatsgründung Israels verliert Esther Bejarano in ihren Erinnerungen keine Worte. Am Rande erwähnt sie, dass sie 1948 in die Armee eingezogen wurde. (11) In der israelischen Armee wurde sie als Musikerin in der Einheit „Musik und Kultur“ zur Unterhaltung der Soldaten in der israelischen Armee eingesetzt. Vage und äußerst knapp gerät die Schilderung des Krieges im Jahr 1948. Dass Israel schon in seinen Gründungsjahren, im Krieg gegen die zahlenmäßig weit überlegenen arabischen Armeen, mit dem Rücken zur Wand stand, erfährt der Leser ihrer Autobiografie nicht. Im Mittelpunkt ihrer Darstellungen ihres Lebens in Israel stehen ihre musikalische Tätigkeit im kommunistischen Ron-Chor und die im Jishuv und dann in Israel erfahrene Ablehnung kommunistischer Aktivisten oder Sympathisanten. Bewaffnete Aktionen gegen die britische Mandatsmacht jüdischer Untergrundkämpfer des Lechi, die sie als Rechtsradikale bezeichnet, kritisierte sie unter ihren Arbeitskollegen in einer Fabrik, worauf sie angeblich mit der Aussage konfrontiert worden sei: „Hitler hat vergessen dich zu vergasen.“ (12) Untrügliche Anzeichen von Rechtsorientierung attestierte sie auch denen, „die viel Ärger machten. Es passte ihnen nicht, dass wir neben der blauweißen Nationalfahne auch die rote Fahne trugen, wenn wir bei Veranstaltungen auftraten oder auf der Straße marschierten.“ (13) Solidarität und Anerkennung erfuhr sie laut Selbstauskunft hingegen als Musikerin in kommunistischen Staaten, die sie mit dem Chor bereiste, wodurch der Eindruck entsteht, linke Juden könnten im realexistierenden Sozialismus die ungestörte Freiheit finden, die Israel ihnen verwehrt habe. Bereits hier blendet Bejarano beharrlich aus, dass der Staat Israel eine Schutzmacht gegen den Antisemitismus ist, dessentwegen im Übrigen nicht wenige Juden die von ihr glorifizierten kommunistischen Staaten in Richtung Israel verlassen haben.
Im Kapitel „Weg von Israel“ erzählt die Autobiografin, dass sich ihr Mann Nissim Bejarano nach dem Sinai-Krieg entschlossen habe, „nie wieder in den Krieg zu gehen, nie wieder zu kämpfen. Das war kein Verteidigungskrieg mehr, das wollte er nicht mehr mitmachen.“ (14)
In ihren Schilderungen über Israel skizziert Esther Bejarano zugleich zwei Schwerpunkte ihres politischen Engagements: den Kampf gegen Rechts und den gegen den Krieg. Das Engagement gegen den Krieg implizierte auch in ihrem Fall von Beginn an das Bekenntnis gegen Israel. Was freilich auch heißt: kein Kampf gegen den Krieg, den die arabischen Nationen und die palästinensische Nationalbewegung seit den Fünfzigern mit der Sowjetunion und ihren Verbündeten, den kommunistischen Parteien, an ihrer Seite gegen Israel führten.
Sie und ihr Mann beschlossen, mit ihren beiden Kindern Israel zu verlassen und nach Deutschland auszuwandern. Im Land der Täter wurde sie nicht nur mit den eigenen Ambivalenzen konfrontiert, sondern auch mit Nazis, die nie behelligt wurden und ihren Kampf unter veränderten politischen Bedingungen fortzusetzen versuchten: „Ich sah die ersten Bahnbeamten in Uniform, ich sah einen deutschen Polizisten, und mein Herz begann heftig zu schlagen. Ich bekam eine panische Angst. Würde ich wirklich in diesem Land leben können? Könnte ich den Menschen trauen, die mir begegnen würden? Plötzlich hatte ich das Gefühl, meinen Mann, meine Kinder und mich ins Unglück zu stürzen. Plötzlich waren alle Schreckensbilder meiner Vergangenheit in der Nazizeit gegenwärtig.“ (15) Eine von den Bejaranos mitgegründete Diskothek wurde boykottiert, als die Bewohner der Kleinstadt erfuhren, dass die Mitinhaber Israelis waren. Ein NPD-Kader äußerte nach einer Protestaktion in Hamburg gegen den von ihm betriebenen Stand vor einem Polizisten: „Sie müssen sie einsperren, weil sie eine Verbrecherin ist, wenn sie in Auschwitz war, denn in Auschwitz waren nur Verbrecher.“ (16)
Als ihr Mann eine Verletzung erlitt, interpretierte sie die abweisende Reaktion des Arztes als Ausländerfeindlichkeit, die Ablehnung, bekennende Kommunisten in die USA einwandern zu lassen, als Zumutung und den Aktionismus der NPD als rohe Gewalt, die von der Polizei toleriert wurde. Doch weil in der BRD immer noch „zu viele Nazis herumlaufen“, konnte die BRD, wie Israel, das sie im gleichen Atemzug nennt, nicht ihre Heimat sein. (17) Esther Bejarano schloss sich der VVN-BdA an. (18) Hier erfährt Bejarano Anerkennung unter Gleichgesinnten, die zwar aus guten Gründen Antifaschisten waren, die jedoch das Spezifische des Nationalsozialismus hinter abstrakten Pathosformeln für den Frieden zum Verschwinden bringen: „Frieden und Antifaschismus gehören zusammen. Wer Antifaschist ist, kämpft automatisch für den Frieden“. (19) Der Weg zurück nach Deutschland hatte begonnen.
Am 10. Juli 2021 starb Esther Bejarano. Ihr persönlicher und politischer Weggefährte Rolf Becker (20) hielt die Grabrede, in der er ausführt, dass sie über Auschwitz lange geschwiegen hat. Auschwitz gehöre dem Grenzbereich des Nichtsagbaren, Unaussprechlichen zu. (21) Das Unaussprechliche aber existiere auch heute noch, „ohne dass Rauch aus den Verbrennungsöfen steigt“, und trotzdem gelte es „nie mehr schweigen, wenn Unrecht geschieht.“ Dieses Unrecht habe Bejarano, so Becker, in der Obdachlosigkeit, in den Rückführungsaktionen der Roma nach Serbien und ins Kosovo, in der Verweigerung der Aufnahme von Flüchtlingen, in rassistisch motivierten Anschlägen, in den Anschlägen und Aktivitäten von Nazis und in jeglichen Kriegsvorbereitungen gesehen. „Sätze, die zur Hinterlassenschaft geworden sind wie so vieles, was sie uns vorgelebt hat, unausgesprochener Auftrag, uns jeglichen Kriegsvorbereitungen, jedem Ansatz faschistischer Entwicklung zu widersetzen, ‚nie mehr zu schweigen, wenn Unrecht geschieht.’“ (22)
Und solches Unrecht verorten pathetisch politisierende Antifaschisten besonders dann, wenn sie der kommunistischen Bewegung und dem Frieden zugewandt sind, in Israel. Entsprechend kommt Becker in seiner Rede mit schlafwandlerischer Sicherheit auf Bejaranos Palästinasolidarität, denn „,Nie mehr schweigen, wenn Unrecht geschieht‘ – diese Aufforderung bezog Esther auch auf die Unterdrückung, Vertreibung und Ausgrenzung der Palästinenser.“ (23)
Der ganz und gar nicht zum Schweigen aufgelegte Becker ließ es sich auch nicht nehmen, einen gemeinsamen Brief zu zitieren, den er und Bejarano an Moshe Zuckermann anlässlich einer Veranstaltung mit dem Titel „50 Jahre israelische Besatzung“ geschrieben haben. (24) Gegen diese Veranstaltung, an der Norman Paech, Ilan Pappe, George Rashmawi (25), Jamal Juma (26) und andere mehr oder weniger namhafte Unterstützer der BDS-Kampagne teilnahmen, gab es damals Protest, den Becker natürlich als Verleumdung interpretiert. In dem auf der Grabrede zitierten Brief an Zuckermann wird, unter Bezugnahme auf den notorischen Erich Fried, „den Verleumdern“ (27) das in diesen Kreisen Obligatorische vorgeworfen, nämlich nicht „zwischen Kritik an der israelischen Regierung und der Verteidigung von menschlichen Rechten auf Leben zu unterscheiden“, und als Deutsche sich anzumaßen, „zu entscheiden, wer als Jude zu akzeptieren ist.“ (28) Becker nutzte kurzerhand die Grabrede dazu, einen Brief zu verlesen, in dem er und die verstorbene Holocaustüberlebende aus Israels Regierung Mörder machen, gegen die das Recht auf Leben zu verteidigen sei. Dass diese Geschmacklosigkeit keinem der versammelten Mahner und Warner übel aufstieß, muss indes nicht eigens erwähnt werden. Es ist vielmehr konstitutiv für das kommunistische und friedenbewegte Milieu in Deutschland, das weit über die Ostermarschierer hinausgeht, nicht nur keinen Begriff vom Antisemitismus zu haben, sondern diesen auch noch in seiner anti-israelischen Form seit Jahrzehnten mit den immergleichen Formeln aus der Mottenkiste des Antiimperialismus zu befeuern.
Der in diesem Brief zum Ausdruck kommende maßlose Hass der Bejarano und ihres Wahlverwandten auf Israel ist geradezu notorisch: „Meiner Meinung nach haben die Palästinenser das Recht, sich dem zu widersetzen, was die Israelis ihnen antun“, bewertete Bejarano in einem Interview mit The Electronic Intifada (29) die Aktionen der Hamas, Israel aus Gaza zu beschießen und mit gewalttätigen Aktionen zu versuchen, den Grenzzaun zwischen Israel und dem Gazastreifen zu überwinden. „Oder sollten sie einfach von den Israelis getötet werden? Sie [die Israelis, d.V.] sagen, die Hamas hätte ihre Raketen nach Israel geschossen hat [sic!] und sie [seien] für den Krieg verantwortlich“, führt sie im Konjunktiv aus, der suggeriert, dass es eigentlich anders sein müsse. Die Begründung der israelischen Regierung für die militärischen Maßnahmen gegen die Hamas seien daher auch „Ausreden Israels“, denn „wer hat denn damit angefangen? Nicht die Palästinenser. Es sind die Israelis, die die Palästinenser aus dem Land vertrieben haben.“ An anderer Stelle führte sie aus: „Ich dachte, dort [nach Israel, d.V.] gehöre ich hin. Dann begannen die vielen Kriege. Den ersten gegen das britische Mandat“ − den Angriffskrieg der arabischen Nationen unmittelbar nach der Unabhängigkeitserklärung am 14. Mai 1948 meinte sie nicht − „fand ich noch gerecht, aber dann kam Ben-Gurion, und es folgten nur noch Angriffskriege.“ (30)
Jungen Palästinensern, die sie vornehmlich als Opfer dieser israelischen „Angriffskriege“ adressiert, empfiehlt sie im pädagogischen Duktus nicht den Mut zur Kritik der eigenen Führung, sondern die Fortsetzung des antiisraelischen Engagements: „Ich möchte, dass ihr weitermacht, und ich hoffe, dass ihr bald euer eigenes Land haben werdet.“
Und so ging Bejarano, die in Deutschland noch in den Sechzigern und Siebzigern ein Gespür dafür hatte, wer die Täter sind und wo sie weitermachen, dazu über, das antifaschistische Vokabular gegen die israelische Regierung zu wenden. Dementsprechend denunzierte sie Benjamin Netanyahu und den ehemaligen Verteidigungsminister Avigdor Lieberman als Faschisten und Angriffskrieger. (31) Gegen diese faschistische Regierung sei dann nicht nur der Widerstand der Palästinenser, sondern auch eine Bewegung wie BDS (32) legitim. Die Frau, deren Unternehmen von der deutschen Bevölkerung in den sechziger Jahren boykottiert wurde, führt schließlich in vollendeter Perfidität und zur Freude gewiss nicht bloß linker Israelkritiker aus: „Wenn es hilfreich ist, der schrecklichen [israelischen d.V.] Politik etwas entgegenzusetzen, dann bin ich dafür. Weil ich erlebt habe, was Faschismus ist.“
Nachrufe für Esther Bejarano erschienen u.a. in der Jungen Welt, im Organ der stalinistisch-maoistischen und mit palästinensischen Terrorgruppen verbandelten MLPD Rote Fahne, in der Zeitung der DKP UZ, auf Internetseiten diverser Palästina-Solidaritätsgruppen und natürlich bei der VVN-BdA. Der stramme Antiimperialist Yavuz Özoguz fabuliert in seinem Beitrag der Wirklichkeit gänzlich entrückt: „Somit erweist Esther Berjano [sic!] allen Wahrheitsliebenden auch mit ihrem Ableben noch einen wichtigen Dienst: Sie beweist, wie sehr die manipulierten deutschen Medien dem Zionismus dienen.“ (33)
In der Jüdischen Allgemeine führen Franziska Hein und Sebastian Stoll aus, warum Bejarano auch bei den „antirassistischen“ Linken ankommen konnte: „Wenn sie über die letzten Kriegstage sprach“, heißt es dort, „erzählte sie von ihrer panischen Angst vor der Ostsee. Als die Alliierten immer näher rückten und die Befreiung schon in greifbarer Nähe war, zwangen die Nazis sie und weitere Häftlinge aus Ravensbrück in einen ihrer berüchtigten Todesmärsche. Wer nicht mehr gehen konnte und auf den Boden sackte, wurde erschossen. Es ging nach Norden, geradewegs auf die Ostsee zu, habe sie damals geglaubt. ‚Ich dachte, sie werden uns dort rein treiben und sterben lassen‘, erinnerte sich Bejarano. Bejarano besuchte seit mehr als 30 Jahren Schulen und führte Zeitzeugengespräche mit Jugendlichen. [...] Die Erinnerung an die Angst blieb. Und die kam zuletzt wieder hoch, wenn sie die Situation der Flüchtlinge auf dem Mittelmeer sah: ‚Das ist das erste, was ich denke, wenn ich in den Nachrichten ein Flüchtlingsboot sehe: Die wollen uns ertränken‘, sagte sie vergangenes Jahr.“ (34) Wenn eine Auschwitzüberlebende den unmittelbaren Bezug von denjenigen, die aus unterschiedlichen Gründen den lebensgefährlichen Weg in das sich zunehmend abschottende Europa suchen, zu denjenigen herstellt, die von der beabsichtigten Vernichtung durch Zufall verschont geblieben sind, und dies auch noch mit den eigenen Erfahrungen auf dem Todesmarsch in Verbindung bringt, dann entzückt sie damit naturgemäß postmoderne Antirassisten. Insbesondere jene, die sich zwar gerne vom Antizionismus der Altvorderen distanzieren, aber, indem sie in den Flüchtlingen und Einwanderern aus dem Maghreb und dem Nahen Osten, die schlicht zu Moslems deklariert werden, nur Verfolgte sehen möchten, dazu beitragen, dass auch sie Deutschland als Land der wieder Gutgewordenen deklariert sehen möchten, um so mit um so mehr Verve in den USA, dem Westen oder in der Aufklärung und Zivilisation die Ursache allen Elends und Unterdrückung und schließlich in den Moslems die Juden von heute sehen zu können.
Doch bei der nicht nur geschichtlichen Verwirrung von antirassistisch Engagierten blieb es nicht. Seit nach Gerhard Schröders Aufruf zum Aufstand der Anständigen nicht mehr nur der Mantel der Geschichte die deutschen Bundespolitiker umwehte, sondern die bräsige „Verantwortung vor der Geschichte“ in keiner Sonntagsrede anlässlich der offiziellen Gedenktage fehlen darf, seit die Schwachsinnsvokabel „antimuslimischer Rassismus“ in einem Atemzug mit Antisemitismus genannt wird und zur offiziellen Parole des sich als Antirassismus gebenden Islamappeasement geriet, präsentierte sich Bejarano auch für diese Zwecke als ideale Auschwitzüberlebende. Ihre Powersätze könnten eins zu eins von Udo Lindenberg vertont werden: „Damals waren es die Juden, auf die man es angelegt hatte, […] Heute sind es auf einmal die Moslems, obwohl die Leute, die das meinen, sie gar nicht kennen. So wie man damals nichts über die Juden wusste, dennoch sind sie zum Feindbild geworden. Heute haben wir wieder ein Feindbild, die Moslems.“ (35)
Esther Bejarano wurde 2014 Ehrenbürgerin der Stadt Saarlouis, die in der Vergangenheit nicht unbedingt als antifaschistische Musterstadt glänzte. (36) Sie beteuerte: „Ich gehöre zu euch und ihr gehört zu mir.“ Der Oberbürgermeister der Stadt erklärte auch warum: „Seitdem engagiert sich Esther Bejarano unentwegt gegen Rassismus und Ausgrenzung und setzt sich ein für Menschlichkeit und Toleranz […] und für den Frieden. Mit ihrem Einsatz gibt Esther Bejarano der Geschichte und somit auch unserer Geschichte und unserem Erinnern […] einen Sinn.“ (37)
Zwei Jahre zuvor wurde ihr schon das Bundesverdienstkreuz verliehen. Dieses wurde ihr vom damaligen Oberbürgermeister der Stadt Hamburg Olaf Scholz übergeben: „Im Sinne einer wahren Lebensleistung hat sie sich – als Künstlerin und als Friedensaktivistin – unermüdlich der Warnung vor Diskriminierung, Ausgrenzung und Verfolgung gewidmet. [...] Vor dem Hintergrund der aktuellen Ereignisse im Zusammenhang mit rechtsradikalem Terror in Deutschland kann das Engagement von Frau Bejarano nicht hoch genug gewürdigt werden.“ (38)
Aus Esther Bejaranos Erzählung von der Solidarität und des gemeinschaftsstiftenden Hasses auf Nazis und SS leitete sie nicht nur für sich selbst das sich als staatskompatibel erweisende handlungsleitende Motiv ihres antifaschistischen Engagements ab.
Durch diese Herleitung fungierte sie sowohl für die Antizionisten als auch für den offiziellen Staatsantifaschismus als ideale Bezugsfigur. So konnten Antizionisten nicht nur von Israel schweigen, wenn von Auschwitz die Rede war, sie konnten mit der sendungsbewussten israelkritischen Holocaustüberlebenden auch eine Kronzeugin dafür ins Feld führen, dass man im Namen von Auschwitz gegen Israel mobilmachen muss und dass man gleichzeitig „Gegen Antisemitismus“ deklamieren und die Palästinenser zum Weitermachen auffordern kann. Gleichzeitig taugte sie als lebender Beweis dafür, dass die Transformation vom Land der Täter zum Land der wiedergutgewordenen und geschichtsbewussten Deutschen erfolgreich war.
Der Leidens- und der Läuterungsweg der Bejarano verlieh so Auschwitz einen doppelten Sinn, der von Staatsantifaschismus und Antizionismus begierig aufgenommen wurde. Bejarano verlieh der „Israelkritik“ schon qua ihrer Biographie moralischen Mehrwert. Mehr noch: Als eine, die der Vernichtung durch die Deutschen entkam und später dem Land, das allen vom Antisemitismus Verfolgten eine sichere Heimstatt gewährt, den Rücken kehrte, um ins Land der Täter zurückzukehren, wo sie nach anfänglichen Schwierigkeiten als linke Aktivistin schlussendlich wieder eine Heimat fand, bot sie sich der antifaschistischen Volksgemeinschaft als beste jüdische Freundin geradezu an. (39)
Ein Staatsbegräbnis bekam Esther Bejanaro nicht, doch der schier unendlich erinnerungsfähige Bundespräsident Walter Steinmeier kürte sie zur Lieblingsantifaschistin der Deutschen: „Mit ihrem Tod haben wir einen großen Verlust erlitten. Sie wird immer einen Platz in unserem Herzen haben. Bejarano hat am eigenen Leib erfahren, was es heißt, diskriminiert, verfolgt und gefoltert zu werden. Wir verlieren mit ihr eine mutige Persönlichkeit, die sich bis zuletzt für die Verfolgten des Naziregimes eingesetzt hat. Und wer sie je in ihrem musikalischen Element erlebt hat, wird sich immer daran erinnern: So mitreißend war sie!“ (40)
Jonas Dörge (Bahamas 88 / 2021)
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