Hass muss produktiv machen. Sonst ist es gleich gescheiter zu lieben. Karl Kraus, 1912
Auf den ersten Blick war der jüngste Gaza-Konflikt vom 10. bis zum 21. Mai 2021 eine eher schwache Reprise des palästinensischen Krieges gegen Israel, der vom 8. Juli bis zum 21. August 2014 stattgefunden hatte. Die Zahl der Toten auf beiden Seiten war 2021 wesentlich geringer als 2014, der zwischenzeitlich optimierte Iron Dome hat die meisten Raketen aus Gaza, die überhaupt über die Grenze gelangt waren, in der Luft zerstört und auch die obligatorischen Protestumzüge von vorwiegend arabischen Demonstranten in westlichen Städten waren schwächer besucht. In Deutschland hatten letztere ihrem Charakter nach dem entsprochen, was die Taz am 15. Mai 2021 über die größte dieser Manifestationen in Berlin berichtete: „Am Berliner Hermannplatz, wenige Meter vom späteren Auflösungsort der Demonstration entfernt, versammeln sich am Samstag Nachmittag Tausende. Die meisten sind gehüllt in palästinensische Flaggen, Fahnen der Türkei und Syrischen Republik wehen daneben. 3.500 Menschen sind insgesamt gekommen, teilt die Polizei auf telefonische Anfrage mit. […] Im vorderen Bereich werden klar antisemitische Parolen und antiisraelische Vernichtungswünsche gerufen. ‚Oh Qassam, oh Liebling – schlag zu, zerstör Tel Aviv‘, ruft ein Pulk junger Männer auf arabisch [sic!]. Oder: ‚Chaibar, Chaibar, ihr Juden, Mohammeds Heer kommt bald wieder‘. Sie beziehen sich damit auf einen Angriff der Truppen Mohammeds auf eine jüdische Ortschaft im Jahr 628. Niemand stört sich daran. Mittendrin beklagt jedoch ein Plakat, dass Kritik an Israel noch kein Antisemitismus sei.“ (Taz, 15.5.2021) Weder quantitativ noch qualitativ war ein Unterschied zu den Palästina-Demonstrationen vom Sommer 2014 zu beobachten – außer dass die Polizei weit aktiver war und zum Beispiel am 15. Mai den Spuk gleich hinterm Neuköllner Hermannplatz beendete und die Demonstration auflöste.
So bitter es für israelische Bürger ist, dass ihr Land vermutlich auch in Zukunft alle paar Jahre aus dem Gaza-Streifen angegriffen werden wird: Von zentraler Bedeutung für die Sicherheit seiner Bewohner sind diese Aggressionen nicht. Was nicht aus Gaza allein, sondern aus Syrien, Iran oder dem Libanon noch kommen könnte, ist weniger an jenen internationalen Reaktionen auf Israels Selbstverteidigung zu messen, die, repräsentiert durch die Vereinten Nationen, regelmäßig israelfeindlich ausfallen. Es geht für Israel maßgeblich um die Haltung der USA, aber auch um die der übrigen westlichen Demokratien, unter denen Deutschland als die verlässlichste gilt.
Nicht erst seit der Abwahl von Donald Trump ist in Deutschland, das die Sicherheit Israels zur Staatsräson erklärt hat, einiges in Bewegung geraten. Während der palästinensischen Umtriebe im Mai fragte man sich noch: „Jetzt aber ist guter Rat teuer. Wie bringt man jenen, die den Hass auf Israel mit der Muttermilch einsogen, bei, was hierzulande Teil der Staatsräson und der Leitkultur ist? Und wie verfährt die nächste Kanzlerin oder der nächste Kanzler mit Migranten, die dem Antisemitismus partout nicht abschwören wollen?“ (FAZ, 19.5.2021) Während die erwähnte Demonstration am Hermannplatz ganz sicher nicht die Haltung der deutschen Regierung abbildet, so muss das für eine andere Berliner Demonstration an diesem Tag nicht gelten: „Zur gleichen Zeit bewegt sich ein Demonstrationszug aus Kreuzberg in Richtung Neukölln. Etwa 2.500 sind dem Aufruf von ‚Palästina spricht‘ gefolgt, schätzt die Polizei am Samstag Abend. Zwar wirkt das Publikum der Demo, kurz bevor sie Neukölln erreicht, hier deutlich alternativer und linker. Eine Fahne der Linkspartei ist zu sehen, die antiisraelische Boykott-Kampagne BDS ist da, es wird zu [sic!] ‚Dekolonierung‘ [sic!] Israels aufgerufen. Und auch hier wird nicht viel vom Existenzrecht Israels gehalten: ‚1, 2, 3, 4 – Israel no more!‘, rufen einige. ‚Israel bombadiert [sic!], Deutschland finanziert‘, steht etwa auf Plakaten.“ (Taz, 15.5.2021) Das waren nicht mehr die sogenannten moderaten Palästinenser, ergänzt um ihre traditionslinken deutschen Fans, die schon seit vielen Jahren ohne Einfluss und normalerweise maximal 100 Köpfe stark einen Mindestabstand einhaltend den aufgeregten Jungmännern hinterhertrotten. Diesmal konnten es sich „moderate Kritiker“ Israels leisten, getrennt zu marschieren, um zum gleichen Ziel, örtlich wie inhaltlich, zu gelangen. An besagtem 15. Mai liefen damit zusammen 6.000 Bekenner des sogenannten israelbezogenen Antisemitismus in der Hochburg des arabischen Selbstbewusstseins in Deutschland auf, die zugleich die Hochburg der gar nicht orientalischen Trans-, Queer- etc.-Szene ist. Fast die Hälfte gehörte nicht zu den unentwegten Jubelpalästinensern. Die BDS-Fahnen, das Banner des Neuköllner Regionalverbands der Linken, der Angehörige des arabischen Clanmileus vor Rassismus schützen will, aber mehr noch ein Slogan, der für Israel brisanter nicht sein kann: „Decolonizing Israel. Free Palestine“, markierten nunmehr auch auf der Straße einen Durchbruch, der das deutsche Gespräch über Israel prägen wird. Gehörte dieser Spruch in abgewandelter Gestalt lange Jahre zum Arsenal einer vor sich hin kümmernden antiimperialistischen Linken in ihrem Kampf gegen den jüdischen „Siedlerkolonialismus“, so präsentiert er sich heute strahlend neu als originäres Produkt eines Diskurses, der aus den insbesondere amerikanischen Universitäten hervorgehend in Deutschland dem überbordenden kulturellen und akademischen Sektor mit seinem Heer ehrenamtlicher Praktikanten die Argumente gegen Israel liefert.
Nachdem der Deutsche Bundestag im Jahr 2019 eine Resolution angenommen hatte, wonach staatliche oder staatlich subventionierte Organisationen keine Propaganda für die BDS-Bewegung machen und niemandem aus diesem Spektrum ein Forum verschaffen sollten, kam es zu einem erfolgreichen Aufstand staatlich ausgehaltener Agenturen des Kultursektors und eines eigens zur Antisemitismusforschung eingerichteten Berliner Lehrstuhls gegen den gemeinsamen Dienstherrn. Man vergleiche: „Der Deutsche Bundestag beschließt, 1. erneut jeder Form des Antisemitismus schon im Entstehen in aller Konsequenz entschlossen entgegenzutreten und die BDS-Kampagne und den Aufruf zum Boykott von israelischen Waren oder Unternehmen sowie von israelischen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern, Künstlerinnen und Künstlern oder Sportlerinnen und Sportlern zu verurteilen; 2. Räumlichkeiten und Einrichtungen, die unter der Bundestagsverwaltung stehen, keinen Organisationen, die sich antisemitisch äußern oder das Existenzrecht Israels in Frage stellen, zur Verfügung zu stellen. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf, keine Veranstaltungen der BDS-Bewegung oder von Gruppierungen, die deren Ziele aktiv verfolgen, zu unterstützen; […] 5. keine Projekte finanziell zu fördern, die zum Boykott Israels aufrufen oder die die BDS-Bewegung aktiv unterstützen; 6. Länder, Städte und Gemeinden und alle öffentlichen Akteurinnen und Akteure dazu aufzurufen, sich dieser Haltung anzuschließen.“ (Drucksache 19/10191 des deutschen Bundestags vom 15.5.2019) Anfang Dezember 2020 veröffentlichte eine „Initiative GG 5.3 Weltoffenheit“ als Antwort Folgendes: „Der gemeinsame Kampf gegen Antisemitismus, Rassismus, Rechtsextremismus und jede Form von gewaltbereitem religiösem Fundamentalismus steht im Zentrum unserer Initiative. Eine spezifische Herausforderung besteht für uns heute darin, die Besonderheiten der deutschen Vergangenheit unseren Kooperationspartner:innen in der ganzen Welt verantwortungsvoll zu vermitteln, um eine gemeinsame Gegenwart und Zukunft zu entwerfen. Eine Vergangenheit, die einerseits geprägt ist durch den beispiellosen Völkermord an den europäischen Juden und Jüdinnen und andererseits durch eine späte und relativ zögerliche Aufarbeitung der deutschen Kolonialgeschichte. Dazu bedarf es eines aktiven Engagements für die Vielfalt jüdischer Positionen und der Öffnung für andere, aus der nichteuropäischen Welt vorgetragene gesellschaftliche Visionen. Die historische Verantwortung Deutschlands darf nicht dazu führen, andere historische Erfahrungen von Gewalt und Unterdrückung moralisch oder politisch pauschal zu delegitimieren. Konfrontation und Auseinandersetzung damit müssen gerade in öffentlich geförderten Kultur- und Diskursräumen möglich sein. […] Weltoffenheit, wie wir sie verstehen, setzt eine politische Ästhetik der Differenz voraus, die Anderssein als demokratische Qualität versteht und Kunst und Bildung als Räume, in denen es darum geht, Ambivalenzen zu ertragen und abweichende Positionen zuzulassen. Dazu gehört es auch, einer Vielstimmigkeit Freiräume zu garantieren, die die eigene privilegierte Position als implizite Norm kritisch zur Disposition stellt.“ (201210_PlaedoyerFuerWeltoffenheit.indd (humboldtforum.org); Hvh. J.W.)
Im Namen der Meinungsfreiheit der zu beachtenden unterschiedlichen Sprechorte und des Aspekts der Dekolonisierung wurde der zivile Ungehorsam gegen die deutsche Staatsräson erklärt, und keine Bundes- oder Länderbehörde hat auf die Einhaltung des Kooperationsverbots mit BDS je bestanden. Damit ist die Frage nach dem guten, aber teuren Rat, den man angesichts von „Migranten, die dem Antisemitismus partout nicht abschwören wollen“ nicht recht finden konnte, beantwortet. Wenn sich der Vernichtungswunsch gegen Israels Juden, so die deutsche Antwort, nur noch teilweise einschlägig arabisch äußert und statt „Werft sie ins Meer!“ eine Dekolonisierung Israels gefordert wird, dann kann von Antisemitismus in der Form des „israelbezogenen Antisemitismus“ keine Rede mehr sein. Wer es sich mit dem antikolonialen Anspruch des Humboldtforums, des Zentrums für Antisemitismusforschung und all der Mitunterzeichnenden nicht verderben will und es trotzdem mit Israel hält, muss beinahe von Glück reden, dass der Radau der Abdallahs aus der Sonnenallee, dieser SA einer viel größeren Bewegung, übertönt, was sich als antikolonialer oder sonst Juden nötigender Diskurs längst selbständig gemacht hat.
Das Urteil gegen Israel, das, ausgehend vom Campus, auf lokale und überregionale Kunstausstellungen übergreift und auch auf den Theaterbühnen regelmäßig reproduziert wird, mischt sich nun auf der Straße mit dem scheinbar bunten Sammelsurium neuer Welterklärungen und Utopie-Surrogate im Zeichen des Anderssein. Anders sind dann auch jene Juden, die über „eine Vielfalt jüdischer Positionen“ verfügen, die gegen die eine, verstockte, mit dem Namen Benjamin Netanjahu verbundene gefördert werden müssen. Die vielfältigen jüdischen Positionen waren in Berlin bereits am 13. Mai 2021 zur Stelle. Zwei Tage vor dem großen Geschrei am Hermannplatz haben sich vor dem Rathaus Neukölln 200 Leute zu einer Kundgebung eingefunden, an der „sich auch kleinere jüdische Gruppen beteiligt haben (Jewish Antifa, Jüdische Stimme für gerechten Frieden in Nahost). Es gab Zusammenstöße mit der Polizei, weil nach deren Angaben die Hygienemaßnahmen nicht eingehalten worden seien.“ Und schon äußerten sich lautstark die Vertreter von abweichenden Positionen, die die angeblich privilegierte „weiße“ Position als implizite Norm kritisch zur Disposition stellen: „Das Bündnis bestritt das und beklagt eine bewusste Eskalationsstrategie der Polizei. Die Gruppe Migrantifa Berlin sprach von Racial Profiling und Kriminalisierung von jungen nichtdeutschsprachigen Demonstrierenden. Das Portal Jüdisches Forum dokumentierte auf der Demo wiederum ‚Intifada bis zum Sieg‘-Rufe.“ (Taz, 13.5.2021)
Schon zwei Wochen vor dem letzten Krieg gegen Israel war die Revolutionäre 1. Mai Demonstration, die von den islamisierten Kiezen Neuköllns nach Kreuzberg führte, von zahlreichen israelfeindlichen Slogans und Transparenten mitgeprägt, was vor wenigen Jahren noch unmöglich schien, weil bestimmte migrantisch-revolutionäre Israelfeinde ausgeschlossen worden waren und ihren eigenen kleinen, aber stramm antisemitischen Umzug hatten abhalten müssen. Zwei Monate nach dem Ende der jüngsten bewaffneten Angriffe auf Israel, am 24. Juli 2021, wurde, wiederum natürlich am Hermannplatz beginnend, einmal so richtig queer der palästinensische Volkssturm hochgejubelt. „Internationalist Queer Pride for Liberation 2021“ nannte sich diese alternative CSD-Parade mit deutlich über 3.000 Teilnehmern.
„Ein Bündnis aus verschiedenen zivilgesellschaftlichen und migrantischen Organisationen hatte zu der Demonstration aufgerufen. Mit ihr wolle man die Pride vom ‚Mainstream-CSD‘ zurückfordern und die ‚radikalen queeren, antikolonialen und antirassistischen Communities Berlins‘ zusammenbringen, heißt es im Aufruf der Veranstalter. Zu den Initiatoren gehörten neben der ‚Migrantifa‘ auch ‚BDS Berlin‘, die zum Boykott israelischer Produkte aufrufen und der Verein ‚Palestine Speaks‘, der bei früheren propalästinensischen Demonstrationen durch antisemitische und israelfeindliche Vorfälle auffiel.“ (Tsp, 27.7.2021) Im Aufruf stand drohend: „Unsere Befreiung wird intersektional sein. Wir stehen zusammen: Schwarze Menschen, People of Colour, Rom:nja und Sinti:zze, Jüdinnen:Juden, Migrant:innen, Muslim:innen, Sexarbeiter:innen, Menschen ohne Wohnung, Menschen mit Be_hinderung, prekär Beschäftigte, Trans* Menschen, Geflüchtete und Asylsuchende, inter* Menschen und Indigene Völker überall.“ (Auch Antisemit:innen feiern Pride, Belltower.News)
Nicht in erster Linie die Radau-Palästinenser, sondern die wahrhaft intersektoralen Protagonisten des zeitgenössischen Antisemitismus-Diskurses sind zu kritisieren, die dem neuen Bündnis auf der Straße den Anstrich von Seriosität verleihen. War es beginnend mit dem Jahr 2000 und mehr noch nach 9/11 unter dezidiert antideutschem Vorzeichen gelungen, jede Israelkritik so sehr zu diskreditieren, dass es lange Jahre so schien, als würde nicht nur in der Antifa, sondern auch unter sogenannten Hedonisten kein Palästinensertuch mehr gelitten werden, so sieht es heute danach aus, dass gegen ein weit selbstbewussteres und von keinem Zweifel mehr geplagtes Personal der umso notwendigere Kampf wieder aufgenommen werden muss. Die damals geleistete Kritik war nicht antinational und schon gar nicht antisexistisch oder queer, man ging vielmehr der antirassistischen und sonst identitären Ideologie auf ihren völkischen Grund und vermochte mit wenn auch schwachen Mitteln das Ressentiment in Schach zu halten. Jene, die damals in antideutscher Absicht schroff zurückgewiesen wurden, waren nicht aus Gründen der Einsicht, sondern aus Diskursschwäche für Jahre verstummt. Inzwischen hat man am Campus und in einschlägigen Theoriezirkeln, wo vor allem die Schriften Judith Butlers ganz hoch im Kurs stehen, ideologisch aufgerüstet und lässt heute eine jüdische Antifa für sich reden, die aus einer Handvoll Ideologen besteht, die den deutschen Ruf nach „verschiedenen“ jüdischen Stimmen für das antisemitische Begehren eilig aufgegriffen haben. Was man Antideutschen schon vor 20 Jahren erfolglos vorgeworfen hat, sie hätten einen „Judenknacks“, der sich in zynischer Enteignung originär jüdischer Erfahrung zugunsten eines totalitären Projekts namens Staat Israel gemausert hätte, das jede andere Leidensgeschichte, ja jedes Anderssein ausgrenze, geht heute locker durch. Man muss nur abschreiben, was die deutsche Kulturelite angesichts „einer Vergangenheit, die einerseits geprägt ist durch den beispiellosen Völkermord an den europäischen Juden und Jüdinnen und andererseits durch eine späte und relativ zögerliche Aufarbeitung der deutschen Kolonialgeschichte“, von Juden verlangt. Sie mögen sich mit ihrem so besonderen Schicksal nur zurückhalten und den Stimmen des autochthonen Antisemitismus andächtig lauschen, wie so mancher gerade in Berlin ansässige Israeli auch. Wissen wir doch, dass es dazu „eines aktiven Engagements für die Vielfalt jüdischer Positionen und der Öffnung für andere, aus der nichteuropäischen Welt vorgetragene gesellschaftliche Visionen“ bedarf. Die Vielfalt jüdischer Positionen klingt nicht nur in diesem Zitat ganz wie BDS, auch ihre gesellschaftlichen Visionen laufen immer auf die eine, nämlich die nach der dringend gebotenen Eliminierung des jüdischen Staats hinaus – denn genau das meint die Forderung nach Dekolonisierung. Heute geht das so: „Hannah Arendt formulierte es treffend: Philosemitismus und Antisemitismus arbeiten Hand in Hand, und sind auf vielfältige Weise komplementär. In der pro-zionistischen deutschen Linken, mit ihrer Fülle an Flaggen und Tattoos mit Davidsternen, mit ihren Mossad- und Beitar Jerusalem F.V.-T-Shirts, mit ihrer Verwendung hebräischer Buchstaben und dem militaristischen (und oft sexistischen) Fetischisieren des Israelischen Militärs (IDF), scheint es, als ob das Judentum und der Staat Israel zu einer Art Konsumprodukt geworden sind, ein Fetisch für Sammler_innen. Einige derer, deren Vorfahren die Vernichtung über die Jüd_innen gebracht haben, fühlen sich heute bei der Aneignung jüdischer und israelischer Symbole, die tiefgreifende historische und kulturelle Bedeutungen haben, vollkommen behaglich. Und gleichzeitig drückt die pro-zionistische deutsche Linke eine starke Abneigung gegen die progressive israelische Linke aus, und versucht die jüdischen Linke [sic!], die unmittelbar [!] unter ihnen leben, zum Schweigen zu bringen. In der deutschen Linken ist es gebräuchlich, den Staat Israel als einen ‚Jüdischen Staat‘ zu bezeichnen. Es ist erstaunlich, dass diejenigen, die einen ‚Islamischen Staat‘ ablehnen würden und sicherlich auch die Idee, staatlich zugestandene Rechte und Freiheiten an die ethnische und religiöse Zugehörigkeit seiner Bürger_innen zu binden, keinerlei Bedenken bezüglich eines ‚Jüdischen Staates‘ haben.“ Wer würde da in Zeiten neuer Zuversicht in die Überwindung von Staat und Nation, wie man es während der Flüchtlingswelle von 2015 gelernt hat, nicht mitgehen? Was dann folgt, hat man – auch wenn man es ein wenig einseitig findet –, ob man will oder nicht, schon mitunterschrieben: „Wir sehen im ‚Jüdischen Staat‘ einen rassistischen und diskriminierenden Begriff, der diejenigen Jüd_innen und Nicht-Jüd_innen, die zwischen dem Jordan und dem Mittelmeer leben, betrifft, sowie auch die Bevölkerung der von Israel kontrollierten palästinensischen Gebiete, die seit Jahrzehnten von systematischer, alltäglicher Diskriminierung betroffen ist – sei es durch die Konfiszierung von Land oder Gefängnisstrafen, Demütigungen und physischer und psychischer Gewalt. Die Hoffnungen dieser Menschen auf ein Leben in Prosperität und Sicherheit werden als ein Resultat der kolonialistischen Bestrebungen des ‚einzigen demokratischen Staates‘ im Nahen Osten zerstört.“ (Über Uns, Jewish AntiFa Berlin) Die Täter müssen nur noch wiederholen und ausschmücken, was das Humboldtforum schon ausgeführt hatte – Antisemitismus sei die Sache einer starken Rechten, die wenn schon keine antisemitische Gegenwart, so doch die immergleichen Wurzeln habe – und hinzufügen, was das Humboldtforum qua nichtjüdischen Sprechorts dann doch lieber verschwiegen hat, nämlich dass, wer mit z. B. der AfD mögliche politische Gemeinsamkeiten erkundet, den Antisemitismus fördert, auch oder gerade dann, wenn er Politiker in Israel ist: „Unsere Initiative ist eine Reaktion auf die aktuelle politische Situation in Europa und den Vereinigten Staaten. Die erstarkte radikale Rechte (die hinreichend bekannte antijüdische und antisemitische Wurzeln hat) ist zum Zweck der Schaffung einer neuen Front gegen den neuen ‚Feind‘, dem Islam, zum Schulterschluss mit zionistischen Jüd_innen, Israelis und dem Israelischen Staat bereit: Israelische Politiker_innen kollaborieren öffentlich und ohne Berührungsängste mit Parteien wie der Freiheitlichen Partei Österreich [sic!] (FPÖ), Marine Le Pens Front National (FN), und sogar mit der deutschen Alternative für Deutschland (AfD). Teile der pro-israelischen Linken in Deutschland missbrauchen die Existenz von Jüd_innen für die Legitimierung ihres seit Langem schwelenden Rassismus und ihrer Islamophobie. Mit der Migration von Menschen aus arabischen Ländern, die auf Grund kolonialer und kapitalistischer Kriege fliehen mussten, nehmen diese Tendenzen immer weiter zu.“ (ebd.)
Die antideutsche Szene hat sich selbst zerlegt, übriggeblieben sind zynisch gewordene Staatsfeinde, die von Israel schon nicht mehr reden, Antifaschisten, die es fertig bringen, wegen ein paar Coronaleugnern auf der Münchner Theresienwiese im Mai 2020 mit Riesen-Transparenten „Antisemitismus tötet“ (mit Antifa-Emblem) und „Antisemitismus entgegentreten – rechten Terror bekämpfen“ aufzumarschieren (SZ, 14.1.2021) und eine Zunft aus Akademikern, Verbandsfunktionären und Zeitungsschreibern, die immer dort ganz vorne dabei ist, wo es gilt, vom Offensichtlichen abzulenken. Man nehme Samuel Salzborn, den Antisemitismusbeauftragten von Berlin. Der „resümierte am Samstag Abend auf Twitter: ‚Wie bei den antisemitischen Großdemonstrationen 2014 ist der antisemitische Hass auch jetzt die integrale Klammer. Deshalb gilt mehr denn je: Der Schutz jüdischer Einrichtungen ist das Gebot der Stunde, keine Toleranz gegenüber jeder Form von Antisemitismus“. (Taz, 15.5.2021)
Bislang war mit der Parole „Gegen jeden Antisemitismus“ gemeint, dass der spezifisch islamische nicht ausgespart werden dürfe. Das war die duckmäuserische Intervention von Leuten, die richtig erkannt haben, dass unter dem alles überlagernden offiziellen Gebot des Antirassismus, wonach hauptverantwortlich für den manifesten Antisemitismus die angeblich erstarkte radikale Rechte sei, die antisemitischen Untaten der islamischen Gegengesellschaft beschwiegen werden. Indem diese Warner sich auf eine Formel festlegten, in der die antisemitischen Taten und Tataufrufe keinem konkreten Täterkreis zugerechnet und damit das Wissen über sie dem Eingeweihtsein des Lesers überantwortet werden sollten, haben sie jede kritisch-agitatorische Note eliminiert: Die Gemeinten brauchen sich nicht angesprochen zu fühlen und jene, die die Botschaft verstanden haben, braucht man nicht zu agitieren. Nicht genug, dass der Antisemitismusbeauftragte angesichts der seit 2014 schlimmsten öffentlichen Manifestationen des Vernichtungswillens gegen die Juden und ihren Staat fordert, was tägliche Aufgabe der Ordnungskräfte ist, der sie jedenfalls in Berlin auch nachkommen, nämlich jüdische Einrichtungen zu schützen. Statt praktische Kritik an den fast durchgängig moslemischen Tätern einzufordern, die sich in mehr Festnahmen, Anklagen und präventiv in Demonstrationsverboten äußern müssten, erhebt er seine Stimme „gegen jeden Antisemitismus“ genau dann, wenn weder direkt noch indirekt irgendwelche Rechten beteiligt waren, sondern der islamische respektive der ihm sekundierende antirassistische Antisemitismus wütet. Das verweist auf den unbedingten Willen, korrigierend in den möglicherweise bis zum Hass gesteigerten Unmut von Leuten einzugreifen, die das Geschrei der nicht nur arabischen Straße gegen Juden und ihren Staat nicht hinnehmen wollen. „Vergesst nicht“, rufen die Moderatoren den unangemessen Aufgeregten zu, „der Antisemitismus kommt doch in erster Linie aus der Mitte unserer von der AfD und anderen Rechten existenziell gefährdeten Gesellschaft!“ Weit wichtiger als den plumpen arabischen dingfest zu machen, den zu „entlarven“ es keiner größeren Kenntnisse in der Disziplin Antisemitismustheorie bedarf, sei es, den rechten Antisemitismus zu thematisieren. Tatsächlich ist der Feind nicht in erster Linie in der Sonnenallee ansässig, die es in jeder größeren deutschen Stadt gibt – dort leben nur jene, die schon jetzt bereit sind zu töten, wenn man sie lässt. Dass man sie irgendwann lassen wird, indem man ihre „anderen“ Visionen, zunächst noch getrennt marschierend, zum gemeinsamen Bezugspunkt macht, ist das Geschäft von Agenturen, die den Staat und seine die Qualitätsmedien konsumierenden Bürger beraten. Sie erklären das ungehinderte Agieren von Antisemitenverbänden zum Inhalt einer deutschen Staatsräson, die sich nicht mehr an der Seite Israels gegen seine Todfeinde stellen, sondern dessen raison d’être, Zufluchtsort aller Juden zu sein, delegitimieren soll.
Schon einen Monat nach dem Ende des jüngsten Krieges gegen Israel hatten die wirklichen und die virtuellen Antisemismusbeauftragten Gelegenheit, sich nicht etwa über manifeste Vernichtungsdrohungen, sondern über ausgelöste Assoziationsketten originär deutschen Ursprungs warnend zu verbreiten. In großformatigen Anzeigen war Anfang Juni 2021 in mehreren überregionalen Tages- und Wochenzeitungen Annalena Baerbock in einen archaischen Kittel gewickelt und in jeder Hand eine steinerne Gesetzestafel haltend dargestellt worden, auf denen zehn Maximen zu lesen waren, etwa „Du darfst nicht fliegen“ oder „Du darfst dich nicht in erster Linie auf dich verlassen. Der Staat weiß besser, was richtig für dich ist.“ Urheber der Anzeigenkampagne war die Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft (INSM), Finanziers waren die Bundesverbände der Metall- und Elektroindustrie. Überschrieben waren die Anzeigen mal mit „Grüne Verbote führen uns nicht ins gelobte Land“, mal mit „Wir brauchen keine Staatsreligion“. Das ist dumm, fad, absolut humorfrei und schon deshalb zur Kritik an einer unangenehmen Partei und ihrem Führungspersonal nicht geeignet. Aber ist es antisemitisch? Wenn es nach dem Berliner Antisemitismus-Beauftragten geht, allemal: „Wahlkampf ist Wahlkampf, keine Frage – aber auch und besonders in Zeiten, in denen politisch hart gestritten wird, sind Assoziationsketten, die antisemitische Anspielungen in Kauf nehmen, fatal“, sagte Samuel Salzborn. „Die Moses-Analogie, die Referenz auf die strenge Gesetzesreligion, der Terminus ‚Staatsreligion‘ – all das weckt antijüdische Stereotype in der Metaphorik, die in der politischen Debatte – bei jeder inhaltliche [sic!] Differenz – fatal sind.“ (katholisch.de, 14.6.2021)
Wirtschaftsliberale Theorie und Propaganda weisen den starken, interventionistischen Staat bekanntlich zurück und warnen vor der Beschneidung individueller Freiheiten durch ihn. Im Fall der INSM-Kampagne wird auf eine Urszene des Alten Testaments rekurriert, die in der christlichen Kunst jahrhundertelang ressentimentfrei aufgegriffene Schilderung des zornentbrannten Moses, der kurz davor steht, wegen des Tanzes um das goldene Kalb die Tafeln mit den Zehn Geboten zu zerschmettern. Dieses Motiv hat es viel später auch in die Welt der Karikatur gebracht, ohne dass eine antijüdische Tendenz zu erkennen wäre. Dass die Zehn Gebote eine Verbotsliste sind – Ausnahme ist nur das sechste Gebot “Du sollst Vater und Mutter ehren“ – vermag weder auf eine Verbotsreligion hinzudeuten, noch auf eine Staatsreligion, denn im vorchristlichen Judentum waren die Priester zugleich Richter, und damit voneinander getrennte theologische und staatliche Sphären gar nicht vorhanden. Das unterscheidet die antike jüdische Theokratie von späteren theokratischen Regimes, die bereits die Trennung der staatlichen von der religiösen Sphäre praktizierten und lediglich ein Mehr an Religion im Recht unter Staatsaufsicht einführen wollen. Angesichts des mörderischen Urzustands, auf den sie folgten, können die jüdischen Gebote auch nicht als besonders streng gelten. Ob neun Verbote und ein Gebot, die zugleich den Rahmen für eine von den vorzivilisatorischen Ängsten befreite Gesellschaft absteckten, diese zum gelobten Land führen können, mag dahingestellt bleiben. Das gelobte Land ist jedenfalls, obwohl klar alttestamentarischen Ursprungs, nirgends negativ konnotiert. Zum Kanon des Antisemitismus gehört die Unterstellung eines strengen Judenstaats und seiner Versprechen jedenfalls nicht. Welche Assoziationen der Verweis darauf angeblich trotzdem auslöst, müsste vorgetragen werden. Denn dass Liberale die häufig ja wirklich pseudoreligiöse Fetischisierung des starken Staates kritisieren, ist kein Hinweis auf Vorbehalte gegen die angeblich jüdische Staatsreligion. Zurück bleibt lediglich die durch nichts begründete Behauptung, es sei mit Material aus dem Alten Testament operiert worden, um eine Politikerin und ihre Partei als Protagonisten jüdischer Prinzipien zu dämonisieren.
Unterschwellig wird in den Baerbock-Talk eine Assoziation eingeführt, die die Elemente des Antisemitismus zum Ausgangspunkt hat. Adorno und Horkheimer hatten über Jesus Christus geschrieben: „Seine Botschaft ist: Fürchtet euch nicht; das Gesetz zergeht vor dem Glauben, größer als alle Majestät wird die Liebe, das einzige Gebot.“ Die Bedeutung des jüdischen Gesetzes charakterisieren sie dagegen als „die Anstrengung, aus der unmittelbaren Furcht sich zu befreien“. Diese „schuf beim Primitiven die Veranstaltung des Rituals, sie läutert sich im Judentum zum geheiligten Rhythmus des familiären und staatlichen Lebens. Die Priester waren zu Wächtern darüber bestimmt, dass der Brauch befolgt werde. Ihre Funktion in der Herrschaft war in der theokratischen Praxis offenbar.“ Dieser Zivilisationsfortschritt wurde vom Christentum relativiert und aus der religiösen Sphäre verbannt: Das Christentum hat „die Selbsterhaltung durchs letzte Opfer, das des Gottmenschen, in der Ideologie gebrochen, eben damit aber das entwertete Dasein der Profanität überantwortet: das mosaische Gesetz wird abgeschafft, aber dem Kaiser wie dem Gott je das Seine gegeben.“ Der Hass auf die Juden liegt zweifellos auch an ihrem hartnäckigen Festhalten an einem Gesetz begründet, das durch seine absolute Vorrangstellung „die Unverbindlichkeit des geistigen Heilsversprechens, dieses jüdische und negative Moment in der christlichen Doktrin“ betont. (1)
Natürlich verweist die Kombination von zehn Verboten, dem Gesetzesbringer Moses alias Baerbock und einer alle bevormundenden „Staatsreligion“ auch auf den zunächst originär christlichen Vorbehalt gegen das erhellte Gesetz im Alten Testament und das Ressentiment gegen die obstinaten Kritiker der Unterwerfung unters profane, dem sich auszuliefern keine Liebe und schon gar keine Geistigkeit im Glauben abwirft. Aber eine antisemitische Manifestation ist die gescholtene Anzeigenkampagne nicht. Es fehlt an einer entsprechend tradierten Geschichte der Anspielungen und Vorbehalte, die geeignet wäre, die unterstellten Assoziationsketten auszulösen. Wo Adorno und Horkheimer von der im Christentum oft gegen die Intention der Theologen angelegten Sehnsucht des naiven Gläubigen nach dem magischen Ritual, nach der Naturreligion sprachen, die später in das „Ritual von Glaube und Geschichte“ (Adorno/Horkheimer, a.a.O., 209) münden sollte und so für den Nationalsozialismus anschlussfähig wurde, reicht der antisemitismuskritischen Wissenschaft das Wort „Verbotsreligion“ und Frau Baerbock mit Gesetzestafeln in einer Anzeigenkampagne von waschechten Kapitalisten für ihr Verdikt. Die Assoziationen, die antijüdische Stereotype in der Metaphorik weckten, sind in Wirklichkeit auf eine Formel eingedampft worden: Verschwörungstheorien. Noch einmal sei Samuel Salzborn als Kronzeuge angeführt, der sich scheinbar nur auf die Ausschreitungen der Jubelpalästinenser im Mai 2021 bezog. Er betonte, „im Antisemitismus stecke immer eine Androhung zur Vernichtung. Dies sehe man an Parolen, aber auch an Verschwörungsmythen: ‚Da geht es immer um etwas Abstraktes, was nicht verstanden wird. Und dieses Abstrakte wird konkretisiert im Denken des Antisemitismus‘, es werden ‚konkrete Verantwortliche herbeiphantasiert‘, um abstrakte Prozesse greifbar zu machen. Dies sei beispielsweise in der Pandemie zu beobachten: Konkrete Menschen oder einzelne Gruppen würden dann attackiert, weil man meint, mit dieser Verfolgung werde das Problem gelöst. ‚Und darin liegt die Vernichtungsandrohung, die im Antisemitismus steckt.’“ (tagesschau.de, 20.5.2021)
Die Urheber der Anzeigenkampagne gegen Frau Baerbock und die Enragierten vom Hermannplatz verschmelzen miteinander und erfahren ihre Reinkarnation in der Gestalt der „Querdenker“ und mit ihnen aller Kritiker der Corona-Maßnahmen als eigentlicher, selbstverständlich weißer, rechter und deshalb natürlich auch antisemitischer Feind. Wer eine Spitzenkandidatin persönlich mit dem Parteiprogramm oder was man dafür hält identifiziert, ist der schon antisemitisch? Ein den Arbeitgeberverbänden verpflichteter Verein macht deren Vorbehalte gegen Baerbock geltend. Ist das Verfolgung? Aber auch bezogen auf die Neuköllner Jungmänner geht der Verweis auf das konkretisierte Abstrakte nicht umstandslos auf: Letztere hassen Israel, weil sie vorgeben, ihre „Heimat“ befreien zu wollen, wogegen ein jüdischer Staat bewaffnet Einspruch erhebt. Um auf diese Schuldzuweisung zu kommen, bedarf es zunächst nicht der Bemühung von Verschwörungstheorien. Erst wenn man die Geschichte eines mehr als hundert Jahre dauernden Volkswiderstands berücksichtigt, dessen Initiatoren jeden Kompromiss mit den Juden stets abgelehnt und ihr Volk systematisch als mörderisches Opferkollektiv aufgebaut haben, wird die Naqba-Erzählung, also die antisemitische Gewissheit gegen Israel, verständlich: Sie ist die Rationalisierung der eigenen Niederlage gegen die jüdischen Repräsentanten von Fortschritt und Vernunft als eine Vernichtungshandlung gegen alle Araber, die auf der Vernachlässigung der allen Palästinensern bekannten Tatsache beruht, dass es sich als Araber in Israel weit besser und freier leben lässt als unter autochthoner Verwaltung.
Dem Theoretiker Salzborn folgen die Praktiker aus Politik und Verbänden, die zwischen Amtskirche und den Parteien ihrer Präferenz changierend, das herrschende Regierungsprogramm aufsagen – gegen Abweichler, die etwas Abstraktes nicht verstehen wollten und deswegen scheinbar konkret Verantwortliche zum Feindbild erklärten, denen bald schon widerfahren könnte, was die Juden am eigenen Leib erfahren hätten. Gegen solchen Humbug wäre die zwanghafte Bemühung zu denunzieren, den Bürgern einen jeder Diskussion entzogenen Heilsplan aufzudrängen, der wie ein unbedingt zu akzeptierendes Fatum gerade über sie verhängt wurde. Es ging bei der Kritik an der INSM in Wirklichkeit nämlich gar nicht um Baerbocks Drapierung als zorniger Moses, sondern um die Vermessenheit, etwas anzugreifen, an das man glauben muss, wenn man in Deutschland noch dazugehören will. Die folgenden Statements, die aus einem Artikel stammen, der am 14.6.2021 auf katholische.de erschienen ist, geben einen Überblick, wohin die Reise geht, wenn deutsche Warner vor dem Antisemitismus nach dem „Abstrakten“ Ausschau halten. Der Vorsitzende eines Vereins mit dem unmöglichen Namen „1.700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland“ bekräftigt: „Aber, indem sie hier die Ressentiments bedienen, erweisen sie sich – ungewollt und in naivster Manier – als die Wasserträger des Antisemitismus.“ Der Arbeitskreis „Christinnen und Christen in der SPD“ ist sich sicher, dass dadurch, dass die „INSM antisemitische Stereotype nutzt und diese religionsfeindliche [!] Anzeige in großen Tageszeitungen geschaltet hat, sie eine bisher gültige Grenze des politisch-moralischen Anstands überschritten“ habe. Der Präsident des Deutschen Caritasverbandes, Peter Neher, kam zum Kern der Aufregung, die mit einer Warnung vor Antisemitismus gar nichts zu tun hat: Die Inserate zögen „den biblischen Auftrag zur Bewahrung der Schöpfung ins Lächerliche. Für Klimaschutz einzutreten, ist und muss unser Geschäft [!] als Caritas sein“, unterstrich der Prälat. Die Kampagne stelle „Verbote und Verzicht als größtes Übel überhaupt dar – geht es eigentlich noch populistischer?“ Wie Jubelpalästinenser und andere Kritiker des Kolonialismus sehen sich die Protagonisten gesellschaftlicher Sinngebung umzingelt von unheimlichen rechten Mächten und ihren personalisierenden Verschwörungstheorien. Als abstrakt und unverstanden und deshalb zur lebensbedrohlichen Personalisierung von z. B. Annalena Baerbock führend, erscheint ein Katalog der permanenten Drohung mit Katastrophen, die nur im genauso freiwilligen wie überlebensnotwendigen Verzicht aller Bürger abzuwehren sei. Diese innere Läuterung, die den Zwang internalisieren soll, kann nicht mehr der liberale Gesetzesstaat vollstrecken. Um die große Umkehr zu bewerkstelligen, bedarf es einer informellen Verbotsreligion, die als dem Gesetz vorgeschaltete Instanz dafür Sorge tragen wird, dass Gesetze verabschiedet und höchstrichterliche Urteile gesprochen werden, die keinem vernünftigen Standard mehr genügen, wie sie von der Thora bis zum römischen Recht und weiter zum Kirchenrecht einmal die Voraussetzung für den Kampf um Befreiung stifteten. Die Theokratie, für die Baerbock, Thunberg, Neubauer etc. einstehen, hat den Hader zwischen profanem Gesetz und religiösem Wahrheitsanspruch bereits zu Gunsten des nur Profanen liquidiert, das sich allerdings mit Magie umgibt und Riten zelebriert.
Und so kam die Autorin Carolin Emcke ins Spiel, die am 13. Juni 2021 den Delegierten des Grünen-Parteitags per Videobotschaft ihren und ihrer Weggefährten Führungsanspruch als die kommende Elite durch ein Großaufgebot von noch lebenden und schon gestorbenen Märtyrern gegen Zweifel absicherte. Ein paar Millionen ermordete Juden durften in der Aufzählung der von Klimaleugnern, Querdenkern und womöglich sogar Klassenkämpfern mit dem Tode bedrohten Aspiranten auf totale Herrschaft nicht fehlen: „Die radikale Wissenschaftsfeindlichkeit, die zynische Ausbeutung sozialer Unsicherheit, die populistische Mobilisierung und die Bereitschaft zu Ressentiment und Gewalt werden bleiben. Es wird sicher wieder von Elite gesprochen werden. Und vermutlich werden es dann nicht die Juden und Kosmopoliten, nicht die Feministinnen oder die Virologinnen sein, vor denen gewarnt wird, sondern die Klimaforscherinnen.“ (Hvh. J.W.)
Man streitet sich noch darüber, ob die Klimaforscherinnen oder die Virologen die am hartnäckigsten verfolgte Opfergruppe sind, sicher ist man sich jedenfalls, dass Verschwörungstheoretiker in ihnen den zu tötenden Feind erkennen, den sie als Wiedergänger des ewigen Juden dingfest gemacht haben. Ein Verein, der von sich behauptet, im Geist seiner Gründer Joachim Bruhn und Manfred Dahlmann Ideologiekritik zu betreiben, die Initiative Sozialistisches Forum (ISF), stellte am 20. Mai 2021 – zu einer Zeit, als auf Deutschlands Straßen die Auslöschung Israels lautstark gefordert wurde – fest: „Das Sammelsurium der im Judenhass versammelten Vorstellungen, Fantasien und Theorien kommt erst in der Vernichtung um der Vernichtung willen zu seiner tödlichen Einheit. Auch die buchhalterische Aufzählung antisemitischer ‚Stereotype‘ fällt in diese Art von botanisierender Antisemitismuskunde, welche Verschwörungstheorien als bloße Einstiegsdroge zum Antisemitismus verkennt.“ Die Frage, was eine Verschwörungstheorie denn ausmacht und ob sie wirklich in jedem Fall im Judenmord kulminieren muss, wird mit einem Federstrich weggewischt: „Diese Theorien sind immer schon antisemitisch, weil sich die Verschwörungstheoretiker nicht damit bescheiden, subjektlose Herrschaft nicht denken zu können, sondern partout ‚im Juden‘ den beneideten Übermenschen als den zu tötenden Feind bestimmen wollen, der die transnationale Synchronisationsleistung einer Weltwirtschaftskrise, eines Krieges oder einer Pandemie in persona als Zinsaristokrat erbringt. Dieser Feind verbirgt sich einstweilen noch hinter Bill Gates, George Soros oder auch Karl Lauterbach, nimmt dann die diffuse Gestalt der Bilderberger, Freimaurer oder Insidejobber an, um schließlich im Durchgang durch die Pharmaindustrie und andere Konzerne in den Finanzmanagern und Spekulanten sein wahres Gesicht zu zeigen: das entweder zur Fratze entstellte oder aber raffiniert getarnte Gesicht des ewigen Juden.“ (2) (Hvh. J.W.)
So geht Antisemitismuskritik heute, die hier allerdings deutlich plumper auftritt als in akademischen Sammelbänden. Man führt ganz unschuldig mit dem Wort „Verschwörungstheorie“ eine schillernde Vokabel ein, die längst zum Kampfbegriff aus dem Arsenal der Caroline Emckes verkommen ist, tut nichts zu ihrer Konkretion, sondern trumpft mit dem ebenfalls am Material nicht ausgewiesenen Begriff „subjektlose Herrschaft“ auf und wirft die durchaus unterschiedlichen Gestalten George Soros, Bill Gates und Karl Lauterbach als Zielscheiben antisemitischen Verschwörungswahns in einen Topf. Während der Hass auf den durchaus unangenehmen Faktenchecker Soros in der Regel wirklich dem antisemitischen Schema folgt, wonach ein reicher Jude mit ominösen internationalen Verbindungen zu unser aller Schaden die Strippen zieht, sieht es schon bei Bill Gates weit komplizierter aus, weil sich in seinem Fall gleich zwei verschwörungstheoretische und damit laut ISF auch antisemitische Gruppen gegenüber stehen. Denn Gates und mit ihm seine Fans sind selber paranoid und vermuten in der weltweiten „Klima“- oder „Viren-Katastrophe“ die schlimmste Bedrohung der Menschheit, während viele seiner Gegner in ihm den eigentlichen Auslöser der Corona-Epidemie erkennen wollen. Aber Karl Lauterbach? Dieser willfährige Tropf, der medial omnipräsent über mehr als ein Jahr immer weitreichendere und zugleich immer unbegründetere Maßnahmen gegen die Covid-Epidemie deklarierte und damit einer um Erklärungen ringenden Bundesregierung den Weg wies, einer der zusammen mit Christian Drosten und RKI-Chef Lothar Wieler jeden Zweifel an der Generallinie öffentlich diskreditierte – ausgerechnet dieser Lauterbach soll ins Visier von selbstredend antisemitischen Mordgesellen geraten sein? Statt diesen würdelosen Kerl in einer verzweifelten Minute selber einmal inständig zu hassen, um in nüchterneren Stunden diesem Subjekt einer im Entstehen begriffenen, vorläufig gar nicht so subjektlosen Herrschaft polemisch heimzuleuchten, werden die bestimmt in Tausenden zu zählenden und auch in vielen Fällen strafwürdigen Hass-Mails gegen Lauterbach als Manifestationen des Vernichtungsantisemitismus gewertet – diese Lehre präsentierten uns die Nachlassverwalter von Joachim Bruhn im Mai 2021 als Antisemitismuskritik.
Während das weltoffene Deutschland von Israel nichts mehr wissen will und Freiburger Theoretiker den Gegnern von Karl Lauterbach unterstellen, sie wähnten in ihm die Fratze des ewigen Juden; während dem Vernichtungswunsch gegen Israel landauf landein sein Diskursplatz eingeräumt wird und fleißig gegen rechte Verschwörungstheorien agitiert wird, fand in Israel wenigstens rhetorisch ein Dammbruch statt. Dort, wo Schwulenparaden und -parties zu den Attraktionen gehören, die auch Touristen aus moslemischen Ländern anziehen, wo unter jüdischen Vorzeichen ein Vielvölkerstaat entstanden ist und in der Armee schon seit Jahrzehnten auch Frauen Dienst tun, scheint die Zermürbung schon in der Regierung angekommen zu sein. Am 15. Juli 2021 hielt der neue israelische Außenminister Jair Lapid auf dem „Globalen Forum zur Bekämpfung von Antisemitismus“ (GFCA) eine Rede, die die bis dahin gängige und ohnehin schon auf einen faulen Kompromiss mit Israelhassern hinauslaufende Formel „Antisemitismus nennt man die Form des Rassismus, die gegen das jüdische Volk gerichtet ist“ auf den Kopf stellt. Lapid hat den Antisemitismus in „universaler“ Absicht unterschiedslos in eine lange Reihe der Rassismen einsortiert und glaubte offenbar mit dem faden Trick, alle massenmörderischen Erscheinungen der letzten Jahrzehnte und unter Bezug auf die Sklaverei sogar der letzten Jahrhunderte einfach mit dem Etikett Antisemitismus zu belegen, den internationalen Anfeindungen die Grundlage entziehen zu können: „Es ist für uns an der Zeit, damit zu beginnen, die wahre Geschichte über die Antisemiten zu erzählen. Antisemiten gab es nicht nur im Getto von Budapest, Antisemiten waren die Sklavenhändler, die gefesselte Sklaven ins Meer warfen. Antisemiten waren die Hutu in Ruanda, die die Tutsi abschlachteten. Antisemiten sind die Muslime, die im letzten Jahrzehnt mehr als 20 Millionen Muslime getötet haben. Antisemiten sind der IS und Boko Haram. Antisemiten sind all jene, die Menschen verfolgen, nicht für das, was sie getan haben, sondern für das, was sie sind, für das, als was sie geboren wurden.“ Mit der Einführung der Sklaverei als erstes Glied in seiner Kette der Untaten hat er sich den Diskurs gegen Israel schon zu eigen gemacht, denn wo das Jahr 1617 als Beginn der amerikanischen Geschichte im Zeichen rassistischer Unterdrückung draufsteht, folgt „Black Lives Matter“ auf dem Fuß, deren Ideologen den palästinensischen brothers and sisters erklärtermaßen näher stehen als „weißen“ Israelis. Die prekäre Lage seines Landes hat Lapid richtig beobachtet, um daraus den denkbar falschesten Schluss zu ziehen und zielgenau in die Antirassismus-Falle zu tappen: „Die Welt zeige sich inzwischen nämlich nicht mehr so schockiert über die Schoa, Schuldgefühle und das Bewusstsein historischer Verantwortung gingen in erschreckender Weise zurück. Die Angst vor dieser zunehmenden ‚Shoah-Müdigkeit‘, so Lapid, ‚hat uns in die Defensive gedrängt‘ und ‚veranlasst, von der Welt immer mehr Nachsicht und Sonderkonditionen zu fordern, statt verstärkt unserer Pflicht nachzukommen, Rassismus zu bekämpfen – jeglichen Rassismus. Das ist nicht der richtige Weg.’“ Der richtige Weg läuft dann darauf hinaus, sich den Erpressungen von BDS und deutschen Kultureinrichtungen zu beugen und die eigene Staatsräson antikolonialen Antisemiten zu Dekonstruktionszwecken auszuliefern: „Jenseits der in Israel aus dem Holocaust gezogenen Lehre, auf Stärke und Selbstverteidigung zu setzen, müsse man auch eine ‚universale‘ ziehen, ‚alle Erscheinungsformen von Rassismus zu bekämpfen.’“ Das gelte auch „im Umgang ‚mit dem israelisch-palästinensischen Konflikt‘ und ‚den unter uns lebenden Minderheiten.’“ (FAZ, 3.8.2021)
Man könnte Lapids Unterwerfungsgeste unter den erstarkenden Antizionismus als Verzweiflungstat „gegen den Hass“ werten, wüsste man nicht, dass gerade er schon immer ein Protagonist der antizionistischen israelischen Linken war. Ernsthafte Folgen für die israelische Politik wird seine Rede vorläufig nicht haben. Wo ein Lapid nicht aus Verzweiflung, sondern billigem politischem Kalkül den Schlachtruf der antizionistischen Meute aufgegriffen hat und den Willen zur Vernichtung Israels als die völkerbeglückende Ablehnung aller Ungerechtigkeit neu definieren wollte, bleibt bei friedlichen Leuten das eine gemeinschaftsstörende Wort zurück: der Hass.
Am 23. Mai 2021 veranstaltete die Israelitische Kultusgemeinde Nürnberg als Antwort auf die israelfeindlichen Umzüge von Hamas-Anhängern in mehreren deutschen Städten eine Kundgebung unter dem Motto „NEIN zu Judenhass“. Die dort angetretenen zahlreichen Redner aus Kirchen, Parteien und Verbänden hatten ihre kurzen Statements bestimmt ohne Verabredung schon unisono auf den Slogan „Gegen den Hass“ heruntergewirtschaftet, der übrigens ein Buchtitel aus dem Jahr 2016 von ausgerechnet Caroline Emcke ist. Nur eine Minderheit verwies mit Genugtuung auf den gegenseitigen Hass, der angeblich in israelischen Städten während des Raketenbeschusses zwischen Arabern und teilweise auch Israelis geherrscht hätte. Die Mehrheit der Kundgebungsredner wollte einfach ein Zeichen der Versöhnung setzen, wer mit wem auch immer. Die Nürnberger jüdische Gemeinde hat völlig verkannt, dass sie mit ihrem gegen den Judenhass der Palästinenser gerichteten Slogan Tür und Tor geöffnet hat für eine ganz andere Haltung, die im Hass das überall schädigend wirkende Gegenprinzip zu einer angeblich um konsensuale Konfliktlösung bemühten gewaltfreien Gesellschaft erkennt.
Hass, also die sehr persönliche und kompromisslose Abneigung gegen Personen, aber auch gesellschaftliche Verhältnisse, die immer auch durch Personen vermittelt sind, ist ein Gefühl, das auf Kränkungen zurückgeht, die häufig auf Erfahrungen des unerfüllten sexuellen Begehrens zurückgehen. Er tritt kränkend, auf die persönliche Diskreditierung des Opponenten ausgehend auf und wird im Fall der Verhärtung Bestandteil einer psychischen Erkrankung. Hass ist eine Form der Leidenschaft und wird unrichtig als das Gegenstück zur Liebe erklärt. Denn Liebe in der Form des Begehrens und damit Besitzenwollens des Körpers des Anderen ist nie ganz frei von Aggression. Die häufig auch mit Hass und Verfolgung drohend auftretende Begierde umzuformen in eine Verbindung zweier Menschen, in der das unmittelbar Triebhafte sublimiert ist, ohne in lauwarmes Sich-aneinander-Gewöhnen zu verkommen, ist persönlicher Wunsch und gesellschaftliche Unmöglichkeit zugleich. Mehr als eine Annäherung an diesen Zustand kann es nicht geben.
Jene Liebe, wie sie das Christentum vermittelt hat und inzwischen von weit pragmatischer auftretenden Monteuren einer stillgestellten Gesellschaft gepriesen wird, will vom egoistisch und aggressiv auftretenden Trieb nichts wissen, weshalb sie ihn in den Außenbezirk des Asozialen verweist. Die von ihnen hochgehaltene wahre Liebe, die als gesellschaftlich nützlich und deshalb auch privat beglückend gepriesen wird, ist dagegen Produkt einer Übereinkunft, wonach der Verzicht auf die Erfüllung der je individuellen Leidenschaften und damit das klaglose Einverständnis ins Ausgeliefertsein an abstrakt erscheinende gesellschaftliche Verhältnisse zur ersten Bürgertugend erklärt wird. Es geht nicht darum, den Hass als das auf Einzelpersonen gerichtete Abreagieren von Kränkungen schönzureden, sondern nur um die Erinnerung, dass es ihn gibt und jeder, der zur Selbstreflektion in der Lage ist, davon weiß – also darum, den längst vergessenen Aufruf wieder ins Gedächtnis rufen, wonach es gelte, den Hass produktiv werden zu lassen. Das hieße, ihn aus dem engen Bereich des nur Persönlichen herauszulösen und als idiosynkratischen Impuls unversöhnlicher Kritik an gesellschaftlichen Verhältnissen und auch an den diese repräsentierenden Personen ins Recht zu setzen.
Vom wilden, zerstörerischen, in den Wahnsinn kippenden Hass, der bei aller Verzerrung noch das Element der Leidenschaft in sich trägt, unterscheidet sich alles, was heute als Hass und Hetze gegen wahlweise Minderheiten oder kanonisierte und deswegen noch lange nicht substantielle Wahrheiten angeprangert wird. Tatsächlich sind all diese hate speeches genannten Maßlosigkeiten frei von jeder Leidenschaft, lediglich rhetorische Surrogate davon werden zur Unterstreichung der Authentizität, des Betroffenseins etc. dem Text implementiert, hinter dem sich ein depravierter Nörgler oder faktengestählter Bescheidwisser verbirgt, der buchhalterisch wirkliche oder unterstellte Verfehlungen beziehungsweise Fehlentwicklungen aufsummiert. Die Exorzierung des Wortes „Hass“ aus jedem gepflegten Diskurs hat längst stattgehabt und auch kluge Leute passen sich dem Trend an, indem sie ihre Einsprüche gegen hässliche Erscheinungen sorgsam von jeder Spur persönlicher Leidenschaft reinigen und zugleich verärgert jede Polemik oder Agitation als sachfremden, den Diskurs störenden Ausdruck unzulässiger Emotionalität zurückweisen. Dabei geht es, wenn von Kritik die Rede ist, primär gerade darum, dass sie, welcher Stilmittel sie sich auch bedienen mag, unversöhnlich auftritt. Auf der anderen Seite wird die Form, in der Kritik allgemein akzeptiert ist, zum Erkennungszeichen von Gesinnung, oder kurz zum Indiz für die Aussöhnung mit den falschen Verhältnissen, in denen man irgendwie reüssieren will.
„Erich Fromm habe zwar produktive Ideen“ schrieb Max Horkheimer im Juni 1934 an Friedrich Pollock, „aber er gefalle ihm nicht sehr, da er mit zu vielen Leuten auf gutem Fuß stehen wolle. Darin kündigte sich bereits ein Vorwurf an, den Horkheimer später im Briefwechsel mit Adorno ausdrücklich Sohn-Rethel machte: es fehle der von Hass geschärfte Blick auf das Bestehende.“ Hintergrund war ein Artikel Fromms, in dem er Freud vorwarf, „hinter der von ihm geforderten ‚Toleranz‘ des ‚indifferenten‘ und ‚gefühlskalten‘ Analytikers verberge sich die Respektierung gesellschaftlicher Tabus des Bürgertums, die den Patienten zu seinen Verdrängungen veranlasst hätte; verberge sich mehr oder weniger unbewusst eine autoritäre patrizentische Haltung.“ Stattdessen verlangte Fromm, auf Sándor Ferenczi zurückgreifend, vom Analytiker positive Eigenschaften wie Takt und Güte: „Eine Analyse könne erst dann erfolgreich beendet werden, wenn der Patient seine Angst vor dem Analytiker verloren und ihm gegenüber ‚Gefühle der Gleichberechtigung‘ erlangt habe.“ (3) Man kann solchem offenbar produktiv gemachten Hass entsprungene Zurückweisungen von antiautoritär daherkommender Anbiederung an die unglücklich machenden Verhältnisse noch weiter treiben. Am 2. Juni 1941 schrieb Adorno an Horkheimer: „Es ist schon so weit gekommen, dass Menschenfreundlichkeit beinahe ein Indiz für Gemeinheit ist. […] Die Gemeinheit der Menschenfreunde dürfte darin stecken, dass die Güte einen Vorwand bietet, an den Menschen genau das zu bejahen, wodurch sie sich selber nicht bloß als Opfer, sondern als virtuelle Henker bewähren.“ (4)
Der vom Hass geschärfte Blick auf das Bestehende, den Horkheimer als Voraussetzung jeder Kritik benannt hatte, muss sich auch auf die Repräsentanten eines Diskurses beziehen, der allein dazu dient, den bloßen Gedanken zu delegitimieren, dass es gute Gründe dafür geben könnte, wenn Deutschland zu seiner Staatsräson die Sicherheit Israels zählen würde. Eine dieser Gestalten, auf die als Feindin Israels immer wieder mit dem Finger gezeigt werden müsste, ist die Professorin Stefanie Schüler-Springorum, die maßgeblich an der im März 2021 veröffentlichten „Jerusalem Declaration on Antisemitism“ mitgearbeitet hat, in der jede „antizionistisch“ begründete Aggression gegen Israel als eindeutig nicht antisemitisch kategorisiert wird, und 2020 genauso führend an der Initiative GG 5.3 Weltoffenheit beteiligt war, die allein der Weißwaschung einer international agitierenden antisemitischen Organisation verpflichtet war. Dieser Leiterin des Berliner Zentrums für Antisemitismusforschung ist vorzuwerfen, dass sie den Antisemitismus qua Amt und Überzeugung nicht nur in Deutschland bienenfleißig befördert. Der folgende Auszug eines Artikels in der Zeit vom 16. Dezember 2020 bekräftigt zugleich, dass ein Gespräch mit ihr und ihresgleichen auch in Form einer „abgewogenen“ Besprechung ihrer Publikationen oder ihres Agierens bereits Mittäterschaft durch Diskursteilnahme bedeutet: „Womit wir wieder beim Antisemitismus-Vorwurf wären. Vor gut einem Jahr veröffentlichte die Bild-Zeitung eine Liste mit denjenigen zehn Institutionen und Personen, die hierzulande angeblich den Antisemitismus befördern. Auf Platz eins stand Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier (vor allem wegen seiner diplomatischen Kontakte zum Iran). So wird das Thema als politische Allzweckwaffe missbraucht, der Begriff entleert und beliebig gemacht. Und das ist ein Problem. Es gibt ihn nämlich wirklich, den Judenhass, und er nimmt zu: Laut einer Umfrage glauben 30 Prozent der Deutschen, dass unser Leben von Verschwörungen bestimmt wird, die im Geheimen ausgeheckt werden; 33 Prozent glauben, unsere Politiker seien nur Marionetten der hinter ihnen stehenden Mächte, und 40 Prozent, es gebe geheime Organisationen, die einen großen Einfluss auf politische Entscheidungen hätten – alles Vorstellungen, die entweder schon antisemitisch sind oder nahtlos dazu übergehen können. Wir sollten diese Zahlen und die dort zum Ausdruck kommenden Verschiebungen in der Tektonik unseres Landes ernst nehmen. Wir sollten die recht unterschiedlich gelagerten Positionen von Jüdinnen und Juden zu diesem Thema ernst nehmen. Und wir sollten den Willen der in dieser Initiative zusammengeschlossenen Einrichtungen ernst nehmen, die Räume für eine demokratische und auch selbstkritische Debatte offen zu halten.“
Justus Wertmüller (Bahamas 88 / 2021)
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