Dass die im Januar in Melbourne ausgetragenen Australian Open in diesem Jahr auch das Publikum außerhalb der Tenniswelt fesselten, lag nicht am Sport, sondern daran, was im Vorfeld passierte. Das mediale Interesse beim ersten der vier renommierten Grand-Slam-Turniere des Jahres galt dem derzeit besten Spieler der Welt, Novak Djokovic, der das Turnier in Melbourne schon neun Mal und damit so oft wie kein Spieler vor ihm gewonnen hat. Jedoch hat Djokovic bis dato keine Impfung gegen COVID-19 vorzuweisen. Nach einem mehrtägigen Rechtskampf, den Djokovic über weite Strecken aus einem australischen Abschiebehotel bestreiten musste, entschied ein australisches Bundesgericht am 16. Januar kurz vor Turnierstart, dass er das Land unverzüglich wieder verlassen muss. Für die mit ihrer Zero-Covid-Strategie krachend gescheiterte australische Regierung ging es in der Auseinandersetzung mit Djokovic auch um die Rechtfertigung der Maßnahmenhärte gegen die eigene Bevölkerung. Hätte der kerngesunde, aber nicht geimpfte Athlet das Turnier dominiert, ohne dass es zu irgendeinem Coronadrama gekommen wäre, so die Befürchtung der Hypochonder an der Staatsspitze, hätte dies zur Reflexion der gesundheitspolitischen Heilsmission innerhalb der Bevölkerung angeregt und womöglich die eigene rigide Coronapolitik diskreditiert. Die Angst vor einer persönlichen Blamage trieb auch Mitspieler um, etwa den Weltranglisten-Vierten Stefanos Tsitsipas aus Griechenland, der wenig selbstsicher gegen die ungeimpfte Nummer eins der Welt einwandte: „Eine sehr kleine Minderheit hat sich entschieden, ihren eigenen Weg zu gehen. Das lässt die Mehrheit irgendwie wie Idioten aussehen.“ (1) Dass plötzlich in Umkehrung des populären Schmähwortes nicht mehr Djokovic als ein „Covidiot“ gelten könnte, sondern man am Ende selbst als ein solcher dasteht, darf natürlich nicht sein. Unmittelbar nach der Urteilsverkündung, die Djokovics Ausweisung besiegelte, triumphierte deshalb der australische Premierminister Scott Morrison von der Liberal Party of Australia stellvertretend für eine politische und mediale Mehrheit: „Diese Annullierungsentscheidung wurde im Hinblick auf Gesundheit, Sicherheit und Ordnung getroffen, basierend auf dem öffentlichen Interesse. Ich begrüße die Entscheidung, unsere Grenzen stabil zu halten und die Sicherheit der Australier zu gewährleisten.“ (2)
Die wahnsinnige Behauptung, dass schon der Impfstatus eines einzelnen Sportlers die öffentliche Sicherheit und Ordnung Australiens gefährden und ein ganzes nationales Grenzregime zu Fall bringen könne, verweist zugleich auf eine Idiosynkrasie, die nicht nur der australischen Corona-Politik inhärent ist. Sie wohnt der Panikproduktion des Corona-Notstandsregimes inne, das sich wegen seiner offenkundig irrationalen Züge schon im Falle von zaghaften Einwänden und Widerständen als das erweist, was es ist: als ein äußerst fragiles ideologisches Konstrukt, das in der Ahnung der eigenen Schwäche keine Kritik dudeln kann. Der Auftritt der australischen Regierung hätte in jeder einigermaßen aufgeklärten und um ihren Ruf besorgten Öffentlichkeit jedenfalls mit kollektivem Gelächter quittiert werden müssen, schon aus der evidenten Notwendigkeit heraus, lautstarken Untergangspropheten mit weitgehenden Entscheidungsbefugnissen ihre Neigung zum realitätsvergessenen Dramatisieren mittels Bloßstellung auszutreiben. Doch die Kommentatoren folgten dem Leitmotto der letzten beiden Jahre, nämlich der Regierung im Zweifelsfall beizustehen und sich dabei das Recht auf noch mehr hemdsärmelige Asozialität herauszunehmen. So rief die australische Zeitung The Age dem abreisenden Tennisspieler stellvertretend für die Internationale der Ängstlichen folgende Hassbotschaft hinterher: „Novak Djokovic ist nach Australien gekommen, um der größte Spieler in der Geschichte des Männertennis zu werden. Er wird unter bewaffnetem Wachschutz als unerwünschter Ausländer und toxische Ikone der Anti-Impf-Bewegung das Land verlassen.“ (3)
Betrachtet man das tatsächliche Verhalten des Ausgewiesenen, das schlichtweg kein Interesse an einer Eskalation erkennen lässt, wirkt die Feindmarkierung noch skurriler. Bei seiner Ankunft am 5. Januar legte Djokovic den zuständigen Grenzbeamten die für nach Australien reisende Ungeimpfte erforderliche medizinische Ausnahmegenehmigung vor, die von einem unabhängigen Expertengremium des australischen Tennisverbandes zertifiziert und zudem von einem Gremium der Regierung des Bundesstaates Victoria überprüft worden war. Djokovic wurde ferner im Dezember 2021 ein positiver PCR-Test bescheinigt, wodurch er als „Genesener“ australisches Territorium betrat und sich entsprechend der dort geltenden Quarantäne-Bestimmungen frei bewegen konnte. Doch die Dokumente reichten nicht aus, es fehlte eine von der australischen Bundesregierung gezeichnete Einreisegenehmigung. Sein Visum wurde deswegen annulliert, woraufhin er von der Australian Border Force in einem Abschiebehotel in Melbourne festgesetzt wurde. Dem erhobenen Einspruch gegen diese Entscheidung wurde am 10. Januar wegen eines Formfehlers der Grenzbehörden stattgegeben. Während Djokovic sich nun wieder auf das Turnier vorbereitete, wurde das mediale Interesse wegen einiger Detailfragen immer größer. Denn der in Monaco lebende Serbe hielt sich kurz vor seinem Flug nach Australien in Spanien und Serbien auf, hatte aber auf einem Einreiseformular die Frage, ob er in den vierzehn Tagen vor dem Flug nach Australien gereist war, nach seinen Worten versehentlich verneint. Zudem tauchten Fotos auf, die ihn kurz nach seinem positiven Test im Dezember 2021 ohne Maske in einem Interview mit der französischen Sportzeitung L’Equipe zeigen. (4)
Es gab also reichlich Stoff zur Empörung, bis der australische Einwanderungsminister Alex Hawke am 14. Januar das Visum von Djokovic für unzulässig erklärte. Bei seiner Entscheidung berief sich Hawke auf den sogenannten Biosecurity Act, ein biopolitisches Notstandsregelwerk aus dem Jahr 2015, das die heimische Fauna und Flora vor sogenannten invasiven Arten schützen soll, aber auch die australische Regierung ermächtigt, im Interesse der öffentlichen Gesundheit die Grundrechte der Bürger einzuschränken oder aufzuheben. Auf der Grundlage des Gesetzes kann der zuständige Minister auch über den Aufenthalt einzelner Personen im Land entscheiden, sofern von diesen eine Gefahr für die öffentliche Gesundheit ausgeht. Weil die Regierung geahnt haben dürfte, dass der Impfstatus von Djokovic allein nur mit sehr viel Fantasie als reelle Gesundheitsgefahr für das ganze Land vermittelt werden kann, wurde er zum Risiko-Influencer erklärt, dessen Prominenz sich schädlich auf die Entwicklung insbesondere der australischen Jugend und labile Erwachsene auswirken könne – eine Praxis, die man vor allem aus totalitären Staaten kennt, die aber auch für westliche Sicherheitsfetischisten immer attraktiver wird, die angesichts der wachsenden medialen Beeinflussung der zunehmend desorientierten Einzelnen die Kontrolle über die Meinungsbildung gewinnen wollen.
Laut den Bundesrichtern war die Einschätzung der australischen Regierung angemessen, weil man es im Fall des Tennisprofis mit einem auch politisch ansteckenden Impfgegner zu tun hätte. In den Unterlagen, die das Gericht am 20. Januar veröffentlichte, heißt es: „Ein Tennis-Weltstar kann Menschen jeden Alters beeinflussen, ob jung oder alt, aber vielleicht besonders die jungen und die leicht zu beeindruckenden“. (5) Dass Djokovic bislang keineswegs als Antiimpf-Agitator in Erscheinung getreten ist, tat nichts zur Sache. Im April 2020, zu einem Zeitpunkt also, zu dem noch gar kein Impfstoff existierte, hatte er in einem Live-Chat auf Facebook lediglich folgendes Statement zur Corona-Impfung für den Fall einer möglichen Impfpflicht abgegeben: „Ich persönlich bin gegen eine Impfung und möchte nicht von jemandem gezwungen werden, einen Impfstoff zu nehmen, um reisen zu können“. (6) Auch danach hatte er wiederholt erklärt, zwar kein grundsätzlicher Impfgegner zu sein, sich aber aktuell nicht zu einer Covid-Impfung nötigen lassen zu wollen. Der Gedanke, dass ein von Coaches und Ärzten zwecks Selbstoptimierung umgebender Sportler, der ein naheliegendes Interesse am Erhalt seiner Leistungsfähigkeit hat, wissen wird, welche Gründe für und gegen die Impfung sprechen, kam gar nicht erst auf. Statt einfach auszuhalten, dass Djokovic eine nicht mehrheitsfähige Meinung vertritt, nahm etwa die Fluglinie Ryanair am 15. Februar den vermeintlichen Widerspruch, einerseits pro und doch zugleich contra Impfung zu sein, zum Anlass, gegen Djokovic twitternd zu höhnen: „Wir sind keine Airline, aber wir fliegen mit Flugzeugen.“ Für diesen bemüht ironischen Tweet im Zeichen des politisch korrekten Marketings gab es immerhin über 180 000 Likes, weitaus mehr als die Fluglinie ansonsten mit ihren Posts einsammelt. Zu diesem Zeitpunkt hatte das australische „Corona-Drama“ (Blick) längst so viel öffentlichen Druck gegen Djokovic erzeugt, dass er mit Peugeot seinen bisherigen Hauptsponsor verlor.
Während Fernsehen, Leitartikler und Klassensprecher des um verkaufsfördernde wokeness bemühten Kapitals übereinstimmten, dass der Weltstar nicht nur seine Vorbildrolle in schändlicher Weise verletze, sondern seine Karriere der Sturheit opfere, stand die rigide Grenzpolitik Australiens gar nicht erst zur Debatte. Dabei hat der australische Staat der Bevölkerung während der letzten zwei Jahre sinnloserweise Dinge angetan, welche die willkürliche Politik der meisten anderen westlichen Staaten noch in den Schatten stellte. Die Maßnahmen waren in Australien derart repressiv, dass selbst das ZDF im Sommer 2021 verstört fragte: „Verstößt Australien gegen die Menschenrechte?“ (7) In der „Anti-Corona Festung“, wie das Musterland der totalen Virusbekämpfung von Zero-Covid-Anhängern genannt wird, die das Land zusammen mit dem ähnlich rigide vorgegangenen Neuseeland als Beleg dafür anführten, dass auch in westlich verfassten Staaten chinesische Wuhan-Lösungen möglich seien, waren die Grenzen länger als anderswo dicht. (8) Es galten strikte Reiseverbote und fortwährende Ausgangssperren, allein Melbourne brachte es auf über 240 Lockdown-Tage. Auch bei den immer neuen Vorschriften zum Vermummen, Abstandhalten und Aufpassen zeigte sich Australien besonders kreativ und setzte zusätzlich wie Deutschland darauf, Ungeimpften unabhängig von der von ihnen ausgehenden Gefahr das Leben möglichst schwer zu machen. Bestärkt wurde der Inselstaat durch anfängliche Erfolgsmeldungen hinsichtlich der im internationalen Vergleich geringen Infektionszahlen. Doch Ende 2021 stiegen diese auch in Australien, so dass selbst mehrere Regionalregierungen kleinlaut einräumten, dass die Zero-Covid-Strategie das Ziel verfehle – eine späte Einsicht, die den gesellschaftlich folgenreichen Aktionismus jedoch nicht stoppte.
Australiens Reaktion auf das Corona-Virus, das Bestreben also, Ansteckungsmöglichkeiten mittels biopolitischen Risikomanagements zu minimieren, wurde durch eine traditionelle Sicherheitspolitik des Inselstaates begünstigt, die in der Vergangenheit insbesondere bei der Einwanderungspolitik Kritiker auf den Plan rief, um die es jedoch in den vergangenen beiden Corona-Jahren erstaunlich still geworden war. Beklagten beispielweise nicht wenige vor Corona eine australische Abschottungspolitik gegenüber Flüchtlingen, bejubelten dieselben als bekennende Zero-Covid-Anhänger umso mehr die australische Politik der geschlossenen Grenze. Es kann die Insellage durchaus von Vorteil sein, um Gefahren minimieren zu können, was viele Australier zu schätzen wissen und bei vergangenen Wahlen entsprechend berücksichtigten. (9) Für Grenzschutz steht auch Premier Scott Morrison, der im Mai wiedergewählt werden möchte und mit seinem Auftritt im Fall Djokovic bereits auf Wahlkampf schaltete. Anders als in Deutschland, wo Fragen nach einer sinnvollen Einwanderungspolitik im Verdacht stehen, bloßer Vorwand für rassistische Schlechtigkeit zu sein, schließt die auf die Sicherheit und Entwicklung der gesamten Gesellschaft bedachte Einwanderungspolitik in Australien auch die Reflexion möglicher Schwierigkeiten mit ein, was von einem nationalen Selbstbewusstsein zeugt, das auch dazu beiträgt, dass mit despotischen Staaten wie Russland und China offen kritisch und nicht zwangsdialogisierend umgegangen wird. Eine solche auf den Schutz der nationalen Gemeinschaft abzielende Politik ist allerdings insbesondere in der Gesundheits- und Hygienepolitik mit Panikproduktion untrennbar verknüpft. In der Praxis geht sie oftmals mit der Reproduktion borniertester Ressentiments einher, die als frei flutende kollektive Irrationalität handlungsleitend werden können. Zumal sich mit dem populären Paradigma des Beschützens von Themen ablenken lässt, die objektiv dringlicher sind, zu deren Entschärfung die Politik unter der Herrschaft des Kapitals jedoch wenig beizutragen vermag. Dass die als potentielle Panikmeute betreute Bevölkerung sich überhaupt den Paternalismus diskursführender Einpeitscher gefallen lässt, die Freiheiten immer skrupelloser willkürlich einschränken und dann wieder gönnerhaft zuteilen, liegt allerdings nicht nur an den Besonderheiten Australiens und nicht nur an Corona. Für die die gesamte Gesellschaft durchdringende Entgrenzung des staatlichen Handelns steht die zeitgenössische Präventions- und Risikopolitik als zeitgemäße Form der Menschenverwaltung. Ihr eigen ist ein überall immer öfter zu beobachtender Kreislauf: Die von allerlei Experten und Profiteuren ausgerufenen und mittels moderner Propagandatechniken verstärkten Schreckensszenarien, die die Bürger gleichsam umsichtig und gefügig machen sollen, produzieren intensiv empfundene Ängste, die wiederum zur Folge haben, dass die Verschreckten und von den staatlichen Apparaten ohnehin vollkommen Abhängigen die lautesten Sicherheitsspender ganz vorne sehen möchten. Die bisweilen optimistisch vorgebrachte These, nach der Corona eine den ökonomisch Deklassierten zugutekommende im Kern etatistische Sozialstaatspolitik begünstige, ist zumindest in dieser Positivität nichts als Trug. Vielmehr bedeutet der Fokus auf prophylaktische Sicherheit samt der neuen infantilen Achtsamkeitsimperative die Totalisierung eines allenthalben pastoral intonierten postmodernen Machiavellismus, dessen Protagonisten den verachteten, weil zur unvorsichtigen Trägheit neigenden Einzelnen als politisch und gesellschaftlich grundsätzlich überfordertes und entsprechend zu verwaltendes Risiko fokussieren, derweil gegen die von der jeweiligen Generallinie punktuell Abweichenden eine nur mehr offen gehässig zu nennende Politik des hypothetischen Verdachts praktiziert wird. So klangen Morrisons pathetische Töne über stabile Grenzen und sichere Australier anlässlich der Ausweisung von Novak Djokovic schließlich nicht nach souveräner Politik westlicher Provenienz, sondern keinesfalls zufällig wie ein Abgesang auf den Westen.
Hierzulande hält sich das Verständnis für jedwedes Unbehagen gegenüber der repressiven Corona-Politik bekanntlich in engen Grenzen. Umso überraschter durfte man sein, dass der Norddeutsche Rundfunk (NDR) den Fall Djokovic zum Anlass nahm, etwas genauer hinzuschauen: „Australien war eine Festung. Familien wurden für diese Zeit auseinandergerissen, selbst zu Beerdigungen eines Familienmitglieds durfte nicht eingereist werden. Hinter Melbourne, dem Austragungsort der Australian Open, liegen sechs Lockdowns, so viele gab es weltweit nirgendwo anders.“ Der norddeutsche Blick war jedoch nur scheinbar ein kritischer, denn als Kritik waren die Worte ausdrücklich nicht verfasst. Gemeint war vielmehr nicht nur beim NDR, dass sich mit etwas Verständnis für die abstrakte Idee des Lebensschutzes mit den ins Private massiv übergreifenden politischen Schikanen schon irgendwie leben lässt, nicht aber mit einem wie Novak Djokovic. Was der sich herausnehme, so der NDR weiter, sei nämlich ein „Schlag ins Gesicht aller Australier, die in den vergangenen anderthalb Jahren harte Corona-Beschränkungen über sich ergehen haben lassen.“ (6.2.2022)
Solch pseudoempathisches Beklagen von Solidaritätsverweigerung und verantwortungslosem Egoismus dient nur dem Zweck, die benannten Beschränkungen für angemessen und vor allem alternativlos zu erklären. Es ist zugleich Ausdruck einer fortgeschrittenen Entpolitisierung, die zur kollektiven Reflexionsverweigerung hinsichtlich des permanenten Ausnahmezustands ihren moralinsauren Beitrag leistet und jeden Kritiker wie von selbst zum asozialen Gemeinschaftsschädling stempelt. Das Sachzwang-Argument, das stets bemüht wurde, um ökonomische Scheußlichkeiten als unumgänglich zu deklarieren, gilt inzwischen ganz besonders auch in der herrschenden Fürsorgetechnokratie: Wer vorgibt, wissenschaftlich legalisiert im Names des Beschützens und Rettens aktiv zu sein, hat im Zweifelsfall Deutungshoheit. Dauernd müssen dabei Leidende präsentiert und rührselige Geschichten ausgepackt werden, nicht um irgendetwas zum Besseren zu wenden, sondern um das, was ist, gefühlsduselig zu verteidigen. Wo sich die Gesellschaft unter Verkündung szientistischer Alternativlosigkeit zum moralischen Kollektiv formiert, darf auch jener in Deutschland besonders beliebte Vorwurf nicht fehlen, der immer dann ertönt, wenn unschuldig verfolgt werden soll: „Tennisspieler sind Einzelkämpfer, aber deswegen müssen sie keine Egoisten sein. Das Verhalten von Novak Djokovic in der Corona-Pandemie aber ist genau das: egoistisch.“ Dass die am 10. Januar so wehklagende Tagesthemen-Moderatorin Julia Büchler ausgerechnet einem Leistungssportler Egoismus vorwirft, für den Konkurrenzkampf, Neid auf Erfolg und selbstverständlich auch Rücksichtslosigkeit gegen sich selbst und andere zur Basis seines Erfolgs zählen, ist besonders lächerlich, verweist aber auch auf jenen Absolutheitsanspruch, der mit dem zeitgenössischen Paradigma des sorgsamen Regierens zusammenhängt. Denn jeder Einzelne muss erreicht werden und dessen Loyalität soll umfassend sein. Die als Mischung aus Infantilität und Befehl daherkommende Corona-Propaganda, die im Demospruch „Impfen statt schimpfen“ trefflich zusammengefasst ist, trifft auf ein regierungsnahes Milieu, in dem Gehorsam und Verzicht für die gute Sache gleichermaßen als nachhaltige Bewährungsprobe und Beschäftigungstherapie geschätzt werden. Zwar ist der Kampf gegen den Egoismus von jeher konstitutiver Bestandteil bürgerlicher Ideologie, sollen doch Erfolg und Genuss schon deshalb auf höhere Werte zurückführbar sein weil ein allzu selbstsüchtiges Handeln zu viel über das Betriebsgeheimnis der herrschenden Konkurrenzordnung verraten würde. Doch setzten derlei Egoismusvorwürfe einst voraus, dass man es beim Vorankommen tatsächlich mit der Rücksichtslosigkeit gegenüber anderen übertrieben hatte. Dagegen reicht in nachbürgerlichen Krisenzeiten allein der Verdacht aus, nicht mitmachen zu wollen, um als aussätziger Egoist am Pranger zu stehen. Der damit zusammenhängende massenkulturelle Konformitätsdruck verbindet auch die unterschiedlichen Mobilmachungen der letzten Jahre. Gegen diese gibt es gute Gründe, den Egoismus zu verteidigen: So sehr egoistische Ziele auf ein beschränktes Dasein verweisen, so sehr ist eine vernünftige Einrichtung der Gesellschaft nur als eine am individuellen Glück orientierte vorstellbar, woran egoistische Zwecke und Setzungen trotz allem erinnern. In der Risikogesellschaft von heute geht es allerdings kaum noch um konkret individuelles Verhalten im Umgang mit Kollegen oder um rücksichtlosen Genuss im Zwischenmenschlichen, zu dem ohnehin kaum noch einer der Rückzugswilligen in der Lage ist, sondern um proklamierte Verantwortungslosigkeit abstrakten Zielen gegenüber, um die Schuld, die derjenige auf sich lädt, der vor den ausgegebenen Imperativen nicht in die Knie sinkt. Die hingenommenen Nötigungen im Namen des Gesundheitsschutzes zeigen auf, dass die Bereitschaft groß ist, minimale Freiheiten und jenes unterschiedlich verteilte Lebensglück zu opfern, für das der Westen einmal stand.
Man mag berücksichtigen, dass der hetzende TV-Hampelmann, der seine Talentlosigkeit als Moderator mit juveniler Rohheit kompensiert, aus begründetem Neid gegenüber Schmidt so in Fahrt kommt, nur macht’s das nicht besser. In seinem Wortschwall manifestiert sich der Wunsch nach einer strafenden Instanz des autoritären Staates, von dem das Kollektiv der Denunzianten die Kaltstellung der egoistischen Gefährder verlangt. Weil man bis zur totalen Selbstinfantilisierung wirklich alles stolz mitgemacht hat, sollen sich auch alle anderen gefälligst zusammenreißen. Noch gibt es im Westen eine vage Vorstellung davon, wo die Grenzen des staatlichen Zugriffs liegen sollten, woraus sich ein bisweilen noch vernehmbarer Rechtfertigungszwang ergibt. Je deutlicher wird, dass man es bei der Etablierung einer nicht enden wollenden hygienepolitischen Kontrollprozedur übertrieben hat, desto heftiger werden die stattgehabten autoritären Tabubrüche verteidigt. Hierzu zählt auch die als bloße Projektion erkennbare Rede von „Verschwörungserzählungen“, welche die verschworene Gemeinschaft der eifrigsten Mitmacher ihren Gegnern vorwirft.
Von den drei Profis, die das Herreneinzel im Tennis seit über zehn Jahren dominieren, ist der Schweizer Federer Publikumsliebling und gilt auf und neben dem Platz als Verkörperung von spielerischer Eleganz und Bescheidenheit, während der bis zur Selbstgeißelung um jeden Punkt fightende Spanier Nadal unter den eher biederen Tennisfans als Naturgewalt auf zwei Beinen Kultstatus genießt. Nur bei Djokovic mischen sich seit jeher kritische Töne in den ihm entgegengebrachten Respekt: Er spiele zu wenig spektakulär, sei zu aufbrausend und häufig eine Spur zu ehrgeizig. Das, was seit Melbourne gegen ihn initiiert wird, hat mit Vorlieben in Sachen sportlicher Unterhaltung nichts zu tun. Seinen Gegnern ging es darum, ihn als Sportler und als Bürger zu erledigen. Dass er sich wohl in einer „verqueren Welt der Verschwörungstheorien, des Geschichtsrevisionismus und des serbischen Nationalismus verloren“ habe, konstatierte etwa die aufs Schnüffeln spezialisierte Frankfurter Rundschau und machte ihm nicht nur zum Vorwurf, falsche Leute wie „Pseudohistoriker, Ultranationalisten und Verschwörungstheoretiker“ zu treffen. Ausgerechnet Djokovics Hang zur Esoterik befand das Blatt für besonders anstößig, als hätte man in deutschen Medien nicht stets ein offenes Ohr für alternative Wege zur ganzheitlichen Selbstaufrüstung; als wäre die Nachfrage nach endgültigem Seelenheil und alternativmedizinischer Körperveredelung nicht in jenen grün-alternativen Stadtbezirken wie etwa dem Frankfurter Nordend besonders hoch − also dort, wo die Frankfurter Rundschau immer noch besonders gerne gelesen wird.
Die Kopfnoten für Djokovic fielen selbstverständlich schlecht aus: „Aber traurig ist sie natürlich immer wieder: die Erkenntnis, dass der vielleicht beste Tennisspieler der Geschichte, der so viel Gutes tun könnte mit seinem Einfluss, irgendwie auch ein rechter Holzkopf zu sein scheint.“ (6.1.2022) Dass der vielleicht beste Spieler der Geschichte zu sein nicht mehr ausreicht, dass man als solcher obendrein ein weltanschaulich gefälliger Zeitgenosse zu sein hat, den man bedenkenlos als Multiplikator der Regierungsposition vor Schulklassen stellen kann, bezeugt wohl auch die fundamentale Schwächung des Leistungsprinzips zugunsten der richtigen Gesinnung. Vor diesem Hintergrund gilt es wohl in Erinnerung zu rufen, dass das Leistungsprinzip immerhin bemisst, was jemand kann − und nicht, was jemand ist bzw. meint zu sein, und somit zwingend ein gewisses Maß an praktischem Realitätsbezug verlangt.
Von Djokovics individueller Verdorbenheit kam man zielsicher auf seine Herkunft. Das „kleine Land mit großen nationalistischen Komplexen“ (Deutschlandfunk, 17.1.2022) instrumentalisiere den weltbekannten „Nationalheld“ für politische Scharmützel, so die Journalistin Caroline Fetscher vom Tagesspiegel im Deutschlandfunk. Anlass der Erregung war die Leidenschaft, mit der viele Serben ihrem Sportidol beisprangen, um schließlich das australische Vorgehen als antiserbisch zu interpretieren. Serbiens Präsident Aleksandar Vučić hatte tags zuvor sogar gewütet, man behandele den Tennisstar „wie einen Massenmörder“ (Süddeutsche Zeitung, 16.1.2022) – was schon deswegen ein schiefer Vergleich ist, weil wegen eines Massenmörders im Regelfall kein nationaler Notstand ausgerufen wird. Im Falle des serbischen „Opfernarrativs“ habe man es, so Fetscher, mit einer „Mischung aus Projektion und Phantasma“ zu tun, die „kaum zu toppen“ sei. Den Grund für die ihrer Ansicht nach besonders brutale Larmoyanz verortet sie im jugoslawischen Bürgerkrieg, den sie aus dramaturgischen Gründen auf folgenden Aspekt verkürzt: „Wenn es irgendwo in Europa nach dem Zweiten Weltkrieg Massenmörder gab, dann waren es leider Verbrechen wie Srebrenica, was ein Massenmord war von serbischen Paramilitärs und Militärs an mehrheitlich muslimischen Bosniaken. Es gab mehrere Massenmorde auch im Kosovo. Das ist ein großes Tätertrauma der Serben.“
In Wahrheit sind es solche antiserbischen Invektiven, die eine der historischen Wahrheit verpflichtete Bestimmung der Rolle Serbiens im Jugoslawien-Krieg verunmöglichen. Am hässlichen Nationalismus, den es unter Serben sehr wohl auch gibt, ist nichts zu beschönigen, nur hat das bereitwillig abgespulte Programm der kritischen Völkerpsychologin wenig mit Djokovics Rauswurf aus Australien zu tun, insofern fällt Vorwurf der Instrumentalisierung auf Fetscher selbst zurück. Das Gerede über das Tätertrauma der Serben fällt in eine Zeit, in der sich die Panik der Regierenden samt ihren medialen Unterstützern in Australien und anderswo ausbreitet, dass man ihnen ihre Politik doch noch anlasten und womöglich Rechenschaft verlangen könnte. Blieben die Australier immerhin schwerpunktmäßig bei der ausgemalten Gesundheitskatastrophe, bestand der sehr deutsche Beitrag darin, einen ausländischen Sportler als Sohn einer Täter-Nation zu pathologisieren, als Repräsentanten einer Mörderbande, die qua Herkunft nicht anders kann als andere ins Verderben zu führen. Derart urteilende Deutsche übersehen bei ihren Analysen des serbischen Charakters gerne, dass die serbische Reaktion gegen den Westen umso nationaler wurde, je mehr man ihre Angehörigen kollektiv in die Enge getrieben hat. Keinesfalls zufällig entfällt den Deutschen in der Rückschau auf Kriege und Schrecken „nach 1945“ immer wieder Jugoslawien. Denn das Bombardement Belgrads unter deutscher Beteiligung passt nicht so recht zum moraltriefenden Dialog- und Friedenskitsch, den die Sprecher Deutschlands ohne Unterlass von sich geben. Die von Außenminister Fischer damals in selbstanklägerischer Pose vorgetragene, auf Fälschungen und Halbwahrheiten basierende Heuchelei, wegen Auschwitz schweren Herzens Krieg fürs Menschenrecht im Kosovo führen zu müssen, war an Niederträchtigkeit kaum zu überbieten. Das Argumentationsmuster entwickelte sich nichtsdestotrotz zur heute nicht mehr wegzudenkenden Staatsraison, die als Schicksalsauftrag ausgewiesen wird und das niemals tatenlose Zuschauen ebenso in petto hat wie das gnadenlose Wegsehen im Fall der Ukraine.
Es passt ins ideologische Schema und widerspricht sich keineswegs, dass Djokovic als ausgemachter Angehöriger eines Tätervolks zugleich als der „Kriegsjunge“ Djokovic deutsches Mitleid erregt und mitunter gar seine Tenniskarriere zum Aufstieg eines Kriegsversehrten verkitscht wird – nicht zufällig heißt die im März erschienene erste Djokovic-Biographie auf Deutsch Ein Leben lang im Krieg. Solange man aus historischer Verantwortung aus mündigen Menschen Betreuungsfälle machen kann, gegenüber denen man sich wegen Auschwitz als Schutzmacht aufspielt, solange gilt das subsidiäre Schutzprinzip bis auf Widerruf, hinter dem sich die Deutschen auch im Fall der Ukraine verschanzen: Statt Flüchtlingen einfach nur zu helfen, kommt zum wiederholten Mal ein Stück hemmungsloser Selbstinszenierung zur Aufführung, die aktuell vor allem dem Zweck dient, sich als karitative Großmacht ja nicht zu sehr als westliche Kriegspartei gegen Russland zu positionieren.
Zu größerer Bekanntheit gelangte die gesamte Familie Djokovic, die in eigens einberufenen Presseerklärungen energisch für den Sohn Partei ergriff und bei diesen Gelegenheiten auch gegen Australien austeilte. Dass ein Mann Mitte dreißig mit dessen offensichtlicher Billigung öffentlich von seiner Familie vertreten wird, hat zweifelsohne etwas Befremdliches und hängt wohl damit zusammen, dass Profikarrieren im Tennis durch intensive Förderung oftmals der Eltern zu einem biografisch frühen Zeitpunkt starten, wobei vieles auf der Strecke bleibt, was Distanz zur Familie schafft. Das Zusammenwachsen der Sippe, die ihren Insassen archaisches Vertrauen spendet, verbindet die Familienpolitik der zusammengluckenden Tennisfamilie mit allgemeinen Tendenzen auch außerhalb des Sports. Vater Srdjan Djokovic geriet jedoch nicht deswegen in den Fokus der Öffentlichkeit, sondern wegen folgendem Nonsens: „Jesus wurde gekreuzigt und vielen Dingen unterworfen, aber er hat durchgehalten und lebt noch unter uns. Novak ist auf die gleiche Weise gekreuzigt worden.“ Obgleich man sich auch in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung längst vom christlichen Abendland verabschiedet hat, wollte man eine solche Banalisierung nicht auf Jesus sitzen lassen: „Im Vater von Novak Djokovic sind zwei Eigenschaften eine Verbindung eingegangen, die auch sonst oft gemeinsam auftreten: Größenwahn und Dummheit. Anders lässt sich das Interview, das der Vater des Tennisspielers zu den Unannehmlichkeiten seines Sohnes in Australien gegeben hat, kaum deuten.“ (7.1.2022) Nach der unerhörten Jesusverleumdung musste auch das in Bayern ansässige evangelische Sonntagsblatt eingreifen: „Bereits vor Novak Djokovic wurden Menschen, die sich öffentlicher Kritik aufgrund ihrer Aussagen oder ihres Verhaltens ausgesetzt sahen, mit Jesus verglichen. Das ist selten angebracht – in diesem Fall allerdings ist es besonders frech. Denn seit wann steht Jesus für rücksichtsloses Verhalten? Wann genau hat Jesus Egoismus und Besserwisserei über Vernunft und Verantwortung gestellt? Und wann nochmal wurde Jesus dafür gekreuzigt, dass er sich weigerte, seine und die Gesundheit anderer zu schützen?“ (11) Gewiss, man muss schon ziemlich abgefeimt und verzweifelt sein, um sich derart inferior an die Mehrheitsmeinung ranzuschmeißen, weil man sich davon eine Ablenkung von der kurrenten Kirchenkrise verspricht. Noch bemerkenswerter aber ist, dass man vor lauter interessiertem Beschuldigungswahn nicht mal davor zurückschreckt, Jesus in einen ausgewogenen Gesundheitsfreak mit Hang zum Sozialkitsch zu verwandeln, ihn also zu einem lebensnahen Idol zu vermenscheln, das Moralisten vom Sonntagsblatt rein zufällig auch noch zum Verwechseln ähnlich ist.
Von Beginn an war das ganze Covid-Mitmachtheater auch als Ehrenamt für die gesamte Bevölkerung angelegt; erst sollte, dann musste sich jeder einbringen, gerne mit dem, was er kann. Zwangsläufig musste dies zu einer selbst für deutsche Verhältnisse kompromittierenden Anhäufung von Hässlichkeiten im Dienste der Propaganda für die Volksgesundheit führen. Dieses Einspannen aller, die schiere Anzahl derer, die mitkontrolliert, Quatsch erzählt und mitdenunziert haben, ist zugleich ein Grund, warum die dringend gebotene Aufklärung kaum stattfinden wird.
Eine religiöse Konnotation ganz anderer Art fiel indes der britischen Konservativen Mary Harrington auf. Anlässlich der rational selbst bei bestem Willen nicht erklärbaren Angst von Fans, die wegen Djokovic ankündigten, die Australian Open meiden zu wollen, urteilte sie, dass die zelebrierte Covid-Angst mehr mit gesellschaftlicher als mit bakterieller Reinheit zu tun habe. Die wachsende Tendenz, so Harrington weiter, die Ungeimpften als „unrein“, mithin toxisch zu behandeln, erinnere an christliche Ausschlussprozeduren gegenüber Ungetauften, die man aus vergangenen Zeiten kennt: „Die Impfung hat zunehmend (auch) eine soziale Bedeutung neben der medizinischen. Sie wird zu einer rituellen Infusion − wenn auch als Spritze, nicht als Salbung − einer heiligen Flüssigkeit, dessen Anwendung Freiheit von einem spirituellen Makel gewährt.“ (12) Anlässlich der massenhaften Empfänglichkeit für die neuen Begrüßungsriten, pastoralen Ansprachen und sektenhaften Ausschlussprozeduren ist die Vermutung naheliegend, es mit jenem von Adorno konstatierten „Aberglauben aus zweiter Hand“ zu tun zu haben, bei dem die „Verfolgung des Anderen vom eigenen Zweifeln ablenken“ soll. (13) Wer wegen Corona den fast schon ewigen Ausnahmezustand verhängt, denkt in den Kategorien von unsichtbaren Mächten, die materiell als mikroskopisch kleine Tröpfchen die Landsleute mit Massensterben bedrohen, der muss als Ideologe im Zweifler an der politischen Mission bereits den eigentlichen Täter erkennen − den Herrn über die Tröpfchen, der wie Novak Djokovic wegen Gefahr geistiger Kontaminierung der Bevölkerung nicht ins Land gehört. Djokovic wurde durch seine bloße Existenz und das Gerücht über ihn zum ausländischen Staatsfeind erklärt, dessen bloße Anwesenheit auf australischem Boden einen verderblichen Einfluss auf die Bevölkerung haben könnte.
Immer mehr Menschen fühlen sich dort auffallend wohl, wo Zeichen gesetzt werden, dem Sprecher vor Betroffenheit die Stimme versagt und am Ende alle stehen und klatschen. In diesen Sternstunden der Menschlichkeit genießt man vor allem sich selbst. Die karitative Inszenierungskultur, bei der die Anlässe und Parolen austauschbar sind, ist durch aktives Handeln der Involvierten gekennzeichnet. Ginge es nur um subjektive Marotten von moralisierenden Sinnsuchern, könnte man das auf Konformismus vereidigte Spektakel des Gutseins ignorieren, jedoch handelt es sich dabei in zunehmendem Maße um ein Mittel der Integration in verkehrte Verhältnisse. Der mithilfe gezielter Sprachpolitik sich einpendelnde öffentliche Konsens nötigt den Einzelnen ab, sich einzugliedern und verstärkt der Pseudopraxis zum Trotz das Gefühl der Ohnmacht überhaupt. Keinesfalls Zufall ist es, dass die permanent eingeforderte Wokeness, Solidarität oder Verantwortungsübernahme mit dem fast vollständigen Verzicht auf organisierten Lohnkampf einhergeht. Nahezu alle gesellschaftlichen Sphären – von der Erziehung über die Arbeit bis zur Kulturindustrie – sind vom Geist jener fürsorgefixierten Reklamehumanität durchdrungen, nicht zuletzt weil das ihr zugrundeliegende Subjektideal kein von Interesse und Vernunft geleitetes Individuum, sondern ein moralisch stets verlässlicher Aktivbürger ist, der sich bestens verwalten und ausbeuten lässt. Man verfehlt diese permanente Emotionalisierung und Aktivierung der Bevölkerung allerdings, wenn man das neue Engagement allein als feuilletonkompatible Kritik der jüngeren Generation formuliert oder sich auf Sensibelchen kapriziert, die mit ihren Opfergeschichten vor allem an Universitäten Stress veranstalten. Ob anlässlich der sogenannten Cancel Culture, bei der Pflege aller möglichen Identitätsverletzungen oder inmitten der immer neuen regierungsamtlichen Solidaritätswellen: Die subjektiven Deformationen sind als Folge ausgeweiteter staatspädagogischer Interventionen und pastoraler Propagandatechniken zu begreifen und auch als solche auf den Begriff zu bringen.
„Das Gute“, so Philippe Muray in seinem bereits vor dreißig Jahren geschriebenen Essay Das Reich des Guten, „ist die vorweggenommene Antwort auf sämtliche Fragen, die man sich nicht mehr stellt.“ (14) Den um alle Geheimnisse und Wünsche gebrachten Subjekten reiche es, „vor dem Bildschirm im Chor den Rosenkranz der Menschenrechte zu beten“. Solches Spektakel, bei dem Dabeisein alles ist, verlangt Wiederholung: „Es reicht nicht, markerschütternd salbungsvoll zu sein, es sollte zunächst so aussehen, als entdecke man den Mond der Wohltaten ständig aufs Neue.“ (15) Wichtig ist den „großzügigen Verströmern des garantiert guten Denkens“, dass der Eindruck bewahrt bleibt, man kämpfe mutterseelenallein und unter größter Gefahr gegen die erschreckendsten Feinde. Das Gutsein braucht zwingend Bösewichte, denen man nicht intellektuell, sondern moralisch entgegentritt: „Schon macht sich ungeniert und ohne die geringste Empörung der Aufruf zur Denunzierung breit, schließlich geht es um das Wohl aller. ‚Bitte kümmern Sie sich um das, was Sie nichts angeht‘, hieß es kürzlich in einer Werbung. Ja, nur zu, kümmern wir uns um alles, bleiben wir nur nicht auf der faulen Haut liegen!“ (16) Was auf individueller Ebene bedeutet, dass man Gegnern jammernd auf die Pelle rückt, bedeutet komplementär, dass die Öffentlichkeit von einer tendenziell hysterisierten Zivilgesellschaft verdrängt wird, die gerade verunmöglicht, dass im gesitteten Streit auch mal eine brauchbare Erkenntnis entsteht.
Novak Djokovic gilt dem Reich des Guten wegen fehlender Coronaimpfung als Egoist mit widerlicher Weltanschauung und damit als das glatte Gegenteil der Gemeinschaft der Willigen. Dank seines Vermögens könnte er den zornigen Aufstand seiner Gegner getrost ignorieren. Diese Wahl haben die allermeisten Ungeimpften, zu deren Mobbing der Staat seit Monaten systematisch beiträgt, allerdings nicht. Die faktische Alimentierung ihrer Rechte, ihre gesellschaftliche Erledigung, ist zugleich eine Probe darauf, wie künftig mit Unwilligen insgesamt verfahren werden soll. Schon deshalb steht Djokovics Rauswurf aus Australien nicht einfach nur für sich.
Niemand musste in den vergangenen zwei Jahren zum Nachplappern, Kontrollieren oder Anschwärzen gezwungen werden, man befolgte die je ausgegebene Anweisung „gemäß Verordnung“ und nahm das Schreckgespenst der Unsolidarischen zum Anlass, die kollektive Mission noch besinnungsloser zu erfüllen. Der Triumph, auf der richtigen Seite zu stehen, durfte bei alledem genossen werden. Die diesbezüglich in Kommentaren und Kommentarspalten formulierte Schadenfreude ist gewollter Bestandteil der Mobilmachung. Diese Lust am Unterdrücken, die sich hinter den Solidaritätsinszenierungen verschanzt, ist wohl auch ein Grund dafür, warum die niemals ruhenden Kümmerer bei allem Drama mit großer Lust stets gut erholt und mit voller Energie in die jeweils nächste Krisenrunde steigen, um dort beim zelebrierten Gutsein nach bekömmlichen Feinden Ausschau zu halten.
David Schneider (Bahamas 89 / 2022)
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