Titelbild des Hefts Nummer 95
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Heft 95 / Herbst 2024
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Eine solche Utopie können wir ja gar nicht verwirklichen

Vom Versagen der Ideologiekritik (nicht erst) seit dem 7. Oktober

Thorsten Burkhardt, der unter dem Künstlernamen Torsun auftrat und von der erfolgreichen Band Egotronic nicht zu trennen ist, starb am 30.12.2023. In den zahlreichen Nachrufen durfte die Erwähnung eines düsteren Geheimnisses nie fehlen, das in frohem Bescheidwissen sofort, nachdem die Todesnachricht über seinen Blog gesendet wurde, ausposaunt wurde. Zum Jahreswechsel 2023/2024, als auf den Straßen der queer-arabische Palästina-Mob längst marschierte, erinnerte sich der Kulturredakteur Ulrich Gutmair in der Taz vom 2.1.2024 eines ganz anderen Mobs, der im Sommer 2006 sein Unwesen getrieben habe: „Als ich wegen des ersten Egotronic-Albums einigermaßen aus dem Häuschen war, schmuggelte ich mich auf der Geburtstagsparty der Zeitschrift Bahamas ein, die sich damals noch dem linken Spektrum zurechnete: Denn Egotronic sollten spielen. Sie waren grandios auf der kleinen Bühne im ersten Stock des Berliner Acud, und ein Mob voller junger Leute, die T-Shirts trugen, die sie aus dem Israelurlaub mitgebracht hatten, ging steil. Auch die eine oder andere blauweiße Fahne mit Davidstern wurde geschwenkt.“

Raven gegen Deutschland

Thorsten Burkhardt war bis ungefähr 2008 nicht nur irgendwie gegen Antisemitismus, sondern ausdrücklich ein Freund Israels, auch als Aktivist auf der Bühne. Er trat meist gratis oder gegen sehr geringe Gagen in den abgelegensten autonomen Jugendzentren auf, wenn die Betreiber proisraelisch waren, aber auch auf antideutschen Demonstrationen mit ihren höchstens 500 Teilnehmern. Ein Kollege beschreibt das in einem Nachruf so: „Außerdem stand Torsun der zentralen antideutschen Zeitschrift Bahamas nahe und hielt damit auch nicht hinterm Berg, was die Provokation schlechthin war. Die Bahamas hatte einige verdienstvolle Polemiken gegen die Bewegungslinke veröffentlicht und galt dieser naturgemäß als rassistisch, sexistisch und so weiter. Ich war Abonnent und es imponierte mir sehr, dass Egotronic auf der Party zur 50. Ausgabe auftraten.“ (Kolja Podkowik in Jungle World, 11.1.2024)

Seit spätestens 2015 ging es mit Torsun rapide bergab und Kolja Podkowik hat sich noch milde ausgedrückt, als er festhielt: „Mich irritierte Torsuns politische Entwicklung. Mit der Bahamas hatte er längst unmissverständlich gebrochen, teilweise wirkte es auf mich, als habe er sich politisch zurückentwickelt. Mir war schleierhaft, dass man in Zeiten des ‚Islamischen Staats‘ und vor allem nach dem Anschlag auf das Bataclan ein Musikvideo wie ‚Scheiße bleibt scheiße‘ veröffentlichten konnte, in dem Faschisten in einem Konzertsaal eingesperrt und attackiert wurden, bis Torsun einen von ihnen wie in ‚Inglourious Basterds‘ mit einem riesigen Messer skalpierte.“ (ebd.)

Vielleicht hatte Podkowik von der Band Antilopen Gang in seinem Nachruf ja recht, als er Torsun bezogen auf dessen antideutsche Haltung schon einen viel früheren Niedergang attestierte: „Egotronic wurden 2006/2007 immer größer und erfanden versehentlich eine eigene Subkultur, die dann tragischerweise als antideutsch galt: Hedonistische Jugendliche mit Israelfähnchen, die dauernd feiern gingen und Speed zogen. Mit dem zweiten Album ‚Raven gegen Deutschland‘ wurde das zum Programm erhoben, von Torsun möglicherweise noch mit einer gewissen Ironie gedacht, von seinem Publikum so aber nicht mehr verstanden.“ In eine merkwürdige Nähe zu Ulrich Gutmair von der Taz, der den späten, auf Innerlichkeit und Staatsantifa mit Splatterelementen reduzierten Torsun natürlich besonders schätzt, gerät Podkowik aber doch, als er konstatierte: „Ich konnte damit nichts anfangen, ich fand das alles blöd, mit Ideologiekritik hatte es für mich nichts zu tun.“ Dass Konzertbesucher häufig Drogen konsumieren und sich als hedonistisch bezeichnen, soll auch heute noch vorkommen, ohne dass jemand daran Anstoß nehmen würde; ob es sich dabei um die Fans einer rappenden Hiphop-Band handelt oder um die eines verstorbenen Elektropunkers tut da nichts zur Sache. Es geht also auch Podkowik darum, die Nase über einen Fan-Artikel zu rümpfen – die Israelfähnchen. Während der Taz-Kolumnist schon von einem Mob sprach, belässt es der Antilopenmann scheinbar nur bei einem „Ich fand das blöd“ – in Wirklichkeit geht es ihm aber um Distinktion: Den jungen Männern und in sehr bescheidener Zahl auch Frauen mit den Israel-Fähnchen und IDF-T-Shirts habe die Fähigkeit zur Ideologiekritik gefehlt. Diese Aussage, die in abgeklärten antideutschen Kreisen seit spätestens 2006 gegen die gleichen Leute unermüdlich wiederholt wird, ist falsch. Podkowik, der ein erklärter Feind des Antisemitismus ist, auch des auf der Sonnenallee anzutreffenden, weiß aus Geschichte und Gegenwart der deutschen Linken, dass die Präsentation der Israelfahne in der Öffentlichkeit seit dem Jahr 2001 (Kundgebung gegen die Al Aksa-Intifada in Berlin-Mitte) einen von den Akteuren auch so verstandenen Bruch mit einer linken Tradition darstellt, die von der RAF bis zur Taz geteilt wurde und heute von der autonomen und antinationalen Küfa (das steht für Küche für alle und löste die Bezeichnung Volxküche ab) über die Süddeutsche Zeitung bis zu Fridays For Future reicht: dem Bruch mit dem, wie man heute sagt, israelbezogenen Antisemitismus. Der geballte Hass auf Israel der genannten und vieler anderer antisemitischen Zeitungen, Treffpunkte und Organisationen zeugt von falschem Denken, das sich zur Weltanschauung ausgewachsen hatte. Man nennt eine solche Haltung gemeinhin Ideologie. Niemand weiß, was aus denen, die vor bald 20 Jahren im Acud Israelfahnen schwenkten, geworden ist; höchstens, dass einige von ihnen noch heute in dem Berliner Techno-Club About Blank abhängen, häufig völlig zugedröhnt. In jenem About Blank, dessen Betreiber in den 2010er Jahren Stellung gegen den Israelhass bezogen haben und das 2017 wegen zionistischer Umtriebe auf den Index der international vernetzten Club-Szene geriet, was sich schon vor dem 7.10.2023 zu Boykottaufrufen steigerte. Im Herbst 2024 steht der Club ökonomisch vor dem Aus und muss immer häufiger zur Abwehr von queerlinken Antisemiten, die zuletzt Fäkalien auf die Eingangstür geschmiert haben und ein riesiges rotes Hamas-Dreieck über sie sprühten, die Polizei rufen. Ihnen nutzt es nichts, dass sie in höchster Not, am 23.11.2023 – sechs Wochen danach – zu einem „Queer Soli Rave“ für den Palestine Children’s Relief Fund einluden, der mit der in Israel verbotenen Hilfsorganisation Islamic Relief zusammenarbeitet und der Hamas nahestehen soll. Statt sich mit einem Rest von Würde ins wohl Unvermeidliche zu schicken, beteuerten sie im September 2024, sie seien weder antideutsch noch proisraelisch. Allerdings erlaubt „das Kollektiv“ seit einigen Monaten wieder explizit pro-israelische Events – schließlich lässt sich auch damit Geld machen – und stellt auch jenem Publikum einen Raum zur Verfügung, das nicht mit Melonen- und Palifeudel-Freunden feiern will.

Die Scheiße an der Tür kann man wegwischen und aus dem Hamas-Dreick ein rotes Herz der Liebe machen, wie geschehen. Die Tatsache, es früher einmal mit Israel gehalten zu haben, läßt sich dagegen nicht aus der Welt schaffen. In den 2000er Jahren sind die Mitglieder des „Israel-Mobs“ nicht nur beim Konzert ihrer Lieblingsband Egotronic, sondern auch auf Demonstrationen als Ideologiekritiker aufgetreten, ob sie nun Marx und Adorno gelesen haben oder nicht. Erinnert sei an eine Kundgebung vor einem Wohnhaus im Berliner Bezirk Prenzlauer Berg im Jahr 2004, aus dessen viertem Stock eine große Israelfahne hing, was den Mietern die verhaltensbedingte Kündigung eingetragen hat. Damals fanden sich zum Protest nicht nur die Fans von Egotronic ein, sondern auch der ziemlich antideutsch gestimmte Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde zu Berlin, Alexander Brenner. Israelfahnen gab es viele und erregten den Hass ostzonaler Ideologen, die auf der Prenzlauer Allee mit dem Auto unterwegs waren und wütend hupten und gestikulierten.

Podkowik, der mit seinen Kollegen im April dieses Jahres den mutigen Song „Oktober in Europa“ veröffentlicht hat, der mit den Zeilen „Ich wollt ja zur Antifa-Demo gegen Judenhass / Aber gab keine in Berlin, gute Nacht“ endet, will es offensichtlich vermeiden, mit Schmuddelkindern in einen Topf geworfen zu werden, die durchaus kleinere Interventionen gewagt haben. Dass es heute auf den wenigen und immer kleiner werdenden Kundgebungen für Israel von blau-weißen Nationalfahnen nur so wimmelt, würde er bestimmt nicht kritisieren.

Es geht um etwas anderes: Antideutsche Kritik wendet sich spätestens seit dem 9.11.2001 nicht nur schroff gegen alle Erscheinungen der deutschen und internationalen Linken, sie verzichtete wenige Jahre später auch auf die Selbstzuschreibung, kommunistisch zu sein. Der Ruf nach mehr Ideologiekritik meint nur zum kleinen Teil den miserablen Wissensstand und die Unfähigkeit zum Argumententausch bei vielen Aktivisten. Vielmehr tönt in ihm immer die Suche nach dem utopischen Ziel mit, das in politischem Aktionismus verloren zu gehen drohe. Dieses Ziel wird desto dringender gesucht, je mehr man sich eingestehen muss, dass die alte Antifa-Rhetorik zum Instrument regierungsamtlicher Israelkritiker geworden ist, die genau dann vor einem 4. Reich der AfD warnen, wenn linke und migrantische Freunde des Judenmords auf der Straße und in den öffentlichen Debatten den Ton angeben, in einer Zeit, in der die Vernichtung Israels nicht mehr ausgeschlossen werden kann.

Ideologiekritiker ist unterdessen zu einem Ersatzberuf geworden, der den ganzen Mann fordert. In vermintem Gelände sucht man sich seinen Weg und schreibt Aufsätze gegen Antisemitismus, verzweifelt bemüht, in einem Milieu gelitten zu bleiben, um dessen Hang zur Israelkritik man sehr wohl weiß. Das Arrangement hat Folgen, die sich besonders in einem dem Wissenschaftsbetrieb angeglichenem, gelehrten Stil samt gewaltigen Fußnotenapparaten niederschlagen, der vor allem eines nicht sein soll: polemisch.

Wer den Angriff scheut, dem entgeht das Naheliegende, zum Beispiel das: Am Samstag, dem 27.7.2024, haben sich zunächst in Neukölln und schließlich in Kreuzberg gut 8.000 Menschen an einer Demonstration beteiligt, die jedenfalls für Deutschland ein Novum war. In der Nachfolge des alternativen, gegen die Entpolitisierung und Kommerzialisierung des CSD gerichteten Pride March nannte sich das Unterfangen schon seit 2021 „Internationalist Queer Pride Berlin“ und stellte sich hinter den „antikolonialen, antirassistischen, antikapitalistischen Freiheitskampf“. Das Motto: „Niemand von uns ist frei, bis alle von uns frei sind.“ Damit auch jeder weiß, wessen Freiheit allein gemeint war, präsentierten die Veranstalter in diesem Jahr auf dem offiziellen Einladungsplakat eine aufgeschnittene Melone – unter den schwarz gezeichneten Melonenkernen war einer in grün und in den Umrissen Israels. Bei den Teilnehmern war das Palästinensertuch omnipräsent, mindestens jeder Vierte hatte eines dabei.

Am frühen Abend des gleichen 27.7.2024, als man sich in Kreuzberg und Neukölln ans Chillen machte, schlugen Raketen der Hisbollah auf dem Fußballplatz der von Drusen bewohnten israelischen Kleinstadt Majdal Shams im Golan ein. Es starben 12 Kinder und Jugendliche. Am 27.7.2024 fand nicht nur die größte offen antisemitische Demonstration in Deutschland nach 1945 statt. An diesem 27. Juli hat sich die deutsche Linke nicht nur in Neukölln und Kreuzberg, sondern in toto, mit Hamas und Hisbollah solidarisiert und den intendierten Holocaust an israelischen Bürgern teils billigend, teils mit Befriedigung aufgenommen. Wohlgemerkt: Jubelpalästinenser arabischer oder türkischer Herkunft waren auf der Demonstration wegen ihrer dann doch latenten Homo-Thematik nicht anzutreffen, Linke oder sonst widerständige „Personen“ aus westlichen Ländern, ergänzt um einige aus Lateinamerika waren unter sich – über 8.000.

Für die Inhalte und Parolen solcher Umzüge zeichnet sich stellvertretend längst der kalifornische Campus verantwortlich, der wesentlich queer, antiimperialistisch und schon deshalb antisemitisch inspiriert ist. Auch wenn die zahlreichen Expats womöglich die Mehrheit der zur Demonstration Mobilisierten stellten: Den in der deutschen Hauptstadt am 27.7.2024 zur Schau getragenen eliminatorischen Antisemitismus hätte jeder, aber vor allem jene, die sich links nennen, so laut es geht denunzieren müssen. Für den letzten Ideologiekritiker hätte das bedeuten müssen, dass nicht etwa nur die Ideologie, sondern auch die Praxis, samt Personal der Linken, ins Fadenkreuz zu nehmen gewesen wäre. Dieses und viele kleinere Ereignisse der letzten 12 Monate werden aber beschwiegen oder im Zeichen des Rassismus genannten Hauptübels kleingeredet.

Die der Queer-Szene Verbundenen haben von Beginn an den Blutrausch der Täter vom 7.10.2023 in aller Geilheit sich zu eigen gemacht, verklärten Massenmord zum Sportevent mit Paragliding und Motocross und vor allem: Sie schmelzen einfach hin angesichts des verzückten Schimmerns in den Augen der meist sehr jungen Täter dort und stellvertretend hier in den einschlägigen Kiezen der von Rassismus schwer betroffenen Brüder: Erotik und Massenmord. Queer Pride ist der Ausdruck dessen, wozu die Linke sehr folgerichtig verkommen ist: Sie will den zweiten Holocaust und empfindet den 7. Oktober sehr körperlich, gar sinnlich. Darüber erfährt man aus als seriös geltenden Publikationen nichts.

Im Bündnis mit den Siegern der Geschichte

Dass die Freunde der Ideologiekritik verdruckst schweigen, wenn sich Freunde von Judith Butler oder Achille Mbembe zu einer antisemitischen Massenbewegung zusammentun, liegt daran, dass sie die Linke in toto repräsentieren. Und die meisten Ideologiekritiker wollen immer noch etwas an der revolutionären Linken retten, sei es in der Geschichte, sei es in Form emanzipatorischer Ansätze, die leider nicht erfolgreich gewesen seien, sei es in rätekommunistischen oder gar anarchistischen theoretischen Bemühungen, die – so beachtlich sie teilweise auch waren – immer im Einverständnis mit einem schrecklichen Beginnen standen, das im Oktober 1917 einsetzte. Auch dissidente Strömungen in der Linken haben sich nie über die Berechtigung des Roten Oktobers gestritten, sondern allein über die Frage, ab wann die Bolschewiki die Revolution verraten hätten. Schon im Januar 1918, als sie die konstituierende Versammlung aus dem Taurischen Palast aussperrten? Oder 1921, als sie den Kronstädter Aufstand niederschlugen? Oder 1926, als die linke Opposition zerschlagen wurde? Oder erst mit den großen Säuberungen ab 1935?

Dagegen eine ganz andere Real- und Ideengeschichte zu schreiben, die sich ihrer Okkupation durch die Sieger widersetzt, wäre zwingend geboten, findet aber kaum statt. Begänne man mit der Realgeschichte, würde das eigene Selbstverständnis irreparablen Schaden nehmen. Dann müsste man nämlich anerkennen, dass die Mehrheit der Vietnamesen vor ihrer Unterwerfung den Vietkong strikt ablehnten, was sich nicht nur an den Untaten der Sieger ab 1975 und der mit dem Namen boat people konnotierten Fluchtbewegung von 1,6 Millionen Vietnamesen, von denen 250.000 umkamen, ablesen lässt, sondern auch in dem nie erforschten und zur Randglosse eingeschrumpften Umstand, dass ganze Dorfbevölkerungen, die sich in den 1960er und frühen 1970er Jahren dem Vietkong widersetzt hatten, von den Milizen der Volksbefreiung mit vorgehaltener Waffe weggeführt wurden und auf Nimmerwiedersehen verschwanden. Sich dem zu stellen, wäre gleichbedeutend mit dem Ende linker Identität im Westen. Die seit 1917 als Sieger der Geschichte auch die Geschichtsschreibung bestimmenden Mörder haben sorgfältig darauf geachtet, dass fast keine Bilder ihrer Untaten nach draußen drangen. Der Gulag ist genauso bilderlos wie die „Begleiterscheinungen“ des nordvietnamesischen Vormarsches oder die Gräuel des Vietkongs danach. Dagegen bestimmen die Bilder vom Massaker in My Lai die Meinung über den Vietnamkrieg bis heute als Beweis für amerikanische Barbarei. Dass es sie überhaupt gibt, dass Journalisten an der Front eingebettet waren und darüber berichten, genauso wie heimkehrende Soldaten, hätte eigentlich das damalige wie das aktuelle Amerika-Bild korrigieren müssen.

Die Unterstützer der Vietnamproteste als der zentralen Sammlungsbewegung der neuen Linken hatten sich ohne Wenn und Aber auf Seiten der Sieger gestellt, deren moralisches Recht im Wesentlichen in ihrem Erfolg gegen einen ihnen militärtechnisch weit überlegenen Gegner gesehen wurde. Schon eine darüber hinaus bis zur Identifikation vorangetriebene Begeisterung hat eine Normierung durch die Macht des Faktischen gegenüber der Möglichkeit bewirkt, dass es anders sein könnte, triumphieren lassen. Wofür auch immer das Jahr 1968 sonst stehen mag – das Bündnis mit der Praxis von Volksbewegungen, deren autoritärer Charakter an den Bildern von ihren Massenkundgebungen und mehr noch an den stumpfsinnigen Traktaten der jeweiligen Führer leicht hätten abgelesen werden können, war prägend und hat jede auch theoretische Bemühung um Befreiung seither schwer belastet.

Wo linke Politik praktisch wurde, entstanden Killing Fields, die als notwendig für den Sieg über die Reaktion gebilligt wurden – in der Sowjetunion, in China, in Kambodscha, Nordkorea. Und dort, wo angeblich das Volk sich im antikolonialen Kampf befreite, waren die Massaker der Befreiung an der Tagesordnung – in Algerien, Pakistan, Nigeria, Kongo, Vietnam. Der die autochthonen Völker als sein Subjekt propagierende Antikolonialismus lehrte die Linke verstehen, dass nunmehr statt in Klassen- in Rassenkategorien zu denken sei, wie es in Sartres blutrünstigem Vorwort zu Frantz Fanons blutrünstigem Buch Die Verdammten dieser Erde von 1961 exemplarisch propagiert wird.

Die Oktoberrevolution und das Ende der Utopie

Die Blutspur setzte mit der Leugnung ein, dass Lenin und seine Leute schon deshalb eine Verbrecherbande waren, weil sie von Anfang an auf den Bürgerkrieg gesetzt haben, der den tödlichen Hass von tausend Jahren freisetzen musste und schließlich die disziplinierteste und skrupelloseste Truppe im zugrunde gerichteten Land als Sieger zurückgelassen hat. Seit dem Roten Oktober ging es um die Eroberung der Macht im Staat, die Zentralisierung der Macht nach dem Sieg und die Etablierung einer Erziehungsdiktatur, die kein Entrinnen mehr lassen sollte. Staatskritik, also die Mahnung, dass der Staat des Kapitals das Verhängnis kapitalistischer Vergesellschaftung besiegeln könnte, war es nicht, was radikale Linke bewegte oder bewegt. Es war scheinbar konträr immer nackte Staatsfeindlichkeit, die ihre Protagonisten, nachdem die Hoffnungen auf einen proletarisch genannten Putsch oder einen Sieg im antikolonialen Rassenkrieg sich zerschlagen hatten, darauf verfallen ließ, sich auf der Straße und publizistisch aufs Zündeln zu verlegen. Ideologisch wachen sie wie der NKWD darüber, dass da keiner ausschert aus einer Logik, die ihren staatssozialistischen Vorgängern entlehnt ist. Bei der Drecksarbeit verbrüdert man sich zum Beispiel mit den Aktivisten in den islamisierten französischen Banlieues: Die zumeist akademisch gebildete Linke sichert ihnen ideologisch ein ruhiges Hinterland.

Außer den Anhängern des Postkolonialismus, für die Queer Pride Berlin steht, gibt es keine staatskritische radikale Linke mehr; doch auch unter jenen ist sie eine Phantasie, denn nicht wenige der Organisatoren sind Angestellte oder prekär Beschäftigte jener staatlichen Institutionen, um deren finanzielle Unterstützung sie kämpfen. Die radikale Linke früherer Jahre ist an der Macht – nicht nur in der aktuellen Bundesregierung, sondern überall dort, wo es gilt, zu verharmlosen, zu beschwichtigen und zu verängstigen. Die einen wollen ihr Scheitern bei der Einrichtung einer wenigstens keynesianistischen Welt in peinlichen Erziehungsdoktrinen verschwinden lassen und verlegen sich auf Panikmache wegen Klima, Corona und der Bedrohung von rechts, verbunden mit der Mahnung vor einem dringend zu brechenden rassistischen Konsens. Die anderen, die heute ihre Nachfolge antreten, kehren unmittelbar zu den mörderischen Wurzeln zurück und haben als den Vollstrecker von Freiheit und Glück den islamischen Volkssturm gegen die Juden ausersehen. Und auch sie wollen die Macht im Staat, der ihnen die ideologische Lufthoheit samt Anstellungen an den Universitäten und im Kultursektor schon eingeräumt hat.

Die Umerziehungslager in der staatskommunistischen Praxis sind aus den Köpfen nie ganz verschwunden, nur dass es heute nicht mehr den Anhängern eines besiegten Regimes im „globalen Süden“ an den Kragen gehen soll, sondern ganz konsequent dem Teil der Bevölkerung, der sich immer noch jenseits des Staatssektors durchzubringen versucht und nicht so richtig mittun will. Diese Leute, die vor allem im Osten zu einem bedeutenden Teil der AfD und dem Bündnis Sarah Wagenknecht zuneigen, stehen nicht nur deshalb unter Generalverdacht. Sie, die häufig pöbelhaft gegen die besonders an sie gerichtete Bevormundung auftreten, erfahren die Krise anders als das linke Staatspersonal, von dem sie so verachtet werden. Während sich die staatlich alimentierten Linken für die ungebrochene schuldenfinanzierte Aufblähung ihres Arbeitgebers stark machen und doch ahnen, dass ihnen die schmale Bezahlung, die sie mit ihren Coaching-Projekten zur Stärkung der Demokratie noch einheimsen, schon bald wegbrechen könnte, imaginieren die anderen sich als radikale Systemgegner. Recht haben die Scheinrebellen nur dort, wo sie sich hineingezogen sehen in einen Strudel des Untergangs. Anders als viele ihrer Feinde gerieren sie sich dort als Freunde des Untergangs, wo sie dem Staat abverlangen, er möge die Ukraine Russland opfern. Aber ganz genau wie das Regierungslager – wenn auch verhaltener im Ton – liefern sie die Bewohner des jüdischen Staates ihren Henkern aus, wenn sie darauf bestehen, dass Deutschland sich nicht in den jüngsten Nahost-Krieg hineinziehen lassen dürfe. Doch die um sich greifende deutsche Friedenssehnsucht reicht nicht nur von den Queers for Palestine bis zum Compact-Magazin: Dessen Herausgeber traf mit seiner Einschätzung, dass mit jedem Kilometer, den die Russen vorrückten, „der Tag der deutschen Freiheit näher“ rücke (zitiert nach Taz, 16.7.2024), auch die Stimmung bärtiger pensionierter Studienräte mit rot-grünen Vorlieben, die sich am 3. Oktober 2024 zu der unter dem Motto „Nie wieder Krieg“ ausgerichteten Großdemonstration in Berlin einfanden und offenbar kein Problem damit hatten, dass sich ihnen passionierte Freunde des Judenmords zu Tausenden anschlossen. Dagegen regt sich Ideologiekritik nicht. Zu tief hat sich in den Köpfen der keineswegs nur ostzonalen Linken Picassos Friedenstaube eingegraben, die 1954 im Berliner Ensemble als Bühnenvorhang aufgehängt wurde und einen ganzen kalten Krieg lang nur dazu diente, die Ausweitung ihrer Einflusssphären durch die Sowjetunion und China zu leugnen.

Adornos Verteidigung der Utopie

Die Mehrheit der Ideologiekritiker heute vermag an Adornos Verteidigung der Utopie nicht mehr anzuknüpfen, weil sie sich, und sei es durchs Schweigen über dessen Untaten, mit einem Angreifer identifiziert, der im Staat und seinen ideologischen Agenturen genauso anzutreffen ist wie scheinbar ganz unten auf der Straße bei Queer Pride oder im Zeichen von „Nie wieder Krieg“. Im Gespräch mit Ernst Bloch hatte Adorno 1964 festgehalten, „dass die Menschen vereidigt sind, auf die Welt wie sie ist, und dieses abgesperrte Bewusstsein der Möglichkeit gegenüber, das hat nun allerdings einen sehr tiefen Grund, einen Grund, von dem ich denken würde, dass er gerade mit der Nähe zur Utopie, mit der du zu tun hast, sehr zusammenhängt. Meine These dazu würde lauten, dass im Inneren alle Menschen, ob sie es sich zugestehen oder nicht, wissen: Es wäre möglich, es könnte anders sein. Sie könnten nicht nur ohne Hunger und wahrscheinlich ohne Angst leben, sondern auch als Freie leben. Gleichzeitig hat ihnen gegenüber, und zwar auf der ganzen Erde, die gesellschaftliche Apparatur sich so verhärtet, dass das, was als greifbare Möglichkeit, als die offenbare Möglichkeit der Erfüllung ihnen vor Augen steht, ihnen sich als radikal unmögliche präsentiert. Und wenn nun die Menschen heute universal das sagen, was in harmloseren Zeiten nur den ausgepichten Spießbürgern vorbehalten war: ‚Ach, das sind ja Utopien, ach, das ist ja nur im Schlaraffenland möglich; im Grunde soll das überhaupt gar nicht sein‘, dann würde ich sagen: das kommt davon, dass die Menschen den Widerspruch zwischen der offenbaren Möglichkeit der Erfüllung und der ebenso offenbaren Unmöglichkeit der Erfüllung nur auf die Weise zu bemeistern vermögen, dass sie sich mit dieser Unmöglichkeit identifizieren und diese Unmöglichkeit zur eigenen Sache machen und dass sie also um mit (Anna) Freud zu reden, sich ‚mit dem Angreifer identifizieren‘ und dass sie sagen, dass das nicht sein soll, von dem sie fühlen, dass es gerade ja sein sollte, aber dass es durch eine Verhexung der Welt vorenthalten wird.“ (1)

Utopien, von den Humanisten des 16. Jahrhunderts bis zu den Frühsozialisten und Anarchisten des 19. Jahrhunderts, zielten in aller Beschränktheit auf ein Reich der Freien und Gleichen ab, das gegen die Angreifer, also die jeweils Herrschenden und deren Ordnung durchzusetzen sei, ohne dass sie ein Parteiprogramm gewesen wären. In ihnen blitzt ein Überschuss auf, der auf eine nur teilweise weltliche Erlösungsidee hindeutet, doch gegen billige Vereinnahmung waren sie schon deshalb nicht gefeit, weil scheinbar naives Erlösungsdenken und durchaus autoritäre Vorstellungen vom Reich der Freiheit in ihnen nahe beieinander liegen. Um heute von Freiheit und Glück zu reden, müsste man selbsternannte Hedonisten und andere Raver genauso als Feinde noch der Idee von Freiheit denunzieren wie alle in den Gender-Diskurs Verstrickten und mit ihnen die selbstgefälligen Ankläger des schrecklichen privaten Unglücks, zu dem einen die Verhältnisse verdammten. Der Ruf nach Freiheit war schon zu Zeiten der französischen Revolution so abstrakt und allgemein gefasst, dass eine Vorstellung von der je persönlichen Verwirklichung dieser Idee darin kaum mehr vorkam. Deshalb hob Adorno auf die Kategorie des Glücks ab: „Wenn es damit abginge, dass man die Kategorie der Freiheit allein als Schlüssel der Utopie ansehen würde, dann wäre wirklich der Inhalt des Idealismus gleichbedeutend mit der Utopie, denn der Idealismus will ja nichts anderes als Realisierung der Freiheit, ohne die Realisierung des Glücks dabei eigentlich mitzudenken.“ Doch auch die Betonung des Glücks führte häufig zu kaum mehr als dem ausschließlichen Beharren auf einem pursuit of happiness: „Es ist also schon ein Zusammenhang, in dem alle diese Kategorien vorkommen, in dem ebenso die Kategorie des Glücks, die als isolierte immer etwas Armseliges und den Anderen Betrügendes hat, sich verändern würde, wie auf der anderen Seite die Kategorie der Freiheit, die dann nicht mehr Selbstzweck und gar Selbstzweck der Innerlichkeit wäre, sondern die sich erfüllen müsste.“

Lust an der Unlust

Was Adorno nicht ahnen konnte, war die Negation jedes persönlichen Glücks unter dem Druck der gesellschaftlichen Apparatur in Form der Diskreditierung der Glückssucher, von denen einige im Verdacht stehen, wenigstens zeitweilig damit erfolgreich zu sein als oberflächliche, durch die Kulturindustrie und andere Agenturen fremdbestimmte Mitläufer. Freiheit und Glück, die Ausgangspunkte jeden utopischen Denkens und als Mitgedachtes Bestandteil jeder Kritik, sind zu Parolen verkommen, die das Bedürfnis nach stumpfer Innerlichkeit bedienen, in dem der Drang nach Zerstörung nur schlecht versteckt ist.

Die Linken haben sich auf den Spießergedanken von der Unmöglichkeit der Verwirklichung der Utopie schon wenige Jahre, nachdem Bloch und Adorno miteinander diskutierten, geeinigt. Das schlug sich besonders in ihrer Verfallenheit an die grässliche Hippiekultur nieder, die von den USA und Großbritannien ausgehend, in Deutschland in tausenden alternativen Projekten zu einem grotesken Höhepunkt gelangte. Sie haben, während sie die Kämpfe im Trikont immer solidarisch begleiteten, sich auf ein sehr praktisches Utopieverbot geeinigt, das zwingend zum Antisemitismus nicht nur gegen Israelis hat führen müssen. Dass es anders sein muss, haben sie durch ihre närrischen, hedonistisch sein sollenden, aber trist lebensreformerischen Selbstversuche schon dementiert und zugleich, in ihrer unverbrüchlichen Solidarität mit kämpfenden Völkern, die schockierenden Bilder von den überladenen Booten, die im südchinesischen Meer 1975 ff. gekentert sind, aus ihrer Wahrnehmung gestrichen. Nicht allein die Idee von der Revolution, der alle anhingen, war das Problem, sondern mehr noch die Behauptung, in der Praxis des Sozialismus oder des kämpfenden Volkes liege die einzig wahre Realisierung von dem, was anders sein soll. Darin besteht der sinistre Pakt mit einer Realpolitik, die so und nicht anders hat sein dürfen. Sich vom jeweiligen Subjekt der Befreiung im Trikont schon bald wieder abzuwenden, wie es von Fall zu Fall opportun war, ändert wenig am Verrat an der Utopie. Adorno dazu: „Dann aber – und das ist wahrscheinlich noch viel beängstigender – tendiert dieses Verbot einer konkreten Aussage über die Utopie dazu, das utopische Bewusstsein selber zu diffamieren, und das zu verschlucken, worauf es eigentlich ankäme, nämlich diesen Willen, dass es anders ist.“ Hatte man 1964 noch – zur Stillung des eigenen utopischen Bedürfnisses – die barbarisch verzerrte Kopie der kapitalistischen Entwicklung im Westen vom großen Bauernlegen bis zur Automatisierung von Industrie und Verwaltung als großen Sprung verklärt und wenig ansprechende Legenden vom lesenden Arbeiter im Sozialismus verbreitet, ist der Wille, dass es anders wird, inzwischen dem Rachebedürfnis gewichen, dessen Theoretiker und vor allem Praktiker sich konsequent der ganz realen Negativ-Utopie von der Zerstörung der zivilisierten Welt in allen ihren Erscheinungen verschreiben. In ihr sind Lust und Zerstörung nicht mehr zu trennen, was sich an der Komplizenschaft mit islamischen Lustmördern belegen lässt, die israelische Frauen (und Männer) zu Tode vergewaltigen, Babys bei lebendigem Leibe verbrannt haben oder jüngst einen abtrünnigen iranischen Flüchtling in Köln per anal vollzogener Gruppenvergewaltigung bestraften, die beinahe zu seinem Tod geführt hat.

Adorno hat seine Einwände gegen das Verschwinden der Utopie aus den Konzepten des Sozialismus abgeleitet, die im realen Sozialismus Staatsdoktrin wurden: „Und es ist ganz sicher so, dass das Grauen, das wir im Ostbereich heute erleben, zum Teil damit zusammenhängt, im Gefolge dessen, was Marx seinerzeit als Kritik an den französischen Utopisten und an Owen vollzogen hat, eigentlich der Gedanke an die Utopie überhaupt aus der Konzeption des Sozialismus verschwunden ist, dass dadurch die Apparatur, das Wie, die Mittel einer sozialistischen Gesellschaft, gegenüber jedem möglichen Inhalt den Vorrang gewinnen, denn den möglichen Inhalt kann man ja nicht sagen und soll man nicht sagen, und dass dadurch die komplett utopiefeindliche Theorie des Sozialismus dazu tendiert, nun wirklich zu einer neuen Ideologie für die Beherrschung der Menschen zu werden. Ich glaube, mich zu erinnern aus der Zeit, wie du deine Konflikte in Leipzig hattest, dass Ulbricht […] damals gegen dich geäußert hat: Eine solche Utopie lässt sich ja gar nicht verwirklichen; nun ja, das ist eben Spießbürgerphrase, und wir wollen sie auch gar nicht verwirklichen.“ Die DDR entwickelte sich seit den 1960er Jahren zu einer Spießbürgerdiktatur, deren Herren ihr notorisches „Bau auf, bau auf!“ immerhin um einen allmählichen Zuwachs an Wohlstand für die von ihnen Beherrschten ergänzten. Wenn heute auf der Internationalist Queer Pride Berlin scheinbar ganz utopisch postuliert wird: „None of us are free until all of us are free“, dann sind damit noch nicht einmal die Versprechen auf einen Geschirrspüler für alle verbunden, sondern nur noch die Qualen der israelischen Kinder, Frauen und Männer, die am 7.10.2024 hingeschlachtet wurden.

Negation dessen, was bloß ist

Das Dilemma ist nicht auflösbar, und Adorno hatte mit seiner Festlegung auf die bestimmte Negation nicht behauptet, eine abschließende Antwort gegeben zu haben. „Ja, die Utopie steckt wesentlich in der bestimmten Negation, in der bestimmten Negation dessen, was bloß ist, und dass dadurch, dass es sich als ein Falsches konkretisiert, immer darauf hinweist auf das, was sein soll. Und so wenig wir die Utopie ‚auspinseln‘ dürfen, so wenig wir wissen, wie das Richtige wäre, so genau wissen wir allerdings, was das Falsche ist.“ Das Falsche, von dem heute zu sprechen wäre, sind gerade die dummen und brutalen Aussagen verhetzter Personen auf einem europäischen Queer-Marsch, die sogar von westlichen Regierungsvertretern geteilt werden. Ihre Parolen sind die Einstimmung auf bevorstehende Schrecken, herausgeschrien von Leuten, von denen viele schon bald zur Elite gehören werden. Die sich häufenden szeneinternen Übergriffe gegen TERF genannte „Personen“ oder Schlägereien zwischen in der FLINTA*-Frage Zerstrittenen, auf die in den entsprechenden Lokalen sofort mit rigiden Verbotskatalogen gegen unangemessenes Verhalten reagiert wird, sprechen für zutiefst autoritäre Bedürfnisse, die der eigenen Asozialität geschuldet sind, für deren Identität heutzutage Anerkennung gefordert wird. Immer mehr von denen, die sich als queer begreifen und deswegen durchgängig Israelkritiker beziehungsweise Israelhasser sind, kreisen gar nicht um die Frage, wie Sexualität ausgelebt werden kann, damit die Beteiligten zur Erfüllung am anderen kommen können. Die behauptete Unterdrückung der sich dauernd vermehrenden Geschlechteridentitäten läuft vielmehr auf einen inneren Zwang hinaus, irgendwann einmal gegen alle andere Repression auszuüben, und bestimmen einen um sich selbst kreisenden, völlig vereinsamten und hasserfüllten Charakter: Das ist, was sie mit den Moslems der Hamas und der Sonnenallee eint. Leute, die von sich nur zu wissen meinen, dass sie Opfer seien, und schon deshalb immer öfter zuschlagen, bereiten scheinbar ganz anderen Freiheitskämpfern, die sie mit selbstgemachten Mordaufrufen bedienen, das sichere Hinterland im Kiez.

Der harte Ton und die blanke Verachtung, mit der Marx die utopischen Sozialisten unter seinen Zeitgenossen angriff, klingt in den Jahren nach 1917, als Staatsbürokraten sich anschickten, in geiferndem Ton ihre längst besiegten Gegner als tollwütige Hunde, die sofort erschossen werden müssten, zu disqualifizieren und zu liquidieren, manchmal befremdlich. Der Unterschied zwischen Polemik und wüstem Gezeter, zwischen Kritik und Mordaufruf, der bei Marx immer kenntlich ist, scheint verloren zu gehen und führt vielfach auch zum Rückzug in der Sprache. Anstatt sich dem entgegenzustellen und in bestimmter Negation – und die ist immer polemisch – gegen die Verhältnisse in Gestalt ihrer Avantgarde, nicht nur gegen die blutrünstigen Manifeste ihrer Vordenker, sondern auch ihre fanatische Anhängerschaft vorzugehen, zieht sich Ideologiekritik heute vornehm zurück. Statt die Einpeitscher und Sympathisanten des islamischen Weltzerstörungsprojekts, die sich 8.000 Mann und Frau stark auf der Neuköllner Hermannstraße und zu über 10.000 am Brandenburger Tor einfanden, ins Visier zu nehmen, schrumpft Ideologiekritik auf die Widerlegung von deren an den Universitäten gelehrten Glaubensinhalten zusammen, gerade so, als führten diese ein autonomes Dasein.

Mit der Ideologie wären die Ideologen anzugreifen, die nur zum kleinen Teil in Gestalt von Mbembe und Butler und ebenso wenig von Jürgen Elsässer oder Wagenknecht vorgestellt werden können. Es sind vielmehr akademisch gebildete Mitzwanziger, mit ihren infantilen Verrichtungen, die alles, was sie in der Schule in Sachen kreativer Selbstverwirklichung in der Gemeinschaft gelernt haben, als pantomimische Gruppenpräsentation gegen jüdische Gewalt auf der entsprechenden Demonstration zur Aufführung bringen. Diese Rituale queerer Betroffenheit, genauso wie die Präsentation türkisfarben angepinselter Fingernägel durch Rastahaare oder Dutt tragende heterosexuell orientierte Männer, wecken anscheinend noch nicht einmal den Verdacht, dass die jeweiligen, dem Erbe der Hippiekultur verpflichteten Protagonisten auf Judenmord aus sein könnten.

Bestimmte Negation, also Ideologiekritik, bezieht sich ideengeschichtlich, aber auch historisch, auf die Epoche des Liberalismus, als Ausgangspunkt für die Utopie von einer über sie hinausweisenden Einrichtung der Welt. Ohne in Nostalgie zu verfallen, wonach vor 1917 alles besser gewesen sein soll, gilt es, auf der Wahrheit zu bestehen, dass die Linke sich seither theoretisch wie praktisch so sehr auf das bloße Bestehende im Gewand des Staatssozialismus und später in Gestalt antikolonialer Befreiungskämpfe festgelegt hat, dass sie schon Jahre vor Auschwitz nicht mehr fähig war, sich auch nur einen Begriff von dem zu machen, was im Anmarsch war.

Heute, wo man wissen müsste, dass sich Auschwitz nicht nur wiederholen kann, sondern ganz konkrete Anstalten dazu gemacht werden, müssten sich Ideologiekritiker darauf einigen, wofür zu kämpfen ist: Dafür, dass nicht eintritt, was der Historiker Itzhak Schiper kurz vor seinem Tod an Entkräftung im Jahr 1943 in Majdanek zu seinem Leidensgenossen Alexandre Donat gesagt hat, der überlebt hat und Zeuge ist: „Wenn unsere Mörder den Sieg davontragen, wenn sie die Geschichtsschreiber sind [...] dann können sie uns aus der Weltgeschichte ausradieren. [...] Wenn wir aber die Geschichte dieser tränenreichen und blutigen Zeit schreiben – und ich bin überzeugt, dass wir das tun werden – wer wird uns glauben? Niemand wird uns glauben, weil unser Untergang der Untergang der gesamten zivilisierten Welt ist.“ (2)

Justus Wertmüller (Bahamas 95 / 2024)

Anmerkungen:

  1. Dieses und die folgenden Zitate stammen aus Rainer Taub, Harald Wieser (Hrsg.): Gespräche mit Ernst Bloch, Frankfurt 1975
  2. Myriam Anissimov: Primo Levi – Die Tragödie eines Optimisten, Berlin 1999, 455

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