Das Trauma: Die Schlüsselepisode in Finn Jobs Roman Hinterher aus dem Jahr 2022 ereignet sich auf Sophias drogengeschwängerter Geburtstagsparty in Peters heruntergekommener Wohnung in Neukölln. Eine zu Besuch weilende Schwedin erklärt auf Englisch: „the great thing about Berlin is that you can be whatever you want.“ (1) Der namenlose Ich-Erzähler und sein schwuler Liebhaber, der Israeli Chaim, melden sich freiwillig, um mehr Alkohol für die Gruppe zu besorgen. Als die beiden in eine Seitenstraße der Sonnenallee treten und in der Öffentlichkeit stehen, gesteht der Erzähler nachträglich: Ich war „so glücklich und selbstvergesssen, ja, ich war so dumm, dass ich Chaim einen flüchtigen Kuss auf die Wange gab.“ (S. 99)
Auf das Glück folgt sofort die Strafe. Junge Männer aus der Nachbarschaft rufen dem Paar homophobe Beleidigungen zu: „Schwuchteln! Yallah, da sind Homos! [...] Allahu Akbar“ (S. 99). Eine Bande verfolgt das Paar, doch glücklicherweise sind die beiden schnell genug, um in die Sicherheit der Wohnung zurückzukehren. Doch statt Mitgefühl und Solidarität von ihren Freunden zu erfahren, werden sie mit Verurteilungen konfrontiert. Dieselbe Schwedin, die gerade über Berlins Offenheit geschwärmt hatte, wo jeder sein kann, was er will, feuerte die Eröffnungssalve ab: „Don’t you think it was a little bit insensitive to kiss each other? I mean this is Neukölln – their home. You probably hurt their feelings“ (S. 102). Diese milde Schelte eskaliert schnell, bis ihre Freunde sie schließlich als „Nazis“ (S. 103), „Fascho“ (S. 18) und Rassisten (S. 147) denunzieren. Nazis sind offenbar Menschen, die sich in der Öffentlichkeit küssen.
Die Szene inszeniert eine Konstellation von Themen, die das heutige Deutschland kennzeichnen. Erstens zeugen die Anprangerungen, denen das Paar nach seiner Rückkehr ausgesetzt war, von der Langlebigkeit eines automatisierten antifaschistischen Diskurses – Peter, der Gastgeber und Drogenhändler, trägt ein „Antifa“-T-Shirt (S. 98). Zum Teil ist dies eine Konstante in der deutschen Kultur seit 1945, aber als Reaktion auf den Aufstieg der neuen Rechten in Form der Alternative für Deutschland ist es jetzt akut geworden. Natürlich ist die inflationäre Verwendung des „Faschisten“-Epithetons auch in den USA bekannt: Jeder Politiker, den wir nicht mögen, muss ein „Faschist“ sein. In Deutschland aber ist diese rhetorische Inflation besonders ausgeprägt.
Zweitens behauptet die politische Linke, die einzig natürliche Heimat des Antifaschismus zu sein und marginalisiert damit konservative oder katholische antifaschistische Traditionen, schiebt Stauffenberg, Adenauer oder die Scholls beiseite und verheimlicht gleichzeitig die historische Zusammenarbeit zwischen Kommunisten und Nazis. (2) Doch diese selbsternannte antifaschistische Linke hat dank einer faktischen Allianz mit dem Islamismus eine eigene Transformation durchgemacht. Während traditionelle Arbeiterschichten die Linke mit ihrem programmatischen Sozialismus entweder verließen oder aufgrund der globalen Umstrukturierung der Arbeiterschaft einfach an Zahl verloren, haben manche linke Aktivisten und Parteien begonnen, Unterstützung und Stimmen unter muslimischen Einwanderern zu suchen, trotz ihrer entschieden nicht-progressiven kulturellen Orientierungen: Patriarchat, Homophobie und Antisemitismus. Dies sind die Strategien von Jeremy Corbyn in Großbritannien und Jean-Luc Mélenchon in Frankreich.
Drittens hat Identitätspolitik – brillant parodiert von Job mit dem heuchlerischen „you can be whatever you want“ der schwedischen Besucherin – das Klassenbewusstsein ersetzt. Programme für sozialen Wandel sind der Identitätspflege gewichen. Natürlich scheint der postmoderne Narzissmus des „Whatever you want to be“ mit der Hinwendung zum Islamismus unvereinbar zu sein, denn man kann in Neukölln, so jedenfalls der Roman, nicht öffentlich schwul sein. Doch die Ausrichtung der Identitätspolitik nach innen und der Antiimperialismus der islamistischen Wende haben einen gemeinsamen Nenner: Sie dienen beide als Mittel, um Fragen der Klasse, der Arbeit und des sozialen Konflikts zu vermeiden.
Im Folgenden möchte ich über diesen besonderen kulturpolitischen Moment nachdenken, wie er in Hinterher als Rahmen für eine Lektüre des Romans im Hinblick auf die Transformationen des antifaschistischen Diskurses und die Komplexität von Identität und Integration im multikulturellen Deutschland festgehalten wird. Ich beginne jedoch mit einer Untersuchung der aktuellen Reaktion der intellektuellen deutschen Öffentlichkeit auf die Herausforderung des Rechtspopulismus.
Die wachsende Popularität der AfD hat die deutsche Öffentlichkeit verunsichert, insbesondere auf Grund ihres starken Abschneidens bei den Europawahlen im Juni, in den Landtagswahlen im September in Brandenburg, Sachsen und Thüringen und nun auch nach dem Erfolg in Oesterreich der FPÖ, die der AfD in vielen Hinsichten ähnlich ist. Die Angst vor einer Wiederauferstehung der extremen Rechten wurde durch die Wahlergebnisse in Frankreich und Italien noch verstärkt. Es ist keineswegs überraschend, dass der Erfolg der AfD in Deutschland angesichts der deutschen Vergangenheit sowie der spezifisch anti-nazistischen politischen Traditionen der Bundesrepublik und der DDR einen Nerv trifft – schließlich waren beide antifaschistisch, wenn auch auf entschieden unterschiedliche Weise: im Westen ein breiter antitotalitärer Konsens, der dem Stalinismus wie dem Nazismus galt, im Osten ein enger Antifaschismus als Element der sowjetkommunistischen Hegemonie.
In diesem Zusammenhang ist es nicht überraschend, dass die Tradition der Kritischen Theorie der Frankfurter Schule wieder auflebt, insbesondere die Werke Theodor Adornos, dessen Einfluss wohl zumindest im Moment die Resonanz seiner Hauptkonkurrenten im intellektuellen Leben der älteren Bundesrepublik, Martin Heidegger und Niklas Luhmann übertroffen hat. Adorno bleibt eine Ikone. Sein Denken integriert heterogene Strömungen, darunter den deutschen Idealismus, insbesondere über Georg Lukacs’ Neuhegelianismus, Kierkegaard, Nietzsche, Weber und Freud, abgerundet durch Hintergrundannahmen, die dem Marxismus entlehnt sind. Sein Denken reagierte jedoch auch auf seinen eigenen historischen Kontext, den Zusammenbruch der Weimarer Demokratie, den Aufstieg und die Verwüstungen der Nazi-Diktatur sowie die Folgen der antidemokratischen oder, wie er es ausdrückte, „autoritären Tendenzen“ im Deutschland nach 1945. Es ist dieser Adorno – nicht der Hegelianer, nicht der Musikkritiker, nicht der Ästhet, sondern der Kritiker des Rechtsradikalismus, der in den Vordergrund gerückt ist und seine heutige Rezeption definiert.
Auf Einladung des Verbandes sozialistischer Studenten Österreichs hielt Adorno am 6. April 1967 an der Universität Wien den Vortrag „Aspekte des neuen Rechtsradikalismus“. Er sprach frei, und der endgültige Text, der in einen Band seiner Vorlesungen aufgenommen werden soll, basiert auf einer Tonbandaufnahme. Dieser Text mit einem Nachwort von Volker Weiss wurde 2019 erstmals in einem schmalen Suhrkamp-Band veröffentlicht, der wiederholt neu aufgelegt wurde. Dass Adornos Vortrag über Rechtsradikalismus so nachgefragt ist, scheint sowohl Adornos anhaltender Bekanntheit als auch der endemischen Nervosität in der plötzlich fragmentierenden politischen Landschaft geschuldet zu sein.
Es geht mir hier nicht um die Entwicklung von Adornos Denken angesichts des Aufstiegs des Nationalsozialismus oder um seine Wahrnehmung Nazideutschlands aus der Distanz seines kalifornischen Exils. Auch werde ich mich nicht mit der Angemessenheit von Adornos 1967 verfasster Charakterisierung des Rechtsextremismus in der Bundesrepublik befassen, für die die Politik der 1964 entstandenen NPD oder die Rhetorik von Gerhard Freys 1951 gegründeter Nationalzeitung stehen. Vielmehr gilt mein Interesse der aktuellen Wiederbelebung von Adornos Darstellung im Kontext der gegenwärtigen Entwicklungen.
Die Annahme, dass Adornos über 50 Jahre alte Analyse der NPD direkt auf die AfD anwendbar sei, ist besonders weil die AfD in keiner nennenswerten organisatorischen oder personellen Kontinuität mit der NPD steht, bei näherer Betrachtung unplausibel. Dennoch impliziert die Verbreitung des Adorno-Textes die Wahrnehmung – oder besser: die Fehlwahrnehmung – einer Kontinuität in der extremen Rechten. Was sagt diese wachsende Rezeption von Adornos Text zur NDP über die heutige Linke und ihr Verständnis der AfD aus? Und kann Adornos Text dazu dienen, Licht auf die in Hinterher beschriebenen Konfrontationen zu werfen, also die mit dem homophoben Lynchmob und die andere mit den antifaschistischen Genossen?
Adorno begann seine Rede von 1967 damit, dass er sein Publikum ein Jahrzehnt in die Vergangenheit zurückführte. Er zitiert seine eigene Vorlesung „Was bedeutet Aufarbeitung der Vergangenheit“ von 1959 und deren Prämisse, dass ein Potenzial für Rechtsextremismus eine Funktion der Kontinuität sozialer Strukturen ist: „daß die gesellschaftlichen Voraussetzungen des Faschismus nach wie vor fortbestehen“ und zu diesen Strukturen gehört vor allem „die nach wie vor herrschende Konzentrationstendenz des Kapitals.“ (3) Dieses immanente Gesetz der kapitalistischen Entwicklung, argumentiert er, impliziert die Wahrscheinlichkeit, dass soziale Gruppen verelenden würden, insbesondere jene, die sich selbst als Mittelschicht betrachten und dem „Übergang zum Sozialismus“ subjektiv feindlich gegenüberstehen (S. 10–11). Diese bedrohte Mittelschicht wird dann als wahrscheinliche Quelle für die Erfolge eines Neofaschismus dargestellt.
Adorno verweilt nicht lange bei diesem offensichtlich marxistischen Rahmen, sondern wendet sich stattdessen dem zu, was wir heute als diskursive oder rhetorische Merkmale bezeichnen würden. Doch die Tatsache, dass er seine Analyse des Rechtsextremismus auf Annahmen über die Entwicklung des Kapitalismus gründet, zeigt, wie historisch oder, härter gesagt, wie veraltet sein Ansatz sich heute in mindestens zweierlei Hinsicht erweist. Erstens operiert die zeitgenössische Kritik an der AfD und im Allgemeinen die linke Kritik am Rechtsradikalismus im 21. Jahrhundert, typischerweise nicht mehr mit dieser Art orthodoxer marxistischer Paradigmen: Niemand spricht mehr ernsthaft über die Konzentrationstendenzen des Kapitalismus oder den Übergang zum Sozialismus. Wenn die AfD vielmehr mit Nazis gleichgestellt wird, beruht die angebliche Ähnlichkeit nicht auf einer behaupteten Unterstützung durch das in wenigen Konzernen konzentrierte Kapital. Stattdessen wird die Verbindung zwischen der braunen Vergangenheit und der blauen Gegenwart vielemehr bloß symbolisch demonstriert, etwa durch Hinweise auf Björn Höckes Verwendung der Phrase „Alles für Deutschland“, die einen Slogan der SS wiederholt, oder auf die Entscheidung, dem Thüringer Parteiprogramm ein Gedicht von Franz Langheinrich voranzustellen, einem sonst vergessenen Schriftsteller, der zu einem eisernen Nazi wurde, obwohl das Gedicht selbst bloß konventionelle Natur- und Heimatlyrik bedient ohne explizite Politisierung und gewiss ohne eine parteiliche Positionierung. Generell kann man sagen, dass sich viele von jenen, die sich heute als links bezeichnen, weitgehend von der Argumentation in Begriffen der politischen Ökonomie abgewandt und stattdessen auf das Feld der kulturellen Semiotik begeben haben. Es ist das Symbol, das zählt, nicht der Mehrwert.
Darüber hinaus stützt Adorno seine Argumentation auf die sicherlich zutreffende Behauptung, dass der Aufstieg des historischen Nationalsozialismus von der Unterstützung führender Industrieller abhängig war, die das „konzentrierte Kapital“ repräsentierten, auf das er sich bezieht. Ob die „Schwerindustrie“ in Westdeutschland den Aufstieg der NPD in den 1960er Jahren unterstützt hat, ist eine empirische Frage; ich bezweifle es. Es handelte sich wahrscheinlich eher um eine „lunatic fringe” ewig gestriger Menschen, eine Erklärung, die Adorno zu Recht anführt. In jedem Fall gibt es keine Beweise dafür, dass der heutige Erfolg der AfD einer Unterstützung durch das „konzentrierte Kapital“ der Großkonzerne zu verdanken ist. Bei all den Herausforderungen, denen sich die deutsche Wirtschaft im Rahmen des Wettbewerbs mit China und der Energiewende (um nur zwei Punkte zu nennen) gegenübersieht, gibt es keine Anhaltspunkte dafür, dass die Schwergewichte – Volkswagen, Daimler, Siemens oder Allianz – in geheimnisvoller Weise an den Wahlerfolgen der AfD mitgewirkt haben, trotz der Beteiligung einzelner Unternehmer. Im Gegenteil: wie in den USA neigen führende Unternehmen eher zum Modell des „woke capitalism“ und unterstützen Diversität und Einwanderung, eine notwendige Folge ihrer exportorientierten Geschäftsmodelle. Was auch immer die AfD antreibt, es sind wohl kaum die den deutschen Aktienmarkt dominierenden Konzerne.
Wenn Adorno über die Begriffe der politischen Ökonomie hinausgeht, um Aspekte des Rechtsradikalismus von 1969 zu beschreiben, erforscht er den Bereich der Kultur – und scheint damit die abwertend gemeinte Bezeichnung „Kulturmarxismus“ zu rechtfertigen. Er erwähnt zwar beiläufig die Wahrnehmung einer wirtschaftlichen Bedrohung unter Einzelhändlern, Bauern und einigen Weinbauern, „kleinen Winzern in der Pfalz“ (S. 15), aber der Kern des Arguments weist in eine andere Richtung, nämlich weg von der Ökonomie und hin zu Begriffen, die mit Themen übereinstimmen, die er und Max Horkheimer in ihrer Dialektik der Aufklärung entwickelt haben: Massenkultur und Technik, zwei Versionen des Triumphs der instrumentellen Vernunft.
So behauptet Adorno beispielsweise, dass die NPD eine „organisatorische Massenattraktivität“ (S. 21) erreichen konnte, die sich von früheren extremistischen Konkurrenten abhob, die ihr sektiererisches Image nicht ablegen konnten. „Es wirkt in Deutschland [...] das Straffe und Zentralistische“ – nicht zu vergessen: er spricht zu einem österreichischen Publikum – „während alles, was auch nur entfernt an Sekte gemahnt, was also nicht von vornherein so auftritt, als ob wunders was dahinter stünde, in Deutschland suspekt ist und kein Massenappell ausübt.“ Folglich behauptet er, dass die „deutsche Ideologie“ keine „Einzelgänger“ toleriert. Ob dies eine ausreichende Charakterisierung der „deutschen Ideologie“ ist, könnte man bezweifeln, gibt es in ihr doch reichlichen Platz für „Waldeseinsamkeit,“ nicht nur für „Massenbewegung.“ Darüber hinaus kann man mit Fug und Recht sagen, dass diese Fähigkeit, organisatorische Überlegenheit zu projizieren, die Adorno der NPD zuschreibt, kein besonders hervorstechendes Unterscheidungsmerkmal zur AfD ist.
Darüber hinaus schreibt Adorno der NPD die Fähigkeit zu, erfolgreiche Propagandakampagnen zu starten. Tatsächlich nennt er Propaganda „das Zentrum, [...] die Sache selbst in gewisser Weise“ (S. 41). Doch es ist eine Propaganda mit wenig Inhalt, weil, so behauptet er, die Ideologie zu dünn sei; es gehe vielmehr lediglich darum, die Massen zu erreichen: „Die Propaganda ist also vorwiegend eine massenpsychologische Technik“ (S. 41). Adornos Verständnis von Propaganda im Jahr 1967, das sicherlich auf seinen Erfahrungen in den 1930er und 1940er Jahren aufbaut, lässt sich nicht ohne weiteres auf die ganz andere Medienlandschaft des Jahres 2024 übertragen. Vielleicht lag er bereits falsch, als er 1967 auf die NPD die Fähigkeit zu propagandistischen Durchbrüchen projizierte, wie die NSDAP sie in den 1930er Jahren erzielt hatte, eine Form der öffentlichen Resonanz, die man der AfD trotz ihrer Wahlergebnisse kaum zuschreiben kann. Ihr Erfolg im September hat wahrscheinlich weniger mit Mediengeschick oder Höckes rhetorischen Talenten zu tun als mit der Ungeschicklichkeit der gegenwärtigen Regierungskoalition aus SPD, FDP und Grünen sowie mit den Folgen ihrer Vorgängerkoalitionen unter Kanzlerin Merkel. Die AfD ist mit anderen Worten nur zum kleinen Teil unter Bemühung von Adornos Thesen zur Kulturindustrie zu erklären und schon gar nicht als ein Ergebnis der Kapitalkonzentration.
Adornos NPD-Analyse lässt sich jedoch in zweierlei Hinsicht überzeugend auf die Gegenwart übertragen. Ein Punkt, der die zeitgenössischen Mentalitäten unbestreitbar umtreibt, ist das Gefühl drohender Katastrophen und „Weltuntergangsphantasien“ (S. 20). Davon gibt es jede Menge: Vorhersagen von links wie von rechts warnen vor ökologischen Katastrophen, nicht enden wollenden Pandemien oder der Kriegsgefahr. Hier ist Adorno tatsächlich ein nützlicher Wegweiser zum Verständnis von Aspekten des zeitgenössischen Radikalismus. Jobs Roman endet ebenfalls mit einer drohenden Katastrophe. Wir alle warten heutzutage auf Armageddon.
Der zweite Punkt, an dem Adornos ältere Analyse noch aktuell ist, ist der Hinweis auf die zentrale Bedeutung des Antisemitismus, der in der vergifteten Allianz von eingewandertem Islamismus und autochthonem linken Antizionismus anzutreffen ist. Islam, Islamismus und Einwanderung bilden ein komplexes Thema; ebenso die Beziehung zwischen der Linken und dem Zionismus, und beide sind zu umfangreich, um hier im erforderlichen Detail behandelt zu werden: ein weites Feld. Wichtig ist mir zu betonen, dass sich diese beiden Felder in Deutschland überschneiden, das sich wegen des Massenmordprogramms der Nazizeit verpflichtet fühlt, dem Antisemitismus entgegenzutreten, weshalb es die Sicherheit Israels zu seiner „Staatsraison“ erklärt, wie es Bundeskanzlerin Merkel behauptete – dieselbe Bundeskanzlerin, die unweigerlich mit der Massenmigration assoziert wird, die die Integrationsprobleme, Parallelgesellschaften wie in Neukölln und Forderungen nach der Errichtung eines Kalifats mit sich brachte. Unter dem Druck dieser beiden konkurrierenden Bedingungen verschiebt sich etwas im deutschen Selbstverständnis, während der Antisemitismus wieder auflebt.
Kann die Bundesrepublik weiterhin glaubwürdig an der Vergangenheitsbewältigung arbeiten, ohne das ideologische Gepäck der Einwanderer genau zu untersuchen? Kann sie eine offene Gesellschaft bleiben und dennoch islamistische Organisationen überwachen oder die Messerintifada beenden? Kann sie, wie Deniz Yücel auf X gefordert hat, sowohl auf den islamistischen Anschlag in Solingen 2024 reagieren, ohne den rechtsextremen Anschlag in Solingen 1993 zu vergessen? (4) Und für das Thema, das uns hier beschäftigt, müssen wir fragen, wie die deutsche Linke ihren selbsterklärten Anti-Nazismus und ihre stets bestenfalls halbherzige Opposition gegen den Antisemitismus mit ihrer Bereitschaft, den Islamismus zu umarmen, in Einklang bringt, trotz dessen unbestreitbar reaktionären Inhalte: Patriarchat, Homophobie und Antisemitismus? (5)
Seit fast einem Jahrzehnt, seit 2015, ist eine Neuausrichtung der öffentlichen Diskussion im Gange, und dies umso mehr nach den Wahlen im September und der in ihrem Gefolge wiederholten Beschwörung einer Zäsur, eines Bruchs und damit verbunden einer Neuausrichtung des Gesellschaftsvertrags. Sicherlich ist das Problem kein rein deutsches, wenn man den schwierigen Nachwahlprozess in Frankreich bedenkt. „Wäre Scholz Macron, würde er jetzt Neuwahlen ausrufen“, schrieb Ulf Poschardt am 1. September in der Welt, aber das würde wahrscheinlich nur den Zusammenbruch der SPD bundesweit deutlich machen. (6) Tatsächlich könnte das Ergebnis deutscher Neuwahlen schlimmer ausfallen als in Frankreich: Wo Macron sich der Herausforderung durch Mélenchons extremer Linken stellen musste, könnte sich Scholz am Ende mit einem Erfolg von Alice Weidels AfD weit über die neuen Bundesländer hinaus konfrontiert sehen.
Eine herausfordernde Konstellation: eine wachsende neue Rechte, eine Post-Linke, die versucht, Identitätspolitik mit Postkolonialismus zu verbinden, und eine große Einwandererbevölkerung, darunter eine islamistische Minderheit. Vor diesem fragmentierten Hintergrund haben sich konkurrierende Lösungen herausgebildet. Der israelisch-arabische Deutsche Ahmad Mansour plädiert unermüdlich für Integrationsstrategien und Sozialarbeit, um die Jugend der Einwanderer in eine deutsche Leitkultur liberaler Werte zu integrieren. Demgegenüber schlägt der deutsch-jüdische Autor Max Czolleck eine „Desintegration“ vor, und ruft die deutschen Juden auf, das „Erinnerungstheater“ der Versöhnung aufzugeben, obwohl angesichts des wachsenden Antisemitismus selbst ein hohles Erinnerungstheater attraktiver erscheint als etwa ein Kalifat. Und nicht zu vergessen: der Vorschlag des Bundeskanzlers, Abschiebungen „im großen Stil“ durchzuführen lässt sich zunächst von der der Rechten unterstellten Vision einer „Remigration“ unterscheiden. Traditionelle progressive Positionen verschwinden wie die klassisch-marxistischen kapitalismuskritischen Vorstellungen einschließlich der ideologiekritischen Einsichten von Adorno –, während rechte Positionen hegemonial werden und nicht nur von der Mitte sondern sogar von der Linken übernommen werden. Welche Herausforderung der Wahlerfolg der AfD auch darstellen mag, wichtiger dürfte die Transformation des übrigen politischen Spektrums in Richtung der AfD sein, sei es die Begeisterung des Bundeskanzlers (und nach Solingen nicht nur des Bundeskanzlers) für Abschiebungen oder die Internalisierung islamistischer Kulturwerte durch die epigonale Linke. Der Kommentator Sascha Lobo schreibt dazu im Spiegel: „Wie bringt man die deutsche Linke dazu, rechtsextreme Parolen okay zu finden? Man übersetzt sie ins Arabische.“ (7)
Und damit sind wir bei Neukölln und den Zeichen an der Wand.
Neukölln ist der Ort, an dem die postlinke Subkultur auf Einwanderung aus mehrheitlich muslimischen Ländern trifft. Es ist auch nicht zufällig der geografische Ort des fiktiven Traumas in Hinterher. Einige Hinweise in schriftlicher Form aus Neukölln können helfen, die Spannungen zu veranschaulichen, um die es auch im Roman geht, wie eine kleine Auswahl von Graffiti aus dem Sommer 2024 zeigt. Diese Schriftzüge sind offensichtlich nach der Veröffentlichung von Hinterher im Jahr 2022 entstanden, aber sie können dennoch auf einige anhaltende kulturelle Tendenzen hinweisen. Die intratextuellen Referenzen legen nahe, dass sie aktuell sind und nach dem Hamas-Anschlag vom 7. Oktober 2023 entstanden sind, – einer Zäsur, insbesondere in ihren Nachwirkungen in Deutschland. Sie stammen alle aus einer Seitenstraße der Sonnenallee, wo der Roman den Ort des folgenschweren Kusses verortet. Ich gehe von zwei verschiedenen Urhebern aus, einem gebürtigen Deutschen und einem Einwanderer (vielleicht Jemenit), aber auch ein und dieselbe Person könnte sie alle gesprüht haben.
Das erste Beispiel richtet sich gegen die israelische Kampagne in Gaza, unterstellt aber eine Verbindung zwischen Deutschland (für das „Berlin“ offensichtlich steht) und dem Krieg. Mir geht es hier nicht um eine Bewertung der bilateralen deutsch-israelischen Beziehungen, bei der die Frage nach der „deutschen Staatsräson“ gestellt würde, sondern um die Art der Bedrohung, die in dem Graffiti zum Ausdruck kommt, formuliert als elliptischer Konditional, als „Wenn-Dann“-Satz: „Wenn Gaza brennt“, d. h. wenn es angegriffen wird, „werden wir Berlin niederbrennen“. Eine zugrunde liegende aber kaum stichhaltige Annahme könnte sein, dass die deutsche Regierung in der Lage sei, die israelische Regierung in Schach zu halten. Was in unserem Kontext jedoch von Interesse ist, ist die apodiktische Priorisierung von Gaza gegenüber Berlin, d. h. Außenpolitik gegenüber Innenpolitik, oder, polemischer ausgedrückt, es ist ein Slogan, der Antiimperialismus an Stelle von sozialem Wandel bevorzugt. Der Slogan lautet nicht: „Steigen die Mieten, brennt Berlin“ oder „Sinken die Löhne, brennt Berlin.“ Solche Parolen mag es zwar anderswo geben, dort aber sind sie nicht vorhanden, und das steht im Einklang mit dem Paradigma eines abstrakten Antiimperialismus, der Diskussionen über repressive gesellschaftliche Verhältnisse immer weiter in eine ferne Zukunft verschiebt, wie der syrische Philosoph Sadik al-Azm schon vor langer Zeit im Hinblick auf den arabischen Nationalismus von 1967 und Edward Saids Orientalismus argumentierte. (8)
Das zweite Beispiel zeigt eine benachbarte Aufschrift, vermutlich von einem anderen Schreiber (andere Farbe, andere Sprache). Von oben rechts: „Gaza über der Welt“ – – was eine arabische Nachahmung der Formulierung aus dem Deutschlandlied sein könnte: statt „Deutschland über alles“ haben wir eine Version von „Gaza über alles“ oder womöglich sogar ein Echo von Höcke als „Alles für Gaza.“ Was auch immer die Genealogie sein mag, es handelt sich eindeutig um eine Erklärung absoluter Hingabe, die im Wesentlichen mit deutschen nationalen (die Hymne) oder rechtsextremen (Höcke) Inhalten übereinstimmt, aber, wie Lobo es ausdrückte, ins Arabische übersetzt wurde. Unter dieser Treueerklärung steht: „Lang lebe der Widerstand“ – – ein Hinweis auf die iranische Terminologie einer Widerstandsachse, zu der die Islamische Republik und ihre verschiedenen Stellvertreterkräfte im Nahen Osten und offensichtlich auch in Neukölln gehören.
Links auf dem Rollo hat derselbe Autor „Gott ist groß“ geschrieben – – die weit verbreitete Phrase „Allahu akbar“. Manchmal kann es im alltäglichen Deutsch der umgangssprachlichen Bedeutung von „Gott sei Dank“ entsprechen oder als Ausdruck der Ausgelassenheit verwendet werden, beispielsweise wenn es ausgerufen wird, um ein Tor bei einem Fußballspiel zu feiern. Der Ausdruck hat jedoch eine grundlegende religiöse Bedeutung, die nicht übersehen werden kann, insbesondere im Lichte des dritten Beispiels:
Diese Inschrift könnte vom selben Autor stammen – gleiche Farbe, ähnliche Buchstabenanordnung, doch hier ist die religiöse Signatur unverkennbar: „Jemen, Allah, sende um Alis Willen Hilfe“ oder – – . Der Jemen-Bezug und die Anrufung Alis lassen auf einen jemenitischen Schreiber schließen, der sich möglicherweise mit den Huthis solidarisiert. Der zweite Teil der Inschrift, der Satz „ya Ali Madad“, geht auf Legenden rund um die Schlacht von Uhud im Jahr 625 n. Chr. zurück, als die muslimischen Streitkräfte unter Führung Mohammeds gegen die Heiden des Stammes der Quraisch kämpften und Ali, Mohammeds Cousin und Schwiegersohn, dazustieß, um Unterstützung zu leisten. Mit diesem Satz, der unter Schiiten und Ismailiten weit verbreitet ist, sind theologische Probleme verbunden, insbesondere im Hinblick auf Alis Sterblichkeit, doch für unsere Zwecke gilt er als Beweis für den religiösen Inhalt des Protests gegen den Gaza-Krieg. Das Ziel ist nicht die säkulare nationale Selbstbestimmung oder gar die nationale Befreiung, sondern vielmehr eine Form des islamischen oder islamistischen Expansionismus.
Nach Lobo internalisiert die Linke rechte Positionen (autoritär, repressiv), wenn sie ins Arabische übersetzt werden. Was das bedeutet, ist sicherlich nicht eigentlich eine rein linguistische Frage, sondern vielmehr die Folge der Unterordnung der antiimperialistischen Postlinken unter islamistische Positionen, so wie nach dem Start mit einem schwärmerischen „whatever you want to be“ die Denunziation eines liebevollen Kusses als faschistisch folgte. Statt freier Liebe, die Scharia. Diesen Prozess näher zu untersuchen, ist das eigentliche Thema von Hinterher, dem wir uns nun zuwenden, wobei wir drei Punkte berücksichtigen: Welche Subjektivität ist für diese Transformation empfänglich? Was ist das Gesicht der Unterdrückung? Und gibt es eine emanzipative Alternative?
Subjektivität: Unter Bezugnahme auf die ästhetisch-theoretische Seite des Adornoschen Erbes empfiehlt es sich, nach dem Standpunkt des Erzählers zu fragen. Hinterher beginnt damit, dass der Ich-Erzähler seinen Job in einem Berliner Nachtclub kündigt: „Das frenetische Hämmern, der chemische Dunst der halbnackten Leiber und das grünflackernde Licht, die Ekstase in den leeren Gesichtern [...]“. (S. 9). Diese Atmosphäre weckt in ihm ein Gefühl des Hasses, als er seine Stelle zum letzten Mal verlässt. Obwohl er keine Erleichterung verspürt, gelingt es ihm zumindest, das allgemeine Gefühl der Katastrophe zu unterdrücken: „Die über alles schwebende Drohung für einen kurzen Moment verdrängend.“ In diesem Moment begrüßt ihn Francesco: „Ich hab’ dich eben schon an der Bar gesehen, Boy, aber da sahst du so gestresst aus, so richtig abgefuckt. Auch halt so, als sollte man dich besser nicht ansprechen [...]“. Mithilfe dieser direkten Ansprache wird in der Erzählung die Beziehung zwischen den Personen verdeutlicht. Francesco, der einen dezidiert italienisch anmutenden Namen trägt (später erfahren wir, dass beide Eltern Deutsche sind und noch dazu wohlhabend), nennt den Erzähler „Boy“, eine infantilisierende Bezeichnung, die ihm die ganze Erzählung über anhaftet, mit Ausnahme der einen Stelle, wo Sophie ihn „Fascho“ nennt. Francesco überredet Boy, der inzwischen arbeitslos ist, ihn auf einer Reise in die Normandie zu begleiten, die den Rahmen für diesen Reiseroman bildet. Unterwegs erinnert sich Boy auf nichtlineare Weise an das Trauma des Überfalls in der Sonnenallee, ebenso wie er sich an die Bruchstücke seiner vergangenen Liebesaffäre mit Chaim erinnert.
Die gemeinsame Reise ist keine Unternehmung von Gleichgestellten. Francesco hat das Geld und trifft die Entscheidungen; das Duo steht in einem Herr-Knecht-Verhältnis zueinander, was den Namen „Boy“ erklärt, ein Begriff, der aus der Sprache des Imperialismus, der Hierarchie und der Knechtschaft entlehnt ist. Boy ist der sprechende Untergebene, der Subalterne, der zunächst Bewunderung für den Herrn empfindet, nur um später seinen fatalen Fehler zu entdecken. Schon früh erklärt Boy seine anfängliche Wertschätzung für Francesco: „Es war eine Distanz zu sich selbst, zu der Rolle, die er spielte, ein so offener Umgang mit dieser Rolle, ein so keckes und doch von ihm selbst für das geneigte Gegenüber einsichtig arrangiertes Auf-sich-Schauen, das ihn mir so erträglich machte“ (S. 39–40). Es ist diese dialektische Komplexität des Charakters, die er an Francesco bewundert, seine ironische Distanz und Verspieltheit gegenüber seiner eigenen Identität, die eine Multidimensionalität bewahrt, und die „der Boy“ weiter als eine gefährdete, sich im Aussterben befindende Fähigkeit beschreibt. „Und es war dies zumal eine Fähigkeit, die allerorten ausstarb, deren Zeugen selbst ausstarben, weil wir eins mit uns sein mussten und auch diejenigen zu meiden hatten, die uns daran erinnerten, dass wir es vielleicht nicht waren.“ Das ist ein programmatischer Angriff auf die obligatorische Eindimensionalität der Identitätspolitik, die innere Unterschiede unterdrückt und alles ablehnt, was abweichende Gedanken hervorruft. Hinterher bietet hier mehr als eine Charakteranalyse, sondern auch eine Gesellschaftstheorie des Faschismus: „Es sei gefährlich, Umgang mit diesen Leuten (wie Francesco) zu pflegen, ein zu hohes Risiko – gestern schon in Deutschland und heute in der ganzen Welt.“ Die unmissverständliche Anspielung bezieht sich auf das Nazi-Marschlied mit dem Refrain „Wir werden weiter marschieren/wenn alles in Scherben fällt, Denn heute da hört uns Deutschland, und morgen die ganze Welt.“ (9) Für Boy verfügt Francesco also über eine Art emanzipierten Charakter, d.h. eine Form der Individualität, die allmählich vor der Verbreitung eines degradierten Persönlichkeitstyps zurücktritt und verschwindet. Es gibt hier Anklänge an Adornos Beschreibung der autoritären Persönlichkeit und Marcuses „eindimensionalen Menschen“ und dahinter Nietzsches „letzten Menschen“.
Aber die Dialektik von Herr und Knecht führt bei Hegel bekanntlich zur Instabilität der Hierarchie und zur ultimativen Umkehrung. In einer letzten Konfrontation rebelliert Boy gegen Francesco und denunziert ihn als „Richkid“ (S. 179) und „Junkie“ (S. 180). In einem Roman, der von Anfang an von Drogenkonsum handelt, muss Francesco sich von Sophia, Boys Gegnerin, Kokain aus Berlin in die Normandie bringen lassen. Als Boy ihn zur Rede stellt, bricht er zusammen und gesteht: „Ich brauche das Koks, mein Gott! Ich brauche das scheiß Koks. Ich bin ihre scheiß Hure!“ und später: „Fuck, ich bin ihre scheiß Koksnutte!“ (S. 180). Der Herr wird zum Sklaven, aber Boy entkommt nie seiner eigenen Schwäche in einer Welt um sich greifender Infantilisierung.
Als Roman über Drogenmissbrauch und Erniedrigung kann Hinterher mit Werken von Brett Easton Ellis und William Burroughs verglichen werden, und in Bezug auf Politik und Drogen in Deutschland mit Bernward Vespers Die Reise oder Ernst Jüngers Die Annäherung. In Hinterher gibt es jedoch keine Romantisierung der Wirkung von Betäubungsmitteln. Der Roman beschreibt stattdessen ein Milieu, das sich durch den Konsum großer Mengen Kokain, Ketamin, GBL oder LSD selbstzerstörerisch verhält, um einer verhassten Existenz zu entfliehen. Hinter der oberflächlichen politischen Rhetorik des Faschismus und Antifaschismus verbirgt sich ein tieferer Nihilismus. In diesem Punkt hatte Adorno Recht: „Wer nichts vor sich sieht und wer die Veränderung der gesellschaftlichen Basis nicht will, [...] der will aus seiner eigenen sozialen Situation heraus den Untergang, nur dann eben nicht den Untergang der eigenen Gruppe, sondern wenn möglich den Untergang des Ganzen“ (S. 20). Oder wie ein anderer Graffiti-Künstler in Neukölln es auf den Begriff brachte: „purer Hass.“
Repression: Hinterher ist ein Roadtrip-Roman über eine bisweilen surreal anmutende Abenteuerreise von Boy und Francesco von Neukölln in die Normandie. In einer Nebenhandlung wohnen sie bei Gédéon, dem exzentrischen Erben einer verfallenden Villa, während Francesco an einer Kunstinstallation in einer Kirche arbeitet. Es ist also auch ein Künstlerroman oder zumindest ein Roman über Kunst. Gleichzeitig ist es vor allem ein Erinnerungsroman – es gibt viele Verweise auf Prousts Auf der Suche nach der verlorenen Zeit. Doch der Inhalt dieser besonderen Erinnerung des Ich-Erzählers dreht sich um das Trauma des Ereignisses auf der Sonnenallee und in Peters Wohnung, um den Umschlag des Moments unschuldigen Glücks in Verfolgung.
Die traumatische Erinnerung taucht fragmentarisch in mehreren diskreten Passagen während der Reise auf, aber die Kernerzählung des Ereignisses ist beinahe genau in der Mitte des Romans angesiedelt. Zwei bedeutende Schritte gehen ihr unmittelbar voran. Gédéon hat gerade Francesco und Boy dazu veranlasst, als Teil der Villasanierung eine Wand einzureißen, und dieser bauliche Durchbruch kündigt den Durchbruch der Erinnerung an. Darüber hinaus hat Boy unmittelbar vor der Erzählung des verhängnisvollen Kusses einen Traum: Kurfürstendamm, Frank Sinatra-Soundtrack und die KaDeWe-Gourmetabteilung, wo er eine Tür zu einem versteckten Raum öffnet: „An einem der Tische sitzt Sophia mit al-Husseini, dem Großmufti von Jerusalem. Sie kichern und tuscheln [...] Manchmal zwickt der Mufti Sophia in die Wange, und dann muss sie lachen und ihr undefinierbares Haar schütteln“ (S. 96). Sophia: Sie ist Boys ehemalige Freundin, mit der er von Westfalen nach Berlin gezogen war, vielleicht seine ehemalige Geliebte, die sich jedoch sadistisch an seiner Denunziation als Faschist beteiligt. Al-Husseini war in den dreißiger und vierziger Jahren ein historischer Anführer des palästinensischen Nationalismus, der angesichts des gemeinsamen Antisemitismus mit den Nazis kollaborierte und die Kriegsjahre damit verbrachte, von einem Sender in Zeesen bei Berlin aus Propaganda in die arabische Welt zu senden. Sophia und al-Husseini inszenieren gemeinsam die Allianz der Linken mit dem Islamismus. (10)
Für deutsche Israelkritiker stellt der Großmufti und Nazi-Kollaborateur Amin al-Husseini ein besonderes Problem dar, weil sein Handeln einen Beweis für die Nähe des Antizionismus zum Dritten Reich bedeutet. Diese Provokation ist Teil genau des, wie Adorno es nennen würde, Wahrheitsgehalts von Hinterher, der das Abgleiten der Postlinken (Sophia) hin zur Affirmation des nationalsozialistischen „Erbes“ bloßstellt, das sie nach eigener Überzeugung doch anprangern sollte, von dem sie aber angezogen wird. Auf dem Spiel steht die Werteambiguität zwischen links und rechts.
Dieser Alptraum von einer Verbrüderung des Postlinken mit dem reaktionären Islamismus wird später in der Behandlung von Chaim in der Wirklichkeit wieder aufgenommen. Als er mit Kippa zu Peter geht, wird er erst auf der Straße und erneut in der Wohnung misshandelt: „Noch zweimal ging er in die Wohnung und auch mit der Kippa durch Neukölln. Einmal wurde er nur zusammengeschlagen, denn beim zweiten Mal hatte er schon seinen Taser – zweimal durfte er sich jedoch von Peter anhören, dass er sich nicht zu wundern brauche, warum er denn auch provozieren müsse. [...] Ja, so ganz Unrecht hätte Sophia nicht, im Grunde sei er doch ein Rassist“ (S. 147). Der Erzähler kann Chaims Entscheidung zur Abreise nur bekräftigen: „Chaim hatte recht damit, zurück nach Tel Aviv zu gehen. Ich wäre auch gegangen, an seiner Stelle“ (S. 147). In Hinterher ist die Erosion der Möglichkeit jüdischen Lebens in Deutschland Gegenstand, und das nicht oder nicht nur wegen des importierten Antisemitismus, sondern wegen des Mangels an Solidarität gerade in einer Subkultur, die sich als fortschrittlich versteht. Die schwedische Besucherin hatte Unrecht: Chaims Werdegang zeigt, dass man in Berlin nicht alles sein kann, was man sein will.
Boy ist jedoch anders und zeigt einen tief verwurzelten Widerstand gegen Unterdrückung. Schließlich war er es, der Chaim den Kuss auf die Wange drückte. Dies steht im Einklang mit dem, was wir über seine oppositionelle Laufbahn wissen: seine Flucht aus der Provinz nach Berlin wie auch die Kündigung seines verhassten Jobs zu Beginn der Erzählung. Im Gegensatz zu Sophia, die in der politisch korrekten Atmosphäre der Universität aufblüht, gibt Boy – trotz seiner Intellektualität und Bücherliebe – sein Studium auf, gerade wegen der vorherrschenden identitätspolitischen „Orthodoxien“. „Da, wo sie nach mehr Zensur schrie, störten mich schon die bestehenden Redeverbote, und dort, wo sie meinte, man müsse Rücksicht nehmen, Rücksicht auf Gott weiß wen, meinte ich, man beginne erst mit der Kritik“ (S. 47–48). Auf Francescos Frage, warum er das Studium abgebrochen habe, antwortet er: „An den Universitäten herrscht ein Klima der Angst“, und eine ausführliche Kritik an zeitgenössischen Literaturtheorien führt ihn zu der Provokation: „Es lässt sich zur Not alles weggendern, selbst unliebsame Gedanken. Diese ganzen verkappten Heideggernazis, diese elenden – [...] Was soll ich mit Idioten, die so unverblümt ihre Unfähigkeit, ihr Unvermögen ausstellen und das Ganze als fortschrittliche Sensibilität ausgeben?“ (S. 48)
Boy lehnt repressive Strukturen ab – in der Sonnenallee, in Peters Wohnung und an der Universität. Aufgrund dieses Widerstands erklärt Sophia ihn zum Faschisten und beabsichtigt, ihr Urteil mit Gewalt zu bekräftigen: „Damals, früher, hatte Sophia ständig mit Thüringer Antifa-Schlägern geschlafen“ (S. 27), und sie hat immer noch einen dieser harten Kerle um sich, der ihren politischen Sadismus in die Tat umsetzen soll. In dem Augenblick als dieser „Thüringer Koloss“ (S. 31) fragt: „Also, wo ist jetzt dieser Nazi“, weiß Boy, dass er fliehen muß. Francesco bringt ihn nach Frankreich.
Befreiung: Hinterher zeichnet einen Roadtrip nach, aber nicht einfach von Deutschland nach Frankreich. Vielmehr bewegen wir uns von der Unterdrückung Neuköllns, wo man tatsächlich nicht sein kann, was man sein will, in die Normandie – also nicht nach irgendwo in Frankreich, sondern genau in die Region in Frankreich, die noch immer mit der Befreiung im Sinne von le débarquement verbunden ist. In Caen angekommen, notiert Boy: „Überall wehten sie, die amerikanischen Flaggen, und das allein machte die Stadt schön. Die D-Day-Feierlichkeiten waren schon eine Weile her – wehten die Flaggen immer, das ganze Jahr über? Anscheinend war man hier dankbarer“ (S. 150). Mit der Berufung auf die Landung in der Normandie weist der Text auf einen echten Antifaschismus hin, im Gegensatz zur Bedrohung durch den Thüringer Koloss oder die Banden in den Straßen Neuköllns. Kein Wunder also, dass Boy und Chaim auf einer früheren Reise das Grab von Klaus Mann besucht hatten, nicht in der Normandie, aber doch in Frankreich, im Süden. Die Beschwörung von Klaus Mann, Sohn von Thomas Mann, führt die verschiedenen Handlungsstränge des Romans zusammen: schwul, antifaschistisch, der Emigrant, der in die USA ins Exil ging, aber mit den amerikanischen Besatzungstruppen zurückkehrte. Mann war auch ein Drogenkonsument, was eine weitere Verbindung zu den Themen von Hinterher herstellt. (Der Besuch am Grab von Klaus Mann erinnert an den Besuch am Grab seines Vaters in Christian Krachts Faserland von 1995.) Die Verflechtung von Frankreich und der Befreiung taucht sogar im religiösen Erlebnis in der Kathedrale von Amiens wieder auf. „Zitternd kniete ich. Zitternd hielt ich mich an der Lehne fest. [...] Es war, als diktiere mir mein Körper zu beten. Und ja, ich hätte es zu gern gekonnt“ (S. 54), bis er nach einem Zwischenspiel berichtet: „Erst, als ich in einer der Kapellen plötzlich auf die Fahnen der Alliierten stieß, musste ich lächeln“ (S. 55). Der Besuch in Amiens, insbesondere in der Herz-Jesu-Kapelle, verdient einen Vergleich mit dem Besuch des Marienheiligtums in Rocamadourt in Michel Houllebecqs Soumission (2015), einem Roman, der so viele andere Berührungspunkte mit diesem hat. Doch die Idealisierung von Frankreich in Hinterher verblasst schließlich im Schatten der Erinnerung an den islamistischen Anschlag 2016 in Nizza auf der Promenade des Anglais, bei dem am Bastille-Tag, nur zwei Tage nach Boy und Chaims Besuch dort, 86 Menschen ums Leben kamen.
Der Titel von Jobs Roman benennt Retrospektive und Folgehaftigkeit. Es weist auf einen formalen literarischen Hintergrund der Erinnerung hin, der sich in der proustischen Atmosphäre des Romans zeigt und an die vergangene Liebe mit Chaim erinnert. Aber es gibt auch die Nachwirkungen des Traumas in der Sonnenallee sowie das Hinterher der Shoah, das den Erzähler unabhängig von seiner Verbindung zu Chaim beschäftigt. Und da ist auch unser eigenes Hinterher der Rezeption: Wir lesen diesen Roman von 2022 im Gefolge des 7. Oktober 2023, nach dem Aufruf zum Kalifat in den Straßen Deutschlands, nach den Morden in Solingen und nach den Wahlen im September. Vielleicht am eindringlichsten ist das Hinterher der Verfolgung und Bedrohung, als der Pöbel – im Roman fällt das Wort „Pack“ – der hinter dem Liebespaar her ist, auf Deutsch eine „Hetzjagd“ betreibt. Finn Jobs Roman beschreibt einen – sozialen, politischen, vielleicht existentiellen – Zustand der Verfolgung als objektives Potenzial in der deutschen Gegenwart.
Russell A. Berman (Bahamas 95 / 2024)
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