Titelbild des Hefts Nummer 97
daß Auschwitz sich nicht wiederhole
nichts Ähnliches geschehe
Heft 97 / Herbst 2025
Abonnieren / Bestellen

Frauke Brosius-Gersdorf has great Genes

Warum das Letzte, was die Menschheit im KI-Zeitalter braucht, eine Neudefinition der Menschenwürde ist

Cis-Frau, weiß gelesen. Blond, blauäugig. Schmale Taille, große Oberweite. Das Schönheitsideal, dem Sydney Sweeney entspricht, stammt eindeutig aus dem letzten Jahrhundert. Ebenso anachronistisch mutet der Slogan an, den das US-Modelabel American Eagle der gerne körperbetont auftretenden Schauspielerin im Juli 2025 in den Mund gelegt hatte, um für seine Bekleidungsprodukte zu werben: „Sydney Sweeney has great Jeans“, mit intendiertem Wortspiel („Jeans“ = gleichlautend „Genes“). 1997, als Sweeney geboren wurde, hätte man den Spruch noch maximal als plump-pubertären Sexismus gedeutet, unterhalb der Würde jeden Kritikers. Wir leben aber im Jahr 2025, und so fuhr der übliche „progressive“ Empörungstross mit den schwersten Geschützen vor. Das linksliberale Magazin Salon (laut Wikipedia „Pionier des gehobenen Online-Journalismus“) zog sogleich Verbindungen zur historischen Eugenikbewegung, die einst die Zwangssterilisierung Nichtweißer gefordert habe, ebensolches war auf ABC zu hören: die Eugenikbewegung zwischen 1900–1940 habe das Konzept „guter Gene“ als Argument für „White Supremacy“ genutzt, MSNBC und Washington Post zeigten sich zumindest bestürzt, wie in Mode und Popkultur „Whiteness“ und alles mögliche „Regressive“ gerade mit scheinbar schier urgewaltiger Macht zurückkämen (1). Außerhalb der woke bubble konnte man über das Theater nur den Kopf schütteln, liegen doch zwischen einem dümmlich-affirmativen Anmachspruch und menschenverachtender Vernichtungspolitik eindeutig noch ein paar nicht unwesentliche Gedankengänge mehr. Kritikwürdig ist an den Vorwürfen aber nicht nur die ärgerliche Gleichsetzung von Ungleichem, reale Verbrechen verharmlosend und ernsthafte Kritik der ja tatsächlich bescheuerten Unsitte, im Zusammenhang mit kulturbedingten Schönheitsidealen von „guten Genen“ zu palavern, erschwerend, sondern auch die unhistorische Reduzierung der Eugenik auf eine weitere Ausdrucksform von weißem Überlegenheitsdenken. Im Gegenteil ist „White Supremacy“ lediglich ein Aspekt der mörderischen Eugenikbewegung gewesen – und zwar einer, der heute so gut wie keine Rolle mehr spielt. Andere Aspekte sind hingegen sehr wohl hochaktuell, gerade diese aber werden von Linken jener Art, die sich über Sweeney echauffiert, bestenfalls totgeschwiegen, wenn nicht gar überaus zustimmend aufgegriffen. Nirgendwo sind heutzutage Bestrebungen erkennbar, als minderwertig stigmatisierte Nichtweiße innerhalb westlicher Gesellschaften eugenisch auszurotten (2) – anders sieht es im Fall von Behinderten (3) und unheilbar Kranken aus, was für Deutschland nicht weniger als für die USA gilt.

Der gesunde Volkskörper

Das Wesen der Eugenik, der „Rassenhygiene“, besteht in der Hierarchisierung menschlichen Lebens, der Behauptung unterschiedlicher Wertigkeit, was politische Maßnahmen zur Förderung der vermeintlich Höherwertigen nach sich zieht, zu Lasten der „Minderwertigen“. Die Eugenikbewegung trieb seit Ausgang des 19. Jahrhunderts in besonderer Weise in Deutschland und Nordeuropa (4) ihr Unwesen und fand ihren Höhepunkt in der NS-Politik. Die darwinistische Vorstellung einer steten Höherentwicklung der „Arten“ durch Auslese führte im „progressiven“ Bürgertum, der jüdisch-christlichen Idee einer allen Menschen gleichermaßen zukommenden absoluten Würde entfremdet, zu hysterischer Angst vor angeblich drohender „Degenerierung“ der nationalen Bevölkerung (wozu „widernatürliche“ Maßnahmen zum Schutz der Schwachen zwangsläufig führen würden) und spornte es zu aktiver Züchtungs- und Ausrottungspolitik an (5). Es herrschte ein wahnhafter Kult um „Gesundheit“ und jugendliche Vitalität. Völkische Lebens- und sozialistische Gesellschaftsreformer fanden auf diesem Gebiet zu trauter Einigkeit. Sozialdemokraten des frühen 20. Jahrhunderts machten sich Gedanken, wie der „Rassenverfall“ aufzuhalten sei, und neben dem Zeugen „erbgesunder“ Kinder (pro gesunder deutscher Frau mindestens drei, wenn es nach dem gesundheitspolitischen Sprecher der Partei, Alfred Grotjahn, gegangen wäre) und dem gesunden Ackern auf der eigenen Scholle des Schrebergartens fiel ihnen dazu etwa die Eindämmung der Einwanderung aus dem „unkultivierten“ Osten ein, Zwangsunfruchtbarmachung, aber auch bereits Euthanasie und Zwangsabtreibungen. Schreibtischtäter wie Ernst Haeckel wollten dem „unwerten Leben“ durch Massensterilisation von Geisteskranken, aber auch Kriminellen und „moralisch Zurückgebliebenen“, an den Kragen. Kriminalität galt ihnen als genetisch bedingter Defekt belasteter Individuen, nicht als sozial bzw. wirtschaftlich zu erklärendes Phänomen. 1923 wurde in München der erste Lehrstuhl für Rassenhygiene eingerichtet, 1927 folgte das Eugenik-Institut in Berlin (Leiter: Eugen Fischer, der auch rassische „Mischlinge“ für minderwertig hielt und seit Anfang des Jahrhunderts die Furcht vor „Rassenmischung“ schürte). Der individuelle Körper galt, als Erbgutträger, gleichsam als dem ganzen Volk gehörig, als Teil des „Volkskörpers“, der eine „Volksgesundheit“ habe und daran Schaden nehmen könne (auch etwa durch „Ungeziefer“ wie die „Ostjuden“ – Tiervergleiche waren unter Eugenikern normal). 1925 wurden in Deutschland erstmals alle geistig und körperlich „Gebrechlichen“ erfasst, ab 1934 „Asoziale“ und Erbkranke, wenig später „Fremdvölkische“. Mit Hilfe der Datensammlungen wurde die „Gesundung des Volkskörpers“ konkret durchführbar. Die Daten bezüglich der „unnützen Esser“ lieferten Material zum Panikschüren (das Land werde von Kranken und Behinderten überflutet, der „Volkstod“ stehe kurz bevor, außerdem koste das sinnlose „Hochpäppeln“ Hunderte von Millionen Mark) und waren Grundlage für die massenhafte Zwangssterilisation in Folge des NS-Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses (rund 350.000 Menschen bis 1938, dazu kamen viele tausend Abtreibungen und Eheauflösungen) (6). Hitler machte die „Reinhaltung der Rasse“ zum politischen Programm und setzte, mit wenigen Anpassungen, sozialdemokratische Gesetzesentwürfe der Weimarer Zeit unter allgemeiner deutscher Zustimmung um. Der „Garten“ der Volksgemeinschaft würde sonst mit „menschlichem Unkraut“ überwuchern (so die Propaganda des Rassenpolitischen Amtes). „Intelligenztests“ fragen die der geistigen Unterentwicklung Verdächtigen ab, wer Luther und Bismarck waren und wie die aktuelle Staatsform in Deutschland heißt. Die Nürnberger Rassegesetze von 1935 untersagten Ehen zwischen Partnern mit der „falschen“ Abstammung, allgemein wurde der „Wert“ der jeweiligen Verbindung für das deutsche Volk vorab geprüft. Da die NS-Ärzte mit der Massensterilisation bald nicht mehr nachkamen, gab die Politik Hilfestellung bei der Priorisierung. Als dringliche Fälle galten dem badischen Innenminister 1935 „Schwachsinnige aller Formen, insbesondere auch leichte Fälle, körperlich gesunde, lebhafte weibliche und männliche Personen zwischen 16 und etwa 40 Jahren, jugendliche Schizophrene und Manisch-Depressive in der Remission, Epileptiker, fortpflanzungsfähige Alkoholiker unter dem 50. Lebensjahr, jugendliche erblich Blinde, Taube usw“ – eben „gefährliche“ Erbkranke (auf 1.000 Einwohner kämen rund 20 davon), alle anderen (insbesondere zeugungsunfähige) solle man einer „späteren Zeit überlassen“ (7). 1938 waren anscheinend wieder genug Kapazitäten da, nun sollten alle „Gemeinschaftsunfähigen“ drankommen (ihre „Asozialität“ sei ja ebenfalls erblich, sie müssten zudem in Arbeitslagern vom Rest der Gesellschaft separiert werden) (8), nicht den „Mindestanforderungen der Volksgemeinschaft“ an „persönliches, soziales und völkisches Verhalten“ genügend; vor allem waren „Arbeitsscheue“ gemeint, für die kein Platz in der schaffenden Leistungsgemeinschaft war.

Der nächste Schritt war folgerichtig, die „Euthanasie“. Schon zur Weimarer Zeit hatten renommierte Mediziner die Ermordung von Geisteskranken offen befürwortet, weil deren Leben so „zwecklos“ sei und alle anderen nur belaste (9). In der deutschen Bevölkerung eine mehrheitsfähige Position: Umfragen zufolge lehnten in den 1920ern nur 10 Prozent der Eltern uneingeschränkt ab, einer möglichen „schmerzlosen Abkürzung des Lebens“ ihres „unheilbar blöden Kindes“ zuzustimmen. Und in der Tat: die allermeisten Eltern, von den Ärzten ermutigt, stimmten 1941, als zur Tat geschritten wurde, den (euphemistisch angedeuteten) Morden zu – oft übertrafen sie die Ärzte sogar noch an „Erlösungs“-Wünschen, selbst bei als „entwicklungsfähig“ eingestuften Kindern. Der einzige Widerstand kam aus der katholischen Kirche, war dort allerdings hauptsächlich klerikal getragen: gegen die gewaltsame Verschleppung der Behinderten in der Aktion T4 protestierten auch in katholischen Gegenden nur wenige Angehörige, obwohl etwa Ordensschwestern ihnen vorab deutlich nahelegten, die Menschen aus den Anstalten herauszunehmen. Argumentiert wurde in der Propaganda zweigleisig. Auf der Gefühlsebene wurde suggeriert, Schwerkranke und Behinderte seien ja selbst über ihren Zustand so unglücklich und würden sich den „germanischer Sitte“ entsprechenden „Gnadentod“ wünschen; und für „rationale“ Gemüter hieß es, in der Natur würden die „Untauglichen“ schließlich auch ausgemerzt. Hunderttausende Menschen fielen der NS-Euthanasie während des Zweiten Weltkriegs insgesamt zum Opfer, darunter mehrere tausend Kinder.

Was blieb vom Eugenik-Wahn nach 1945? Ein Unrechtsbewusstsein auf Täterseite existierte nicht (11). Das Gesetz zur „Verhütung erbkranken Nachwuchses“ blieb noch jahrzehntelang in Kraft, die Opfer wurden von Entschädigungsansprüchen ausdrücklich ausgeschlossen. Nazis wie Konrad Lorenz (Mitglied des Rassenpolitischen Amtes, die „Ausmerze“ der Schwachen als Mittel zur „Höherentwicklung“ der Menschheit begreifend) galten als großartige Wissenschaftler (und schürten weiter eifrig Panik vor „Überbevölkerung“). Erst Ende Januar 2025 (!) stellte der Bundestag fest, dass Opfer von Euthanasie und Zwangssterilisierung als NS-Verfolgte anzuerkennen sind. Helfen wird es kaum jemandem mehr. Bis heute hält sich die Trauer um sie in Grenzen. Für viele Deutsche ergeben sich die Rechte des Menschen weiterhin nicht von Natur aus, sondern aufgrund der Konvention seiner Ausbeuter. Die Auffassung, das Kollektiv besitze einen höheren Wert als die einzelne Person, deren „Wert“ davon abhänge, wie viel sie zum „Allgemeinwohl“ beitragen könne, lässt unproduktives Leben weiter als wertlos und darum nicht schützenswert, ja schädlich („parasitär“) erscheinen. Körperliche Mängel würden die ganze Existenz versauen, Nichtexistenz der Betroffenen sei „besser für alle“ (12). 2020 wurde z.B. im Aargau ein behindertes, pflegebedürftiges dreijähriges Kind von seinen deutschen Eltern umgebracht, weil es nach Aussage der Mutter (die es „wieder tun“ würde) im Prozess vier Jahre später „kein Leben, das ein Leben hätte werden können“ [sic!], hatte (13). Wie lange solches noch als Verbrechen gilt, ist fraglich; in den Niederlanden (wo Tötung auf Verlangen seit 2001 legal ist und viele Mediziner seither auch die Legalisierung der Tötung schwerbehinderter Säuglinge fordern) ist seit 2024 „aktive Sterbehilfe“ bei Kindern unter 12 Jahren legal (14) – und dort kann ein Arzt sogar ohne persönliche Einwilligung töten, wenn ihm die Lebensqualität des Patienten zu niedrig erscheint.

Menschenwürde: ein Fehlschluss?

Was steht dem noch entgegen? Aus Perspektive der Schöpfer des Grundgesetzes ist, nach den Erfahrungen der Nazibarbarei, die Menschenwürde über gesellschaftliche oder individuelle Forderungen an den Einzelnen erhaben, muss nicht durch Leistung erworben oder gnädig verliehen werden, sondern ergibt sich, bedingungslos, aus der Tatsache des Menschseins – weshalb das deutsche Recht grundsätzlich sogar den noch nicht geborenen Menschen schützt (§ 218 StGB). Wer sich nun über die „rechte Kampagne“ gegen die gescheiterte Kandidatin für das Bundesverfassungsgericht, Frauke Brosius-Gersdorf, im Sommer 2025 beschwerte, scheint nicht begriffen zu haben, dass diese Juristin für das Überwundengeglaubte einsteht, eine Staffelung des Rechts auf Leben, was, im Gegensatz zur Jeanswerbung, in den Konsequenzen tatsächlich an die alte Eugenikbewegung erinnert. Brosius-Gersdorf war als stellvertretende Koordinatorin der von der Regierung eingesetzten Expertenkommission zur reproduktiven Selbstbestimmung maßgeblich am Zustandekommen eines liberalisierenden Gesetzesentwurfs beteiligt, womit Abtreibungen bis zur Geburt auch ohne medizinische Indikation zwar nicht vollständig legalisiert, jedoch erheblich erleichtert würden (15). Sie verneint die Menschenwürde von Ungeborenen und behauptet, deren Lebensrecht habe gegenüber Geborenen ein geringeres „Gewicht“ aufgrund ihrer „existenziellen Abhängigkeit“ vom Körper der Schwangeren. Das heißt, zynischerweise: je mehr ein Mensch auf den anderen angewiesen ist, desto weniger müsse sein Leben von diesem geachtet werden. Mit gutem Grund könnte man das Verhältnis Ungeborener zu „anderen Grundrechtsträgern“ auch als bloße Variante einer generellen Abhängigkeit der Menschen voneinander ansehen, die auch für Geborene „existenziell“ ist. So ist der Homo Sapiens bekannt dafür, dass seine Neugeborenen (im Gegensatz zu den meisten Tieren) völlig hilflos sind, und in der modernen, komplex organisierten Gesellschaft ist auch später autarkes Überleben nahezu unmöglich. Wenn Brosius-Gersdorf mit „guten Gründen“ dafür, dass die Menschenwürdegarantie (Art. 1 Abs. 1 GG) erst ab Geburt gelten solle, derart heroisch-sozialdarwinistisch anmutendes Lob vermeintlicher Unabhängigkeit meint (16), gibt es wohl keine. In einer Festschrift zum 70. Geburtstag von Horst Dreier (2024) nennt sie es einen „biologistisch-naturalistischen Fehlschluss“, dass „die Menschenwürde überall gelte, wo menschliches Leben existiert“; lieber wäre ihr also anscheinend eine technizistisch-kulturalistische Definition der Menschenwürde. Selbst in der Spätphase der Schwangerschaft solle dem Ungeborenen kein voller, lediglich ein „starker“ Schutz zugestanden werden. Highlight: „Bei einer schweren und nicht heilbaren Krankheit des Fetus […] könnte unter dem Gesichtspunkt des Grundrechts des Kindes auf selbstbestimmtes Sterben […] ein Schwangerschaftsabbruch auch bei extrauteriner Lebensfähigkeit des Fetus zulässig sein“ (17). Die Tötung eines nach Geburt lebensfähigen Kindes im Mutterleib komme also dessen „Selbstbestimmung“ zugute, sofern es schwerkrank ist – einen Schwerkranken nach seinem Selbsttötungswunsch zu fragen erübrige sich wohl, als sei der ja ohnehin klar. Das ist Überlegenheitsrhetorik gesunder Geborener gegenüber kranken Ungeborenen; so oft löst deren Schwäche und Hilfsbedürftigkeit nicht etwa Solidarität aus, sondern Vernichtungswünsche. Brosius-Gersdorf behauptet zwar, bei einer Abtreibung würde „in der Regel“ der Ungeborene nicht als „lebensunwert“ angesehen und somit zum Objekt herabgewürdigt, für die Schwangere sei halt einfach „eine Mutterschaft zu dem Zeitpunkt nicht vorstellbar“ (18). Aber aus welchen Gründen? Warum werden in Deutschland z.B. rund 90 Prozent aller Kinder mit Down-Syndrom abgetrieben (19)? Hat dies nichts mit einer Abstufung von wertvollem und weniger wertvollem Leben zu tun? Ist der Gesundheitswahn der völkischen Jugendbewegung und NS-Zeit überwunden? Ist „unproduktives“ Leben plötzlich gesellschaftlich akzeptiert (20)? Warum wird in Deutschland seit 2012 der Trisomie 21-Test angeboten? In einem hervorragenden Artikel für den (ansonsten alles andere als hervorragenden) linken Freitag schrieb die Juristin Isabel Erdem bereits im März: „Aus gutem Grund wird nicht vorab ermittelt, welche Haut- oder Haarfarbe das Baby haben wird. Ebenfalls testen wir das embryonale Blut (noch) nicht auf eventuelle Gendispositionen für frühe Diabetes, Krebs, neurodegenerative und psychische Erkrankungen. Aus gutem Grund wird vor Ablauf der 12. Schwangerschaftswoche auch nicht das Geschlecht des Kindes mitgeteilt, damit man sich nicht etwa aufgrund dessen gegen die Fortsetzung der Schwangerschaft entscheiden kann“ (21). Ganz anders sieht es im Fall von Behinderungen aus. Die pränatale Diagnostik ist de facto Selektion. Wer „schlechte Gene“ hat, kommt weg. Um nichts anderes geht es bei den Versuchen, auch Spätabtreibung (22) auf die mal mehr, mal weniger sanfte Tour zu entkriminalisieren: Der mit Abstand häufigste Grund für sie ist eine Schwerbehinderung, denn viele Fehlbildungen fallen erst ab der 22. Schwangerschaftswoche auf. Ein großer Teil dieser Föten wäre außerhalb des Mutterleibes lebensfähig, aber ihnen wird offensichtlich nicht ausreichend Wertigkeit zugestanden, welche rechtfertigen würde, sich nach der Geburt um sie zu kümmern. Hat dies nichts zu tun mit dem Ideal der arbeitenden Gemeinschaft, in welcher der Kranke nur „asozialer Parasit“ sei? Mit der Anspruchshaltung gegenüber kommunikativen und kognitiven Fähigkeiten des Mitmenschen? Womit sonst? Hinreichender Tötungsgrund ist immer noch, dass ein Mensch die an ihn gestellten Erwartungen nicht erfüllt, stattdessen nur Arbeit mache, „Belastung“ sei, und die gesellschaftliche Unterstützung und Akzeptanz nicht der Rede wert sind. Also stimmte bereits im Juni 2025 das britische Unterhaus für eine Entkriminalisierung der Abtreibung bis zur Geburt, und für die Demokraten in den USA ist die Rechtlosigkeit Ungeborener so klar, dass selbst solche, die ihre Spätabtreibung überleben, keinen Anspruch auf medizinische Hilfe haben sollen. Regelmäßig scheitern entsprechende republikanische Gesetzesanträge (23) – wer zum Tode verurteilt ist, soll gefälligst auch sterben. Die Menschenrechte werden hier nicht einmal mehr qua Geburt zugesprochen. Um die Jahrtausendwende hatten Fälle von Kindern, die eine Spätabtreibung überlebt hatten und durch „Liegenlassen“ oder direkten Mord umgebracht wurden bzw. werden sollten (24), hierzulande noch für Negativschlagzeilen gesorgt. Wer solches heute gutheißt, darf sich nicht über Vergleiche mit dem berüchtigten Tierrechtler Peter Singer beschweren, für den geistig Behinderte (deren Leben er sich unerträglich vorstellt) „Nicht-Personen“ sind, weil ihnen diese und jene Fähigkeiten fehlen: Behinderte Kinder sollen seiner Meinung nach getötet werden, um der Gesellschaft, den Eltern und ihnen selbst „Leid zu ersparen“. Zu sagen: „Dein Leben ist wertlos“ heißt eben nichts anderes als „Du bist wertlos“, denn aus der vermeintlichen Wertlosigkeit des Lebens wird eine Rechtlosigkeit des Lebenden (über den wie über eine Sache verfügt werden dürfe) abgeleitet.

Vor zwei Jahren wurde auch die „Sterbehilfe“ wieder einmal auf die politische Tagesordnung gezerrt. Zwei im Bundestag vernünftigerweise abgelehnte Gesetzesentwürfe hätten zur weiteren Normalisierung des assistierten Suizids beigetragen. Linke Medien wie Konkret berichteten erfreulich kritisch zu den damaligen Tendenzen. Ein besonders weitgehender Anspruch auf „medizinische Sterbehilfe“ wurde in Kanada eingeführt – als habe Töten etwas mit Medizin zu tun (25). Wie zu erwarten war, wurden dort (insbesondere arme (26)) pflegebedürftige Menschen regelrecht zur Selbstentsorgung gedrängt. Eine menschenwürdige Verbesserung der Pflege hingegen, wie sie in westlichen Gesellschaften keine Zauberkunst erfordern würde, stand nicht zu Debatte (27). Der Anteil der „Sterbehilfe“ hat fast niederländische Ausmaße (also um 5 Prozent aller Sterbefälle) erreicht, Tendenz immer weiter steigend. Die Jungle World berichtete in Ausgabe 10/2025, dass für jeden zweiten der sich aufgrund ihrer Behinderung oder Erkrankung umbringen lassen wollenden Kanadier (die sich keineswegs im natürlichen Sterbeprozess befinden!) das Gefühl, für andere eine „Belastung“ zu sein, Ursache des als Euthanasiegrund angegebenen „Leidens“ ist. Ein derart falschverstandener „Liberalismus“ erhöht den Druck auf Kranke, Alte und Behinderte, sich für ihr „unproduktives“, vermeintlich sinnloses Weiterleben zu schämen – der Staat tötet sie (noch) nicht direkt, lässt sie aber gleichsam mit der Pistole und Aufforderung zum Abdrücken allein in der Zelle. Kann man sich das Leben nur noch produktiv vorstellen, nicht mehr empfangend, gerät es unter Rechtfertigungsdruck. Wie schon vor 100 Jahren reden die Gesunden (denen „nutzlose“ Individuen lästig sind) den Kranken und Behinderten ein, wie unerträglich ihr Leid sei, anstatt ihnen bessere Lebensbedingungen zu verschaffen.

Nazis für das Leben?

Der anachronistische linke Rekurs auf Probleme vergangener Epochen (etwa strukturellen Rassismus in bestimmten westlichen Gesellschaften) erhält das gemeinschaftsstiftende Gefühl, sich für „die Schwachen“ einzusetzen, während das reale politische Handeln eine andere Sprache spricht.

Während die Verachtung für Behinderte wieder spürbar anwächst (2024 kam es in Mönchengladbach etwa zu einem Anschlag auf ein Behindertenwohnheim mit der Botschaft „Euthanasie ist die Lösung“ (28)), sorgen selbsternannte „Antifaschisten“ lieber für das Canceln von seit Geburt behinderten Künstlern, weil diese sich (angesichts der eigenen Lebenserfahrung) gegen Abtreibungen einsetzen (etwa in Zürich Ende März 2025), oder demonstrieren gegen christliche Lebensrechtler (solche gehörten einst zu den wenigen Deutschen, die NS-Verbrechen dann kritisierten, als sie noch verhindert werden konnten), die sie mit „Nazis“ verwechseln, als hätte sich der Nationalsozialismus nicht in erster Linie durch die Vernichtung von Leben ausgezeichnet. Die Nazis waren gegen Abtreibungen bei „Volksgenossen“ nicht um der einzelnen Person willen, sondern weil sie eine Pflicht zur Volksvermehrung sahen (Kinder würden für das Volk gezeugt). Sie sahen kein Recht auf Leben, sondern eine Pflicht zur Arterhaltung; was dagegen nicht in ihre „Volksgemeinschaft“ passte, wurde gnadenlos abgetrieben (29).

Im Fall Brosius-Gersdorf schlugen sich Linke ziemlich einhellig auf die Seite der Juristin – im Gegensatz zu Euthanasie und „milderen“ Formen von Eugenik scheint Kritik an allem, was mit dem Recht auf Abtreibung zu tun haben könnte, tabu, Ableismus hin oder her. Der grundsätzlich legitime Wunsch, eine ungewollte Schwangerschaft zu beenden, bereitet zwar bereits für sich genommen das ethische Problem, dass durch den Abbruch auch ein anderes menschliches Leben beendet wird (30) (notwendig wäre, die Möglichkeiten zur Adoption radikal zu erleichtern). Ist aber der Tod nicht einmal mehr bedauerlicher Nebeneffekt, sondern als solcher intendiert (wie im Fall der meisten Spätabtreibungen), geht es offensichtlich nicht einfach um den Körper der Schwangeren, womit die Entkriminalisierung gerechtfertigt wird, sondern um die Freiheit, Behinderte zu töten. Da das Töten der Schwächsten, als maximale menschheitliche Entsolidarisierung, kaum als sonderlich „links“ ins Auge sticht, muss diese unsympathische Parteinahme mit ideologischen Abwegen erklärt werden. Während die wichtigsten Protagonistinnen der Frauenrechtsbewegung in den USA im frühen 20. Jahrhundert ausdrückliche Abtreibungsgegnerinnen waren und in der Abtreibung die ultimative Ausbeutung der Frau sahen (z.B. Alice Paul), waren sie in Deutschland antiindividualistisch und sorgten sich im Eugenikwahn darum, wie die deutsche Frau am effektivsten die „Rasse verbessern“ könne; so trat etwa Anita Augspurg nicht nur für das Recht auf Abtreibung, sondern gleich auch für Kindstötung nach der Geburt ein, wenn das Ergebnis nicht passte (31) – ein Mindset, das eher an Nazi-Autorinnen wie Johanna Haarer erinnert, die etwa das Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses als „Gesetz für die Frau“ darstellte: Keine Frau werde künftig noch einen „Alkoholiker als Ehemann“ oder einen „Epileptiker in der Familie“ ertragen müssen, oder gar feststellen, dass sie „ein missgebildetes Wesen geboren hat“ (32). Derweil ist die linke Einhegung der Schwangerschaft in die Geschichte patriarchalischer Objektivierung der Frau bestenfalls unvollständig, hat doch „Reproduktion“ mit sexueller Ausbeutung vor allem insofern zu tun, als eine Schwangerschaft historisch das einzige war, was sexuelle Ausbeuter zu fürchten hatten: die Abtreibung war ihnen ein Hilfsmittel, weiter „folgenlos“ ausbeuten zu können (33). Das sicher dümmste Argument für das Ignorieren der Rechte Ungeborener kommt aber aus der intersektionalen Ecke, wo das Kunststück vollbracht wird, sowohl aus der in erster Linie behindertenfeindlichen Eugenik wie auch aus deren Widerpart („Pro Life“-Politik) Ausdrucksformen von „weißer Vorherrschaft“ über Nichtweiße zu machen. Auch die Konkret sprang leider auf den Zug auf (z.B. Ausgabe 6/2022), den für sie scheinbar aus Prinzip weißen „Pro-Lifern“ in den USA unterstellend, es gehe ihnen in Wahrheit doch gar nicht ums Menschenrecht, sondern um „Ausbeutung“ der Geborenen. Wieso die „weiße Vorherrschaft“ ausgerechnet durch Zunahme (34) des „von Armut betroffenen, schwarzen“ Bevölkerungsanteils gefestigt werden soll? Na, der machtstrotzende weiße Mann habe dann noch mehr Opfer, die er „ausbeuten“ kann (genau, darum liegt in den USA der Anteil arbeitsloser Schwarzer auch so viele Prozentpunkte über jenem der Weißen), dazu noch „gängeln“ und „ausgrenzen“ (was weiße Rassisten, bekannt dafür, immer mehr Schwarze um sich herum haben zu wollen, eben so als Hobby betreiben). Tolle „antirassistische“ Logik: Damit die Weißen sich gar nicht erst so rassistisch verhalten können, sollen die Schwarzen also offenbar lieber gleich auf ihre „Reproduktion“ verzichten. Dieser deutsche Paternalismus ignoriert, dass Abtreibungslobbyismus in den USA stark mit antischwarzem Rassismus konnotiert ist (35), sowie, dass die „schwärzesten“ US-Bundesstaaten zugleich die christlichsten sind. Noch in den 2000er Jahren hielt weniger als ein Drittel der Schwarzen Abtreibung für moralisch akzeptabel (dagegen 41 Prozent der Nichtschwarzen), und nach wie vor ist insbesondere die vornehmlich nichtschwarze, akademische Ober- und Mittelschicht „Pro Choice“. Auch innerhalb der Demokratischen Partei hält ein wesentlich höherer Anteil unter den weißen Mitgliedern Abtreibung für moralisch akzeptabel als unter den schwarzen, die auch deutlich seltener für weitgehende Legalisierung eintreten (36). Daraus, dass schwarze Frauen sich wesentlich häufiger als weiße aus materiellen Gründen zum Schwangerschaftsabbruch gezwungen sehen (und Zwang ist kaum „Choice“), sollte „linke“ Politik eigentlich eher ableiten, eine Hebung von deren Lebensumständen zu erkämpfen, durch solidarische Sozialpolitik – nicht anders als im Fall der Kranken und Behinderten.

Der neue Übermensch

Menschenwürde ist im westlichen Denken an menschliche Existenz, ein biologisches Faktum, geknüpft. Das ist auch gut so. Wer damit unzufrieden war, wurde in der Geschichte zum Mörder, mindestens zum Stichwortgeber für Mordtaten. Von NS-Tätern gern gelesen war bekanntlich Friedrich Nietzsche. Dessen Feindseligkeit gegenüber dem Barmherzigkeitsideal des Christentums ergab sich insbesondere aus seiner Faszination für den Kampf ums Dasein in der Natur, den Sieg des Stärkeren, den Untergang des Schwächeren, „Überflüssigen“. Dieses vorgebliche „Schicksal“ war seiner Meinung nach zu lieben, gegenüber Gefühlen solle man abhärten, heroisch das keinesfalls in Gut und Böse zerfallende Seiende hinnehmen. Der Mensch solle, als evolutionäre Zwischenstufe zwischen Tier und „Übermensch“, schließlich überwunden werden. Die moderne Version des Traums vom „Übermenschen“ ist nun keineswegs das abgehalfterte Neonazitum mit seinen lächerlichen „Ariern“, sondern der Transhumanismus, als extremer Evolutionismus. Cyborg Supremacy ersetzt White Supremacy. Wie der NS-Mediziner, der sich in der „neuen“, durch „medizinische Forschungen bestimmten“ (37) Zeit auf die Züchtung erbgesunder Herrenmenschen freute, hat der Transhumanist einen perfekten Körperzustand vor Augen, den er zum Dauerzustand machen will. Für ihn ist die ganze Menschheit behindert und erbkrank; die Biologie (damit auch alles Emotionale, Leibliche, das abgewertet wird) würde durch höherwertige Technik überwunden. Die „Natur“ verpflichte den Menschen, sich selbst auf die deterministisch angenommene „nächste Stufe“ zu hieven – nicht, damit er glücklicher werde (wie egoistisch!), sondern weil er nun einmal dazu bestimmt sei, am Fortschritt mitzuwirken. Nicht das Leben der Menschen sei zu verbessern, sondern der Mensch. Gelenkt würde die neue Spezies von einer allgemeinen Superintelligenz (mit der alle Individuen verbunden sind). Diese habe Zugriff auf alle Daten und damit alles Existierende, ein „perfektes Wissen“. Einzelpersonen hätten keinen Wert mehr; Personalität wird von Transhumanisten als überwindenswertes Hemmnis angesehen oder, wie im Fall des einer buddhismusähnlichen Esoterik nahestehenden Yuval Noah Harari, komplett geleugnet: im Menschen sei reine Technik am Werk, kein eigener Wille, ein wesentlicher Unterschied zwischen Ich und Nicht-Ich bestehe nicht (etwa in Homo Deus, 2015). Unschwer erkennt man das Erbe älterer monistisch-pantheistischer Konzepte, wonach das Individuelle in der „Alleinheit“ aufzugehen, der Einzelne sich der Naturgewalt des Schicksals zu opfern habe, die im evolutionären Fortschritt der Menschheit durch sich jeder ethischen Bewertung entziehender Technik bestehe (Weiterführung der Natur durch den Menschen, etwa beim Nazi-Anthroposophen Werner Haverbeck) (38). Die Herrschaft einer vom Menschen geschaffenen, aber gleichsam über ihm schwebenden abstrakten, unfehlbaren Intelligenz wurde schon von KI-Pionier Marvin Minsky dem Zeitalter des „fehleranfälligen“ Menschen (der vermittels derart weiser Lenkung in Zukunft nichts mehr falsch machen könne) gegenübergestellt. Das holistische Konzept der Superintelligenz, in welche sich die Individuen durch Unterwerfung quasi auflösen, ist natürlich Bullshit: Es setzt nicht nur die totale Verstehbarkeit sämtlicher Weltprozesse sowie Auflösbarkeit sämtlicher Widersprüche als Faktum voraus, sondern hält auch die von Menschen produzierte und gefilterte Datenwelt für perfekte Spiegelung objektiver Realität. Das, worin sich KI zurechtfindet, hängt aber vom menschlichen Willen ab respektive vom Willen der Mächtigen. Statt zu einer Superintelligenz als Weltsouverän dürfte sich KI zum manipulationsanfälligen Machtinstrument entwickeln, dem sich Menschen ohne Not, aber im blinden Glauben an die eigene Minderwertigkeit unterwerfen. In Gesellschaften, in denen das Individuum keinen Eigenwert hat und vornehmlich in der Gesamtmaschinerie funktionieren soll, ist die Bereitschaft groß, sich der Technik ebenso zu unterwerfen wie zuvor schon der menschlichen „Expertise“ der Gesellschaftsgestalter: In China ist die Bevölkerung in KI-Euphorie, obwohl die Regierung diese „Intelligenz“ besonders rigoros im Sinne der Staatsideologie reguliert. Auch im Iran wird an „kultursensibler“ eigener KI gearbeitet. Und was würde eine unhinterfragbare Intelligenz so alles in den europäischen Hochburgen des rationalen Gesundheits- und Produktivitätsfanatismus verzapfen?

Ein Albtraum. Wenn schon geträumt sein muss, wie wäre es besser hiermit: Die Menschen werden sich ihrer gemeinsamen Humanität bewusst, sehen den unverhandelbaren Wert jeder menschlichen Existenz, erfreuen sich des menschlichen Empfindens und Ich-Bewusstseins, lieben unintelligente Mitmenschen und verachten intelligente Maschinen, helfen einander, sich eine schöne Restzeit auf Erden machen zu können; niemand schaut mehr dem Anderen auf die Gene, nur noch in die Augen. Denn wo sonst liegt der zivilisatorische Vorteil des Westens, wenn nicht im respektvollen Zurückweichen vor dem Unantastbaren – dem Leben des Anderen?

Ingo Donnhauser (Bahamas 97 / 2025)

Anmerkungen:

  1. www.foxnews.com/media/liberal-media-outlets-argue-sydney-sweeney-good-jeans-ad-promoting-whiteness-eugenics
  2. Ein eigenes Thema wäre der v.a. gegen afrikanische Gesellschaften gerichtete, gerade von „progressiver“ Seite geförderte westliche Reproduktionspaternalismus, der mindestens unterschwellig das Bild des „unnützen Essers“ bzw. bedürftigen „Parasiten“ heraufbeschwört: nicht etwa ungerechte Güterdistribution sei schuld am dortigen Elend, sondern es gäbe halt einfach zu viele (unproduktive) Afrikaner. Die Umweltbewegung der 1970er/80er (eine „Natur“ glorifizierend, in der nur die Stärksten durchkommen), aufgeschreckt vom neomalthusianischen „Club of Rome“ und alten Ökonazis, sah die Lösung in staatlicher Geburtenkontrolle: Abtreibungszwang, Unfruchtbarmachung. Der Rassismus mag hier, anders als bei historischen Vordenkern wie H.G. Wells, eher unterschwellig wirken, doch erinnert die Erzählung auch an die NS-Vorstellung von einem mit Faulpelzen „überbevölkerten“ Osteuropa, weshalb im Zuge der Okkupation eine massive Bevölkerungsreduktion angestrebt wurde.
  3. Den Begriff schamvoll zu vermeiden, gäbe den Nazis Recht, dass Behinderung (als permanenter Zustand, der eine Teilnahme am gesellschaftlichen Leben ohne fremde Hilfe stark erschwert bis verunmöglicht) zum unwerten Menschen mache. Ihr Verbrechen war nicht, von Behinderten gesprochen, sondern sie als vernichtungswürdig angesehen und getötet zu haben.
  4. Eugenisch begründete Eheverbote wurden in Skandinavien schon während des Ersten Weltkriegs erlassen, Sterilisierungsgesetze nach NS-Machart folgten in Norwegen, Schweden und Finnland kurz nach Erlass des deutschen Vorbilds (1934/35); Dänemark war Hitler sogar zuvorgekommen. In Schweden wurden bis 1975 rund 63.000 Menschen zwangssterilisiert. Heute ist Eugenik besonders in China Teil der Staatsraison: seit 1994 werden ehewillige Paare vorab auf Erbkrankheiten untersucht, mit entsprechenden Konsequenzen.
  5. Hierzu und im Folgenden: Götz Aly: Die Belasteten, Frankfurt 2014; Peter Bierl: Unmenschlichkeit als Programm, Berlin 2022
  6. Götz Aly / Karl Heinz Roth: Die restlose Erfassung, Frankfurt 2005
  7. Alb-Bote vom 10.1.1935
  8. Darauf drängten seinerzeit prominente Eugeniker wie Karl Astel, Wolfgang Knorr, Heinrich Wilhelm Kranz, Siegfried Koller.
  9. Beispiel: Karl Binding / Alfred Hoche: Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens, 1920.
  10. Die Kirche vertrat die Gottesebenbildlichkeit jedes Menschen („sei dieser noch so verkrüppelt, idiotisch oder schwachsinnig, pflegebedürftig oder leidend“, Aly, S. 22), Pius XI verurteilte 1930 Eugenik in allen Erscheinungsformen. Mehrere Bischöfe sprachen 1941 in Predigten offen von Mord. Das katholische Tagblatt vom Oberrhein betonte bereits am 27.2.1931 die „unüberbrückbare Kluft“ zwischen NS und Kirche mit dem Hinweis, Hitler habe schon auf Parteitagen der 1920er offen befürwortet, 700–800.000 Behinderte zu „beseitigen“.
  11. Ein Werner Catel etwa, der ab 1939 mindestens 500 behinderte Kinder umbringen ließ, wurde in der BRD Professor für Kinderheilkunde und hetzte als Buchautor munter weiter gegen „unwertes Leben“, das zu töten sei. https://de.wikipedia.org/wiki/Werner_Catel
  12. Es gibt ernsthaft Menschen, die keine Behinderten um sich herum ertragen, weil sie deren „Leid“ so mitnehme – anstatt sich angespornt zu fühlen, gerade dann die eigene Lebensfreude zu teilen, ihnen zu helfen, ihre Behinderung vergessen zu lassen und sie nicht darauf zu reduzieren.
  13. www.suedkurier.de/schweiz/deutsche-toeten-behinderte-tochter-sie-wuerde-es-wieder-tun-sagt-die-mutter-im-prozess;art1371848,12173871
  14. www.aerzteblatt.de/news/niederlande-erlauben-ab-februar-sterbehilfe-auch-fuer-kinder-2ab5e31a-c7fd-411e-ab77-110aa4f5f715
  15. § 14 des Entwurfs zum Schwangerschaftskonfliktgesetz (2024) sieht Straffreiheit für die Schwangere vor, in Übereinstimmung mit dem Kommissionsbericht, der eine Strafbewehrung (das übliche staatliche Mittel, den Schutzpflichten nachzukommen) für „nicht geboten“ erklärte; der Neuentwurf für § 218 StGB stellt generell nur noch Schwangerschaftsabbrüche gegen oder ohne den Willen der Schwangeren unter Strafe.
  16. Das bislang übliche „substanzontologische“ Konzept der Menschenwürde ist dem Kommissionsbericht (2024) jedenfalls „nicht zwingend das einzig richtige oder wahre“ (S. 182), inzwischen gäbe es ja so eine „Vielfalt“ an Auffassungen – aus der Perspektive wird auch die „Funktionsontologie“, etwa von Peter Singer (s.u.) vertreten, zur bedenkenswerten Alternative.
  17. vgl. hierzu www.cicero.de/innenpolitik/frauke-brosius-gersdorf-verteidigt-sich-debatte-bee ndet-mitnichten.
  18. www.bundestag.de/resource/blob/10497 72/9d489ff7139c2f58d3374268ed13795f/Stellu ngnahme-Brosius-Gersdorf.pdf.
  19. www.spiegel.de/gesundheit/schwangerschaft/down-syndrom-neun-von-zehn-frauen-treiben-ab-a-1138841.html. Bei anderen schweren Erbkrankheiten und Diagnosen sieht es ähnlich aus. In Nordeuropa, mit starker Eugenik-Tradition, sind die Zahlen noch höher, in Dänemark geht man von rund 95 Prozent aus, in Island werden kaum Kinder mit Trisomie 21 geboren, dabei sind solche oft besonders lebensfrohe, anhängliche Menschen, wie etwa die Deutsche Stiftung für Menschen mit Down-Syndrom betont.
  20. Freilich üben gar nicht wenige Menschen mit Down-Syndrom durchaus auch Jobs aus; 2023 wurde sogar erstmals eine Frau mit Trisomie 21 in ein europäisches Parlament gewählt (Mar Galcerán für die spanische PP).
  21. www.freitag.de/autoren/der-freitag/vor-der-geburt-aussortiert.
  22. Ein widerwärtiger Vorgang (bislang in Deutschland nur in Ausnahmen gestattet, dennoch jährlich im hohen dreistelligen Bereich): Entweder wird künstlich die Geburt eingeleitet, bei welcher der noch zu wenig widerstandsfähige Schädel des Fötus zerbricht, oder eine Giftspritze verabreicht, oder mit einem Katheter das Gehirn abgesaugt. Man muss kein christlicher Fundamentalist sein, um sich zu wünschen, es gäbe weniger davon. Selbst die rot-grüne Justizministerin Däubler-Gmelin nannte 1999 Spätabtreibungen „grauenvoll“, man müsse sie (wenn nicht das Leben der Mutter in Gefahr ist) „schlichtweg unterbinden“, vgl. Manfred Spieker: Der verleugnete Rechtsstaat, Paderborn 2005
  23. https://en.wikipedia.org/wiki/Born-Alive_Abortion_Survivors_Protection_Act
  24. Etwa der Junge Tim in Oldenburg; laut Berichten trotz Schwerbehinderung ein fröhliches und liebenswertes Kind, das noch über 20 Jahre leben sollte.
  25. Diese Vorstellung kommt von der Wahnidee einer „Volksgesundheit“, eines „Volkskörpers“, an dem kranke Elemente sein könnten.
  26. Laut einer Umfrage sind 41 Prozent der 18–34jährigen Kanadier dafür, armen Menschen Sterbehilfe zu ermöglichen, auch wenn sie gar nicht unheilbar krank sind. Zwei kanadische Philosophinnen publizierten einen vielbeachteten Aufsatz, der in dem Zynismus gipfelte, wer arm sei, solle nicht gezwungen sein, auf Besserung der sozialen Verhältnisse zu warten, https://jme.bmj.com/content/50/6/407.abstract.
  27. Im Gegenteil kalkulierte der Haushaltsbeauftrage des Parlaments bereits im Vorfeld der liberalen Gesetzesänderung gleich einmal mit rund 60 Millionen Dollar Einsparungen, https://www.imabe.org/bioethik-aktuell/archiv/einzelansicht/sterbehilfe-spart-kosten-kanadas-oekonomen-f avorisieren-sterbehilfe-ausweitung.
  28. www1.wdr.de/nachrichten/rheinland/angriff-wohnheim-moenchengladbach-100.html.
  29. Die NS-Entbindungslager für osteuropäische Zwangsarbeiterinnen etwa waren zugleich Massenabtreibungslager, doch auch eine Geburt rettete nicht das Leben der Kinder: da die Frauen gleich wieder arbeiten sollten, mussten sie die Babys in den Lagern zurücklassen, wo sie nach wenigen Tagen durch gezielte Vernachlässigung umkamen.
  30. In Ländern wie China oder Indien bevorzugt ein weibliches.
  31. Bierl, 82, vgl. Anm. 5
  32. Alb-Bote vom 7.11.1935
  33. Noch heute ist in Deutschland zu rund 30 Prozent der Druck von Partner, Familie oder Umfeld ein wesentlicher Konfliktgrund, https://archiv.ub.uni-heidelberg.de/volltextserver/32374/1/Dissertation_Dienerowitz_2021.pdf. Erfahrungsberichte und qualitative Studien zeigen, dass äußerer Druck eine wesentliche Rolle bei der Entscheidungsfindung spielen kann, insbesondere bei Diagnosen schwerer Erkrankungen.
  34. Schwarze sind in US-Abtreibungsstatistiken im Verhältnis zum Anteil an der Gesamtbevölkerung deutlich überrepräsentiert, was sich z.T. daraus erklärt, dass das Durchschnittsalter wesentlich niedriger und die Fertilitätsrate wesentlich höher ist als bei Weißen, ebenso wie der Anteil der ungeplanten Schwangerschaften.
  35. Planned-Parenthood-Gründerin Margaret Sanger (sich vor Überschwemmung durch nichtweiße Taugenichtse fürchtend) wollte einst im Eugenikwahn bekanntlich nicht nur Behinderte und Erbkranke sterilisieren, sie war auch gegen Einwanderung und wünschte eine zwangsweise Beschränkung der Vermehrung von Armen und „farbigen Rassen“; zu ihr www.nytimes.com/2020/07/21/nyregion/planned-parenthood-margaret-sanger-eugenics.html.
  36. www.nbcnews.com/news/us-news/dems-rally-abortion-are-reaching-black-voters-rcna41902; https://news.gallup.com/opinion/polling-matters /318932/black-americans-abortion.aspx.
  37. So etwa ein badischer Vertreter des Rassenpolitischen Amts, Alb-Bote vom 17.1.1935.
  38. vgl. Peter Kratz: Die Götter des New Age, Berlin 1994

SPALTE3-AKTUELL-RUBRIK

SPALTE3-AKTUELL-DATUM


SPALTE3-AKTUELL-TITEL


SPALTE3-AKTUELL-TEXT

Frühere Aktivitäten sind im Aktuell-Archiv aufgeführt. Dort gibt es auch einige Audio-Aufnahmen.


Zum Aktuell-Archiv

Alle bisher erschienenen Ausgaben der Bahamas finden Sie im Heft-Archiv jeweils mit Inhaltsverzeichnis, Editorial und drei online lesbaren Artikeln.


Zum Heft-Archiv

Reprint Band 2

A1 Plakat

Für Israel

gegen die postkoloniale

Konterrevolution

Zum Shop

Reprint Bände

Reprint Bände

Nachdruck von

jeweils 10 Heften

Zum Shop

Buch von Justus Wertmüller

Verschwörungen

gegen das

Türkentum

218 Seiten, 15 €

Zum Shop

Bahamas Stofftasche 38 x 40 cm

Stofftasche

38 x 40 cm

Zum Shop

Ansteckbutton 25 mm

Ansteckbutton

25 mm

Zum Shop