…sehen wir schon die jüdischen Liquidationskommandos, hinter diesen aber erhebt sich der Terror, das Gespenst des Millionenhungers. […] In Deutschland denkt heute kein Mensch an einen faulen Kompromiss, das ganze Volk denkt nur an einen harten Krieg. […] Jedermann weiß, dass dieser Krieg, wenn wir ihn verlören, uns alle vernichten würde. (Goebbels)
Der Krieg den Israel zur Eliminierung der Hamas im Gazastreifen führt, erscheint im deutschen Kollektivbewusstsein wie ein Déjà-vu. Wie ein Aufmarsch der Ewiggestrigen, die die Scharte vom 8. Mai 1945 ausgewetzt sehen wollen, mutet das öffentlich zelebrierte Mitleid mit der Gefolgschaft der im Führerbunker unter Gaza-Stadt ausharrenden Mannen mit den grünen Stirnbändern an. Es will so scheinen, als zögen heute zusammen mit anderen Europäern und Moslems diejenigen durch die Straßen, für die die Niederlage im deutschen Befreiungskampf gegen das internationale Judentum eine Schmach ist, die nach Revanche schreit. Oder haben wir es nur mit einer Kampagne der AfD zu Ehren der deutschen Soldaten des Zweiten Weltkrieges zu tun, von denen man weiß, dass sie heldenhaft deutsche Frauen und Kinder auf ihrer Flucht vor der Roten Armee geschützt haben? Werfen wir zur Beantwortung dieser Fragen zunächst einen Blick zurück.
Die Ende des 19. Jahrhunderts beginnende Auswanderung zunächst vor allem osteuropäischer Juden nach Palästina stieß zu Beginn des 20. Jahrhunderts zunehmend auf den Widerstand arabischer Nationalisten. Ähnlich wie der deutsche Nationalismus hundert Jahre zuvor, der vor allem eine Bewegung gegen das napoleonische Frankreich war, das in der Besatzungszeit in den rechtsrheinischen deutschen Landschaften die Judenemanzipation einleitete, sind die Ursprünge der palästinensischen Nationalbewegung vor allem eine arabische Abwehraktion auf die jüdische Einwanderung in einem Gebiet, das etwa so groß ist wie das Bundesland Hessen. Der Raum Palästina war dabei keineswegs der geographische Bezugspunkt der arabischen Nationalbewegung in der Levante. Die von Prinz Faisal I repräsentierte arabische Nationalbewegung im Nahen Osten vor und während des Ersten Weltkrieges richtete sich vor allem gegen die osmanische Herrschaft in den Provinzen, die heute das Territorium des Libanons, Syriens, Jordaniens und Teile des Iraks und Saudi-Arabiens ausmachen. Palästina wurde dabei als Teil Südsyriens betrachtet. Faisal I verkörperte das arabische Streben nach nationaler Einheit, fasst Tom Segev die Ursprünge der arabischen Nationalbewegung zusammen. Mit der jüdischen Einwanderung nach Palästina bildete sich das spezifisch antijüdische Moment der auch in dieser Region aufkeimenden arabischen Nationalbewegung heraus. Der arabische Nationalist Nadschib Azuri verkündete, dass das arabische Nationalbewusstsein genau zu dem Zeitpunkt entstanden sei, als „die Juden versuchten, das alte israelitische Königreich wiederherzustellen.“ (Segev, 117) Diese Aussage könnte man auf den ersten Blick mit dem tatsächlichen Zusammenprall gegensätzlicher Ansprüche der arabischen und der jüdischen Nationalbewegungen auf ein eng umgrenztes Gebiet erklären. Der wahnhafte Charakter des antijüdischen Impulses der arabischen Nationalbewegung wird deutlich, wenn Azuri betont, „der Ausgang dieses Kampfes werde das Schicksal der ganzen Welt beeinflussen.“ (Segev, 117) Auch der spätere Bewunderer Hitlers, Khalil as-Sakakini, wusste schon 1919, dass die „jüdische Besiedlung Palästinas die ganze arabische Welt“ bedrohe, denn der damals für die arabische Region eher unbedeutende Landstrich sei „die Zunge“ einer zu gründenden Nation. Die Zionisten beabsichtigten, so as-Sakakini, der arabischen Nation eben diese Zunge herauszureißen. (Segev, 120) Der Judenhass der Ideologen der arabischen Nationalbewegung erwies sich als massenkompatibel. Im Verlauf der jährlich in Jerusalem veranstalteten islamischen Nabi-Musa-Prozession, (1) die im Jahre 1920 mit der Krönung Faisals I zum König von Großsyrien zusammenfiel, kam es in Jerusalem zu gewalttätigen Ausschreitungen gegen die ortsansässigen Juden. Die Menge skandierte damals die im arabischen sich reimende Parole „Palästina ist unser Land, die Juden sind unsere Hunde!“ (Segev, 143) Nachdem die Errichtung eines großsyrischen Reiches gescheitert war, blieb die Agitation gegen die Juden als einziges verbindendes Moment der arabischen Nationalbewegung übrig. Für diese Entwicklung steht Amin al-Husseini (Mufti von Jerusalem), der im Jahr 1920 seine politische Laufbahn aufnahm, paradigmatisch.
Doch während der deutsche Nationalismus kein ungebrochenes Verhältnis zur „Judenabwehr“ aufwies, sondern auch die Judenemanzipation sowohl in seiner demokratischen als auch monarchistischen, respektive preußischen Variation zuließ, (2) war der Gedanke von einer Judenemanzipation dem palästinensischen Nationalismus von Beginn an fremd. Während einer Versammlung arabischer Nationalisten im Mai 1919 in Jaffa wurde eine Resolution beschlossen, die nicht nur die arabische Unabhängigkeit als zentrale Forderung erhob, sondern auch das Ende der jüdischen Einwanderung und das Verbot jüdischen Landerwerbs. (Segev, 118) Während dem deutschen Nationalismus nicht nur das antiaufklärerische und antifranzösische Moment innewohnt, zu dem die „Judenabwehr“ gehört, sondern auch die Judenemanzipation, ist der palästinensische Nationalismus ohne die Idee von der Judenabwehr nicht zu denken.
Der Nationalsozialismus war seinem Anspruch nach weniger eine deutschnationale als eine radikal antisemitische paneuropäische Bewegung, die in den frühen dreißiger Jahren ein vor allem taktisches Bündnis mit dem deutsch-nationalen Chauvinismus einging, für das der Pakt der jungen Bewegung mit dem greisen Hindenburg und seiner deutschnationalen Militärkamarilla exemplarisch steht. Im Umgang mit der Judenfrage vollzog der deutsche Nationalsozialismus einen Bruch in der Tradition des demokratischen und des monarchistisch-preußischen Nationalismus. Die monarchistisch geprägten Nationalkonservativen hatten beginnend mit dem Kaiserreich bis hinein in die Weimarer Republik ein taktisches Verhältnis zum längst populären Judenhass. Dagegen war der Antisemitismus der Kern der nationalsozialistischen Weltanschauung. Die palästinensische Nationalbewegung war ein Abfallprodukt des 1920 gescheiterten großsyrischen Königreiches. Als der Traum vom großsyrischen Reich ausgeträumt war, hielt nur noch der Judenhass die arabischen Nationalisten im Raum Palästina zusammen. Dieses hat sich seither im Kampf gegen die jüdische Idee von einer Nation bis heute im Kampf gegen den Staat Israel perpetuiert.
Es ist also kein Zufall, dass der Mufti und die Seinen ihren natürlichen Verbündeten in Hitler und der zugehörigen Bewegung fanden. Im Gegensatz zum tatsächlich gebrochenen Verhältnis des deutschen Nationalismus zum Judenhass und zur Judenabwehr verbinden sich das antibritische und antijüdische Moment im palästinensischen Nationalismus ungebrochen. Der heute in Ramallah residierende, in Moskau zum Antisemiten promovierte Palästinenserführer Mahmoud Abbas steht über dem Gründer der PLO, Ahmad al-Shukeiri, und dessen Nachfolger Yassir Arafat nicht nur in direkter politischer Nachfolge des Muftis, sondern auch in ideologischer Hinsicht. Ein Sonderfall ist die Hamas, die weniger wie die PLO und ihre Vorgänger eine arabische Nationalbewegung darstellt, sondern eine supranationale Bewegung des Islam ist, die die Errichtung eines übernationalen und natürlich judenfreien Kalifats im Nahen Osten und darüber hinaus propagiert. Das Verhältnis der Hamas zum palästinensischen Nationalismus spiegelt sich wider in dem vom Nationalsozialismus zum deutschen Nationalismus rechtsextremer Provenienz, wie er sich im Stahlhelm und in der DNVP darstellte.
Wie die NSDAP 1933 ergriff die Hamas nach einer von Terrorkampagnen begleiteten Wahl im Jahr 2005 die Macht im Gazastreifen. Wie die Nazis in der „Nacht der langen Messer“ zerschlug die Hamas sämtliche als Opposition in Frage kommenden konkurrierenden, vornehmlich nationalpalästinensischen Gruppierungen und formierte in dem Landstreifen die Umma als islamische Volksgemeinschaft: Sozialprogramme, Volksspeisungen, miteinander um Einfluss und Pfründe konkurrierende Institutionen und bewaffnete Gruppen sind die Charakteristika des im Gazastreifen errichteten Unstaats. Nach außen zeichnete sich diese Entität seit 2005 durch permanente Überfälle auf Israel aus. Am 7. Oktober 2023 rissen begeisterte Bewaffnete, wie einst die Soldaten der Wehrmacht am 1. September 1939 den Schlagbaum an der Grenze zu Polen, die Israel schützenden Grenzbarrieren nieder und zogen in einen Vernichtungsfeldzug gegen die Juden. Die vordringenden Sturmabteilungen des Islam, die Einsatzgruppen der Hamas und der sie begleitende Pogrompöbel aus dem Gazastreifen scheiterten nicht an der mangelnden Entschlossenheit, die Juden, Kinder, Frauen, Männer, ob jung ob alt, zu ermorden und zu vergewaltigen, ihre Siedlungen zu plündern und anzuzünden, sondern an der organisierten Gegenwehr des jüdischen Gemeinwesens. Spät, aber immerhin spielte die israelische Armee ihre militärische Übermacht aus und verfolgte die zurückweichenden Marodeure über die Grenze und schloss diese, wie einst die 9. und 1. US-Armee die deutschen Truppen im Ruhrkessel und die sowjetischen Armeen die Reste der SS und Wehrmacht in Berlin, in den zu „Festungen“ ausgebauten Städten Rafah, Khan und Gaza-City ein. Die in Verantwortung vor der Geschichte stets moralisch, bedenkenträgerisch und solidarisch mit all den unterdrückten Völkern dieser Welt daherkommende deutsche Gesellschaft, die bei jeder sich bietenden Gelegenheit die Lehren aus der Vergangenheit zu bemühen bereit ist, erkannte wie im Blick der camera obscura jedoch die Wiedergänger ihrer deutschen Großväter nur in der Macht, die sich den mörderischen Pogromisten entgegenstellte.
Kaum waren die Pogromisten, die Einsatzgruppen der Hamas und des islamischen Jihad über die Grenze zurückgeworfen, stellte der auf vollen Touren laufende Propagandaapparat der Hamas und des nahestehenden Senders Al Jazeera die Opferrolle des palästinensischen Täterkollektivs in seit 1948 bewährter Manier heraus. Kaum schlugen die ersten israelischen Granaten in von der Hamas als Unterstände genutzten Kindergärten, Schulen und Krankenhäuser ein, lieferte die Propagandamaschine den Presseagenturen die geeigneten Bilder. Die vorher noch auf die Bestialität ihrer Söhne stolzen Eltern, die stolz den Märtyrertod ihrer Söhne ankündigenden Heldenmütter, die ob der auf den heimkehrenden Pickups vorgeführten, gedemütigten, gequälten und geschändeten jüdischen Männer, Frauen und Kinder schier in Ekstase geratene „Zivilbevölkerung“ verschwand, als hätte es sie nie gegeben, und machte den Platz frei für die schreienden Klageweiber und die ob ihrer (manchmal gar nicht so) toten Kinder Allah den Allmächtigen anflehenden Väter. Aus den Trümmern einstürzender Unterstände der Hamas krabbelten fortan ausschließlich bemitleidenswerte, unschuldige Zivilisten. Bis zum 7. Oktober wurden in palästinensischen Propaganda-Videos immer wieder kleine Jungen mit halbautomatischen Gewehren und grünen Kopfbändern bei dem Spiel „Tötet den Juden“ dargestellt oder sie posierten als zukünftige Märtyrer mit Sprengstoffgürtel-Attrappen.
Um die schon im Dezember 2023 verbreitete Lüge vom jüdischen Terrorkrieg und das sich hartnäckig verbreitende Gerücht von einer drohenden Hungersnot zu illustrieren, stellten sogenannte Journalisten und Fotografen Szenen angeblich hungernder Kinder her. Dergleichen billige Propaganda mobilisierte die nun aus allen Löchern hervorkommenden Antisemiten aus der Antirassismus-, Antifaschismus- und LGBTQ-Szene, die zusammen mit der Community der Eingewanderten mit Koranhintergrund in Europa und den USA gegen einen halluzinierten Genozid an den Palästinensern demonstrierten. Das Gerücht gegen den jüdischen Staat durchfaulte die Medien der zivilisierten Welt und dominierte im zunehmenden Maße die Wahrnehmung des Krieges in der internationalen Öffentlichkeit.
Genozidforscher, Kulturschaffende, Beamte des Auswärtigen Amtes, zahllose Universitätsbedienstete sekundierten den sich auf den Straßen formierenden antisemitischen Mob und erkannten in der israelischen Armee – wie einst Joseph Goebbels in den Alliierten – jüdische Liquidationskommandos und in den gezielten Angriffen der israelischen Luftwaffe (IAF) die Tiefflieger von Dresden. Um den um sich greifenden schizoiden Wahn komplett zu machen, wurde in den Hilfslieferungen der Gaza Humanitarian Foundation (GHF) ihr Gegenteil vermutet: eine besonders perfide Hungerblockade, die Gaza zu einer Neuauflage der Hungerblockade Leningrads entstellt.
So machte, wie 1943 im Sportpalast geschehen, die Mär von der Vernichtung eines ganzen Volkes die Runde – von den Winkeladvokaten des Völkerrechts mit dem Eindruck juristischer Seriosität und von den moralisch völlig dekompensierten Nahost-Experten mit dem Anschein wissenschaftlicher Weihen verliehen. Der Hunger von Millionen, die Liquidierung der Zivilbevölkerung durch aufgestellte Sonderkommandos und die Bilder ausgemergelter und toter Kinder: Das ist die Gräuelpropaganda, mit der sich gut informiert wähnende Streiter für Klima- und Gendergerechtigkeit und all die anderen für Integration und offene Grenzen engagierenden Zeitgenossen in die Massenbewegung für das aus der Judenknechtschaft zu befreiende Volk einreihten. So sahen sich die mit Palifeudel umwickelten Sykophanten und Claqueure des palästinensischen Volkstumskampfes als die Wiedergänger der streikenden Hafenarbeiter, die 1936 versuchten, die Waffenlieferungen an Franco zu verhindern, oder als wahre Barrikadenkämpfer im Herzen der Bestie, um dem Heldenvolk im Nahen Osten an die Seite zu springen.
Weil der Antisemit stets für das Gute kämpft, erklären die neuen Volkstumskämpfer und ihre Claqueure im Brustton der Überzeugung den angegriffenen Staat Israel zum Völkermörder. Obwohl die als geschichtsbewusste Verantwortungsträger agierenden Freunde der palästinensischen Sache zu wissen behaupten, dass Goebbels ein Hetzer und Judenhasser war, wabert in ihrem kollektiven Unbewussten die Erzählung ihrer Großeltern mit, dass das deutsche Volk zwar das erste, aber nicht das letzte Opfer der 1933 an die Macht gekommenen Nazis war: Das letzte Opfer der Nazis sei das mit deutscher Schuld beladene palästinensische Volk. Dahinter steht die unerschütterliche Überzeugung, dass die Überlebenden des Holocausts nach Israel ausgewandert seien, um dort, wie vor ihnen die US-Kavallerie gegen die Indianer und die Buren gegen die Schwarzafrikaner, die seit tausenden von Jahren ihre Olivenhaine pflegenden Ureinwohner von ihrem angestammten Boden zu vertreiben. Folglich darf die zeitgemäße Übersetzung von „Nie wieder!“ heute nicht etwa „Nie wieder Judenmord!“ heißen, sondern „Free Palestine from German Guilt!“ Nicht nur am Judenstaat wird nachgeholt, was die Vorfahren damals versäumt hatten, als sie nicht „Nein!“ gerufen haben, als Goebbels sie fragte, ob sie den totalen Krieg wollen. Das „Nie wieder“ wird auch deswegen skandiert, weil die Bilder aus dem verwüsteten Gaza den Antifaschisten von heute an die deutschen Städte erinnern, die in den Jahren ab 1942 in Schutt und Asche versanken. Außer Thomas Mann kann sich bis heute niemand erklären, warum die malerischen und friedlichen deutschen Städte fern von der Front in das Visier der alliierten Bomber gerieten. So wie in den friedlichen deutschen Städten keiner etwas von den qualmenden Öfen in Auschwitz wissen wollte, wollen sich heute die Volkstumskämpfer aus dem Morgenland und ihre Bündnisgenossen aus Linksfront und Moschee nicht an die Judenmörder vom 7. Oktober erinnern. Denn auch heute gilt es, einem um die Freiheit kämpfenden Volk beizustehen, das den Liquidationskommandos, dem Bombenterror und dem großen Hunger widersteht und bis zum letzten Kind für seine Befreiung von der jüdischen Fremdherrschaft kämpft. Die Parolen auf den antisemitischen Aufmärschen der beiden letzten Jahre klingen wie ein Widerhall der goebbelschen Thesen aus der Sportpalastrede und sekundieren dem nach Deutschland und Europa geholten antisemitischen Volksgeist aus dem Morgenland auf den Straßen Berlins, Londons, Brüssels und anderer Städte.
Als würde es nicht ausreichen, dass im Gazastreifen Händler ihrem Laden den Namen Hitler-2 gaben, dass in vielen Haushalten neben dem Koran Mein Kampf gestanden hat, dass die friedlichen Zivilisten aus Gaza mit Hakenkreuz verzierte Branddrachen gegen Israel schickten: Um zu einem solchen Volk nicht auf Abstand zu gehen, stellte sich das um die Menschen- und Selbstbestimmungsrechte der Pogromhelden aus dem Morgenland besorgte Publikum in Deutschland scheinbar dumm. Auch wenn sie in ihrer Mehrheit die kurz vor dem Angriff auf Israel ausgesprochenen Worte des stellvertretenden Vorsitzenden des Hamas-Politbüros, Saleh al-Arouri, nicht gekannt haben – die Deutschen wussten, dass in den Verlautbarungen und Slogans auf den Demonstrationen, an denen sie sich wirklich oder virtuell an den Bildschirmen beteiligten, für die Fortsetzung des totalen Vernichtungskriegs gegen die Juden in Gaza und der ganzen Welt agitiert wurde. Al-Arouri, der seinen Goebbels studiert hat, hatte die Botschaft knapp und präzise auf den nationalsozialistischen Nenner gebracht: „Wir alle halten ihn für notwendig. Wir wollen ihn. Die Achse des Widerstands, das palästinensische Volk und unsere Nation, wir wollen diesen totalen Krieg.“ (3)
Thomas Mann hatte 1942 als Reaktion auf den Angriff alliierter Bomber auf seine Heimatstadt Lübeck gesagt: „Aber ich habe nichts einzuwenden gegen die Lehre, dass alles bezahlt werden muss.“ Ihm war im Gegensatz zu den daheimgebliebenen Volksgenossen klar, dass einer Volksgemeinschaft, die sich anschickte, die Welt vom eingebildeten Joch der Juden zu befreien, und loszog, die Juden umzubringen, irgendwann einmal die Rechnung präsentiert werden würde. Die britische und US-amerikanische Luftwaffe verschärfte 1943 den Luftkrieg gegen Deutschland, um den Hort des Nationalsozialismus dem Erdboden gleichzumachen. Obwohl sich amerikanische Bomberpiloten damit rühmten, sie könnten aus großer Höhe ein Gurkenfass treffen, war das Flächenbombardement im 2. Weltkrieg state of the art. Das Täterkollektiv sah sich als Opfer eines alliierten Terrorkrieges, dessen Hintermänner Goebbels im internationalen Judentum als die ausmachte, die alle Deutschen unterschiedslos vernichtet sehen wollten.
Während die Judenvernichtung auf Hochtouren lief und die ersten deutschen Städte massiven Bombenangriffen alliierter Luftstreitkräfte ausgesetzt waren, entdeckte Hitler laut Baldur von Schirach seine „humanitäre Seite“. Das schon in den dreißiger Jahren erdachte Konzept der „Kinderlandverschickung“ wurde nach den ersten Luftangriffen auf die Reichshauptstadt reaktiviert. Man glaubte damit nicht nur die deutschen Kinder vor den Angriffen der alliierten Bomber in Schutz zu bringen, sondern „auf diese Weise die Fürsorgebereitschaft des nationalsozialistischen Staates zu dokumentieren.“ (Kock, 83 f.) 1941 entschied das „Luftgaukommando [...], in geeignet erscheinender Form die Kinderlandverschickung schwerpunktmäßig der veränderten Lage anzupassen.“ (Kock, 194) Die Parteikanzlei der NSDAP erläuterte im Dezember 1943 in den Führungshinweisen, dass „die erweiterte Kinderlandverschickung [...] selbstverständlich ausschließlich eine durch den Luftkrieg notwendig gewordene Maßnahme zum Schutze des Lebens der deutschen Jugend (ist).“ (ebd.) Während die Nationalsozialisten ihre humanitäre Seite entdeckten und man die arischen Kinder vor den vom Juden aufgestachelten Luftgangstern auf das sichere Land schickte, wurden jüdische Kinder mitsamt ihren Eltern aus Frankreich, Belgien, den Niederlanden aus Deutschland und Polen in die Vernichtungslager deportiert.
Obwohl die israelische Armee vor Angriffen regelmäßig Warnungen an die Zivilbevölkerung in den umkämpften Gebieten Gazas schickte, in denen sie dazu aufrief, das umkämpfte Gebiet zu verlassen, gab es unter den Opfern der kriegerischen Handlungen im Gaza zahlreiche Kinder – von den durch die Kriegshandlungen verletzten und traumatisierten Kindern ganz zu schweigen. Vor dem Oktober 2023 wurden in israelischen Krankenhäusern immer wieder schwer kranke Kinder aus den palästinensischen Gebieten behandelt. Dass nach dem 7. Oktober 2023 diese selbstlose Bereitschaft der israelischen Gesellschaft geschwunden ist, verwundert nicht. Die sogenannten Brudernationen des palästinensischen Volkes, Ägypten, Jordanien und auch die Türkei haben bis heute nicht „Hier!“ gerufen, um Kinder aus dem Gaza herauszubringen. Das taten dann ausgerechnet deutsche Bürgermeister.
Nichts eignet sich besser dazu, die deutschen Gemüter zu beunruhigen, als Kinder, die in Gefahr sind. Das gilt jedenfalls dann, wenn es sich um Kinder handelt, die aus dem Heldenvolk der Palästinenser stammen und die man deshalb besonders ins Herz geschlossen hat, weil sie als die unschuldigen Opfer von Juden gelten, über die man seit 2.000 Jahren weiß, dass sie scharf auf Kinderblut sind. Aber der Oberbürgermeister von Hannover handelte mit reinem Gewissen, als er einen – natürlich eindringlichen – Appell an den deutschen Innenminister und den Außenminister richtete: Die „dramatische Lage in Gaza und Israel beschäftigt nicht nur die internationale Öffentlichkeit, sie ist auch ein Thema, das unsere Städte und Gemeinden seit dem schrecklichen Angriff der Hamas am 7. Oktober 2023 und seinen andauernden Folgen tief bewegt.“ (4) Sind es die immer wiederkehrenden Zusammenrottungen des antisemitischen Pogrompöbels in den Straßen ihrer Städte, ist es der Tatbestand, dass Straßenzüge, manchmal ganze Viertel ihrer Städte als No-Go-Areas für Juden gelten müssen, ist es der Umstand, dass Juden sich an den Universitäten in ihren Städten besser nicht als Juden zu erkennen geben? Nein! Wie die Regierungsvertreter, wie die Journalisten und Kulturschaffenden sehen auch die Bürgermeister im militärischen Einsatz der IDF gegen die antisemitischen Barbaren aus dem Gazaland eine „fortdauernde humanitäre Katastrophe“.
Wie schon Baldur von Schirach, der die humanistische Seite Hitlers hervorhob, als er die vom „alliierten Bombenterror“ bedrohten deutschen Kinder schützte, so erkannten die „Oberbürgermeisterinnen und Oberbürgermeister deutscher Städte“ ihre „Menschlichkeit und treten gemeinsam gegen Antisemitismus und Rassismus ein. Es ist unsere Überzeugung, dass Mitgefühl und konkretes Handeln die Grundlage für ein friedliches Miteinander bilden.“ (5) Fortan gab es keine Parteien mehr, sondern nur noch mitleidende Deutsche. In der Erklärung der Bürgermeisterin Düsseldorfs, Clara Gerlach (Grüne), und des Oberbürgermeisterkandidaten Fabian Zachel (SPD) heißt es: „Bei Fragen der Haltung und Menschlichkeit stehen wir in Düsseldorf über Parteigrenzen hinweg zusammen.“ (6) Als geschichtsbewusste Deutsche mit Verantwortungshintergrund sehen sie „besonders das unerträgliche Leid der Kinder“. Genauso wenig wie von Schirach auf die Idee kam, die Kapitulation seiner Nation zu fordern, um deutsche Städte vor der Zerstörung und Kinder vor dem Tod zu retten, forderten die Bürgermeister die Bundesregierung nicht dazu auf, alles in ihrer Macht Stehende zu tun, damit die Hamas bedingungslos kapituliert und so das Leid der Bevölkerung im Gaza beendet wird. Stattdessen sorgen diese Bürgermeister im Kleinen für das, was die Regierung Merkel 2015 in humanitärer Aufwallung im Großen tat. Mit der angedachten Verschickung in das sichere deutsche Hinterland sorgen sie für ein probates Mittel, den Israel- und Judenhass auf deutschen Straßen aufrecht zu erhalten, um, wie es scheint – nach Malmö, Brüssel und Birmingham – die Auszeichnung „Zionistenfrei“ auch für Hannover und Düsseldorf reklamieren zu können.
Mit den dann im ruhigen Hinterland groß Gewordenen werden sie sodann auch in Zukunft Haltung zeigen und für Menschlichkeit zusammenstehen. Sie werden „Stoppt Rassismus“ und „Wehret den Anfängen“ rufen, wenn eines dieser Kinder oder der nachgeholten Angehörigen Kritik an der israelischen Regierung übt und zu diesem Behuf eine Synagoge anzündet oder einen Juden mit dem Gürtel züchtigt. Mit echten Genozid-Überlebenden aus Gazaland im Bunde können die Vorkämpfer der antisemitischen Internationale aus Linkspartei, LGBTQ-Community und den Moscheevereinen darauf zählen, nicht nur die Scharte von 1938 vor Madrid, sondern auch die von 1945 auszuwetzen, als ein kriegsmüdes Volk sich im Kampf gegen das Weltjudentum geschlagen geben musste. Wenn das der Führer noch erlebt hätte.
Jonas Dörge (Bahamas 97 / 2025)
Gerhard Kock: „Der Führer sorgt für unsere Kinder“. Die Kinderlandverschickung im Zweiten Weltkrieg, Paderborn u.a. 1997
Tom Segev: Es war einmal Palästina. Juden und Araber vor der Staatsgründung Israels, München 2005
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