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Heft 95 / Herbst 2024
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Inhalt des Hefts Nr. 95

Editorial 95

Als die verunsicherten Landsleute sich nach Pogromen mit 1.200 Toten fragten, was man denn noch sagen dürfe gegen die „Jüdinnen*Juden“ und ihren Staat, war Eile geboten, denn schon die Frage barg eine unschöne Antwort, die so nicht stehen bleiben durfte. Zum Glück hat die Amadeu Antonio Stiftung schon am 18. Dezember 2023 den Deutschen Auskunft in einfacher Sprache gegeben: „Was ist ‚legitime Israelkritik‘ und wo beginnt Antisemitismus? Was darf man denn noch sagen? Uns erreichen immer wieder Fragen zu diesem Thema. Viele suchen nach Antworten auf diese Fragen. Die Nachfrage nach ‚legitimer Israelkritik‘ ist groß in Deutschland. Es gibt offensichtlich ein Bedürfnis nach einer Art Leitfaden.“ Damit wir uns richtig verstehen und sich niemand ausgegrenzt fühlt, sei vorausgeschickt: „Denn selbstverständlich darf man Israel kritisieren, doch wie so oft macht der Ton dabei die Musik. Viel zu oft ist dieser“ – der Ton, nicht der Inhalt – „dabei schlichtweg antisemitisch.“ Also doch Denkverbote und Zensur? Aber nicht doch: „Dabei ist es eigentlich gar nicht so schwer, sich nicht antisemitisch zu äußern. Was es dabei zu beachten gilt, haben wir für euch in diesem Faltblatt zusammengestellt.“

Wer etwas auf sich hält, weiß längst was es zu beachten gilt, wenn er sagen will, was gesagt werden muss. Ein Blick auf die Handtaschen und Rücksäcke, Jackenaufschläge und Schlüsselbunde von Großstadtbewohnern in ihren 30ern verrät mehr über den Stand der legitimen Israelkritik, als das Intifada-Geschrei auf den Demonstrationen. Diese zumeist arrivierten Zeitgenossen lieben die leisen Töne, greifen ganz verspielt Zeichen und Symbole auf, formen sie um und geben ihnen so eine tiefere Bedeutung.

Auch Nina Nitsch aus Kreuzberg braucht kein Faltblatt zur Belehrung. Sie verkauft nur verspielte kleine Dinge wie Ringe oder Anhänger aus Eigenproduktion an nette Leute, die sich niemals antisemitisch äußern würden, wenn sie Israels Existenzrecht in Frage stellen. Ihre Firma heißt Miniblings und bietet zum Beispiel ein „kleines Stück Melone als Anhänger für Reißverschluss und Bettelarmband“ an. „Material Anhänger: Kunstharz – Material Karabiner: Metall, versilbert – Größe des Anhängers: 15 mm. Lieferumfang: 1 Anhänger mit Karabiner. QUALITÄT: Liebevolle Handarbeit aus unserer Werkstatt in Berlin. VORTEILE: Für Allergiker geeignet.“ Billiger bekommt man solches Zeug bei Temu, wo es die niedlichen „handgehäkelten Wassermelonenanhänger“ gibt, die leider nicht aus Kreuzberg kommen, sondern aus einer Schwitzbude der dritten Welt und für Allergiker weniger geeignet sind. „Das Wassermelone Palästina – Dunkel Classic T-Shirt“ bekommt man bei RedBubble und zeigt die Umrisse von Israel in den Farben der palästinensischen Fahne, natürlich als aufgeschnittene Wassermelone verfremdet. Diesem Shirt haftet dann doch ein Hauch von Sonnenallee an und wäre den Leisen zu plakativ. Aber mit DreamEngine, der es kreiert hat, einem „palästinensischem Künstler, der wundervolle Designs entwirft, die von der Kultur des Nahen Ostens inspiriert sind“, fühlen sie sich verbunden und das nicht nur, weil „50 Prozent der Gewinne an die Initiative Nothilfe für Gaza der UNRWA gespendet“ werden.

Deutsche Traummaschinen produzieren seit 1945 zuverlässig Visionen vom Frieden. So waren am dritten Oktober 2024 auf einer „Nie wieder Krieg“-Demonstration in Berlin nebeneinander der irre Slogan „Die Waffen müssen schweigen – Russland muss raus aus der Ukraine“ und die verbrecherische Losung „Genozid in Gaza betrifft uns alle“ zu lesen. Drei Wochen später erklärte Anne Applebaum deutschen Friedenssuchern in der Paulskirche scheinbar allen Ernstes den Krieg, ohne dass öffentliche Entrüstung laut geworden wäre: „Die Verleihung des Friedenspreises (des deutschen Buchhandels) ist vielleicht ein guter Moment, um darauf hinzuweisen, dass der Ruf nach Frieden nicht immer ein moralisches Argument ist. Es ist auch ein guter Moment, um zu betonen, dass die Lektion der deutschen Geschichte nicht sein kann, dass die Deutschen Pazifisten sein müssen. Im Gegenteil: Seit fast einem Jahrhundert wissen wir, dass der Ruf nach Pazifismus angesichts einer aggressiven Diktatur oft nichts anderes ist als Appeasement und Hinnahme dieser Diktatur.“ (friedenspreis-des-deutschen-buchhandels.de) Das offizielle Deutschland hat das nur deshalb hingenommen, weil Applebaum ausschließlich vom berechtigten Krieg gegen das Putin-Regime geredet hat, an dem Deutschland irgendwie beteiligt ist. Man wusste natürlich längst, dass sich die Geehrte bereits am 21.10.2023 über den anderen Krieg, den man als den „Genozid in Gaza“ bezeichnet, auf ihrem Blog ähnlich geäußert hat wie jene, die mit einem handgehäkelten Wassermelonenanhänger herumlaufen. Denn eine aggressive Diktatur sieht Applebaum auch in Israel an der Macht und Putin heißt jetzt Netanyahu. Im O-Ton Appelbaum, zwei Wochen nach den Pogromen: „Eine autokratische populistische Partei hat zusammen mit Extremisten die aktuelle Krise erst hervorgerufen. Netanyahus politische Optionen, die die Entscheidung, das Land zu spalten genauso beinhalten wie die Entscheidung, so zu tun, als könnte der Frieden in der Region ohne die Palästinenser erreicht werden, haben eine Welt geschaffen, in der Israel nur schlechte Optionen hat. Jede Antwort, die es der Hamas ermöglicht, weiter den Gazastreifen zu beherrschen, könnte mehr terroristische Gewalt in der Zukunft bedeuten; gleichzeitig wird ein fürchterlicher Bodenkrieg in Gaza viele Israelis und noch viel mehr Palästinenser töten und wahrscheinlich mehr Zorn auslösen, mehr Leid hervorrufen und vielleicht auch mehr Terrorismus in der Zukunft inspirieren.“ (www.anneapplebaum.com; Übers.: Red. Bahamas)

Die gleiche Applebaum hatte in ihrer Dankesrede noch hervorgehoben, was vielen Deutschen schon wegen Dresden wahrscheinlich weniger gefallen hat: „Wenn wir die Möglichkeit haben, mit einem militärischen Sieg diesen schrecklichen Gewaltkult in Russland zu beenden, so wie ein militärischer Sieg den Gewaltkult in Deutschland beendet hat, dann sollten wir sie nutzen.“ Gegen Applebaum und ihre Fans wäre hinzuzufügen, dass der schreckliche Gewaltkult in Gaza und den von der Hisbollah kontrollierten Gebieten des Libanons von Israel militärisch beendet werden muss wie damals der deutsche durch die Alliierten. Nur so ließe sich das deutsche Bedürfnis nach „legitimer Israelkritik“ wenn schon nicht beenden, so doch zum Verstummen bringen. Bis dahin ist es als Ausdruck des eliminatorischen Antisemitismus zu bekämpfen, in welcher Fruchtform es auch erscheint.

    • Nach der französischen Parlamentswahl steht fest: Die Republik verrät und schweigt. Über den Sieg der neuen Volksfront und die Rückkehr der „Judenfrage“. Von Tjark Kunstreich
    • Ressentimentgeladene Nostalgie gegen den Westen oder wie Sahra Wagenknecht lernte, Ludwig Erhard zu lieben. Mario Möller über das BSW.
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