Als am 13. August 1996 Marc Dutroux und zwei Komplizen unter dem sich rasch bestätigenden Verdacht der Entführung, des sexuellen Mißbrauchs und der Ermordung von Kindern im belgischen Charleroi festgenommen werden, hätte dieser Fall an sich nicht viel mehr hergegeben als eine voyeuristische Gruselnachricht; eine Nachricht, die nur als Fußnote nutzbar gewesen wäre, im besten Falle für eine Kampagne der Therapeutenlobby zur Schaffung von mehr strafbegleitenden Therapieplätzen, im schlimmsten Falle für eine weitere Episode im periodisch aufflammenden antiliberalen Kulturkampf der letzten Jahre.
Anders aber, als im ebenfalls 1996 aufgedeckten Fall des englischen Sexualmörders West, der sich in seinem von der Presse so getauften "Horrorhaus" vergleichbarer Straftaten wie Dutroux schuldig gemacht hatte, handelte es sich bei letzterem nicht um den Typus des fleißigen Vorstädters, der sich in Mr. Hyde verwandelt. Dutroux war im Gegensatz zu West ein im Rahmen des in Belgien erst in jüngerer Zeit liberalisierten Strafvollzuges vorzeitig aus der Haft entlassener Sexualstraftäter, bezog Sozialhilfe und verfügte dennoch über ein beachtliches Einkommen, indem er seine Gewaltakte abfilmte und an den Brüsseler Geschäftsmann Nihoul verhökerte, der sie dann in Umlauf brachte. Nihoul wiederum, nur nebenberuflich Pornohändler, bekam offensichtlich von der Brüsseler Verwaltung diverse Aufträge zugeschanzt, eigentlich nicht ungewöhnlich für einen Immobilienspekulanten, der er hauptsächlich war.
Dafür, daß aus dem Kriminalfall Dutroux die Staatsaffäre Dutroux werden konnte, sorgten nicht zuletzt diese Ingredienzen. Sie ließen stereotype Wahrnehmungsmuster, wie sie der autoritäre Charakter als Projektionen der eigenen mißlungenen Vergesellschaftung, der eigenen unterdrückten und umgeleiteten Wünsche, zu konstruieren gezwungen ist, wie gut geölte Scharniere einrasten. Die Stereotypie, die Hand in Hand mit vorurteilbeladener Personalisierung auftritt, leidet für gewöhnlich darunter, daß den Projizierenden eine schwache Ahnung davon erhalten bleibt, daß "Stereotypie und Personalisierung beide der Realität gegenüber unzureichend (sind)." (Adorno 1980, 190) (1) Da die Projektionen von "Stereotypen ...", wie die einer verborgen-verschwörerischen Weltherrschaft der Juden, " ... sich völlig von der Realität lösen und wild umherschweifen ... treten unsinnige Verzerrungen auf ... wenn die Stereotypen wieder mit der Realität konfrontiert werden" (Adorno 1980, 115), mit dem realen Elend des osteuropäischen Ghettos beispielsweise. Bei der Wahrnehmung (2) der Affäre Du-troux hingegen konnte die Projektion den gelinden, "verzerrenden" Selbstzweifel abschütteln, der sie sonst zu fadenscheinigen, "rationalisierenden" Hilfskonstrukten (als solche sind die Rothschilds oder "Die Weisen von Zion" dem Antisemiten notwendig) zwingt. Selten zuvor gab es wohl einen singulären Anlaß, der unterschiedliche Stereotypen zugleich bediente: Den genußfeindlichen-masochistischen Neid auf den nichtarbeitenden Sozialschmarotzer, den sexuell aufgeladenen sadistischen Wunsch nach dem autoritären, sowohl disziplinierenden wie auch strafenden Staat; ein Staat, der in seiner heutigen Gestalt von sinistren Mächten und Verschwörern insgeheim beherrscht wird, wie es der Verfolgungswahn argwöhnt, und der seine unschuldigen Opfer grausam dahinmetzelt, wie es der Verfolgungswunsch sich mit Wonne geradezu rituell ausmalt ("Mußte man sie auf dem Altar der Justiz opfern?", fragt sich beispielsweise ein Lütticher Polizist, laut Spiegel 43/96).
Die sich aus diesen Komponenten zusammensetzende "autoritäre Aggression" (Adorno) bringt in Belgien in großer Geschwindigkeit, spontan und ohne öffentliche Aufforderung oder feste Organisation, eine Volksbewegung reinsten Wassers auf die Beine. Der "weiße Marsch" gegen Kindesmißbrauch und für eine Justizreform am 20. Oktober 1996 ist nur ein Höhepunkt von Aktionen, an denen sich "alle anständigen" Belgier beteiligen. Unternehmerverband und Gewerkschaften fordern gemeinsam zu Arbeitsniederlegungen aus Protest auf, denen sich Lütticher Stahlarbeiter genauso wie die Feuerwehr Brüssels anschließen.
Offiziell fordert die "weiße Bewegung" die Einsetzung eines parlamentarischen Untersuchungsausschußes zur "Affäre Dutroux" und die Ernennung des Untersuchungsrichters Connerotte (3), der eben erst wegen offenkundiger Befangenheit das Verfahren Dutroux hatte abgeben müssen, zum Überwacher des Ausschusses. Inoffiziell forderte dieser Marsch, wie so viele andere kleinere, die gerne auch das Haus Dutroux mittlerweile der meistbesuchteste Wallfahrtsort der Beneluxregion besuchen, die Wiedereinführung der erst im Juni 1996 abgeschafften Todesstrafe. Der König, von dem viele ein autoritäres Signal erwarten, mit dem er sich über den als zu lax empfundenen Justizapparat und die als zu interessengruppengebunden (sprich, zu demokratisch) verachteten politischen Institutionen stellt, und nach kurzem Zögern auch der belgische Premier Dehaene solidarisieren sich mit den o.g. offiziellen Forderungen.
Doch der unverhüllt zum Ausdruck kommende, sehnliche Wunsch der "weißen Bewegung", daß irgendein hochrangiger politischer Repräsentant auch nur irgendwie als "Täter" gebrandmarkt werden könne, wird immer aufs neue enttäuscht. Umso erpichter bastelt man an der Konstruktion einer Art "indirekter" Täterschaft: Dafür wird so ziemlich jeder etwas spektakulärere Kriminalfall der letzten 15 Jahre ausgegraben und mit Mafiaeinfluß im zu laschen Staatsapparat (vorzugsweise Walloniens), Geheimfronden in der zu zurückhaltenden Gendarmerie, ominösen Erpressungsversuchen nach Schickeriaorgien und/oder internationalen Schieber- und Pornoringen in Verbindung gebracht. (4) Unter diesem Druck fanden sich schließlich im Dezember alle belgischen Parteien zu einer "Konferenz zur Erneuerung der politischen Sitten" zusammen. Die Unmengen an Dossiers, die im Zuge des parlamentarischen Untersuchungsausschusses und seiner Säuberungskampagne zusammengekommen waren, bedurften der nationalen Weihe, obwohl sie nur so großartige Dinge zum Vorschein brachten, wie, daß Parteispenden veruntreut und am Fiskus vorbeigemogelt wurden (Spiegel 48/96).
Dessen ungeachtet klingelt das "grüne Telefon" weiter, eine Erfindung des Volkshelden Connerotte, auf der anonym und gratis Sexualstraftaten denunziert werden können bis Mitte Dezember 96 wurden auf solche Anrufe hin 1.500 mal Nachforschungen eingeleitet (NZZ, 15.12.96). Daß der sich offen zu seiner Homosexualität bekennende Wirtschaftsminister Di Rupo, obendrein Sohn süditalienischer (!) Einwanderer, dabei am stärksten unter (mittlerweile offenkundig haltlosen) Verdacht geriet, überrascht nicht. Beeindruckend aber ist schon, daß mittlerweile aufgrund von Denunziation gegen fünf (!) Bundesminister in Sachen Sex mit Minderjährigen Ermittlungen anhängig sind (FAZ, 20.1.97) ein Ende des Volkszorns ist also nicht in Sicht. Im Gegenteil: Eine von Meinungsforschern im Auftrag der belgischen Zeitung "Dimanche Matin" frei erfundene Partei "Die Weißen" würde laut Umfragen bei Parlamentswahlen in Wallonien 56%, in Gesamtbelgien über 60% der Stimmen erhalten (Berliner Zeitung, 8.1.97).
Mit äußerstem Wohlwollen und einer großen Portion Häme blicken in vorderster Linie diejenigen bürgerlichen Blätter Deutschlands, die sich einer moralischen Erneuerung Wickertscher Prägung Gemeinwohl geht vor Eigennutz, Bürgersinn vor Anspruchshaltung am meisten verschreiben, wie eben der "Spiegel" oder die "Zeit", auf die "Moralischen Helden" (Spiegel 37/96) jenseits der Grenze. Tief sitzt der Ärger über den Spott, den das westliche Ausland in den 80er Jahren über die Mutter aller hysterischen Basisbewegungen, Deutschland, goß, als Hunderttausende von Verantwortung Beseelte gegen mindere oder völlig irreale Gefahren, wie den raketenbewehrten amerikanischen Kulturimperialismus, das Ende des deutschen Waldes und radioaktive Molke zu Felde zogen und allseits lautstark die gemeinwesenzersetzende Flickaffäre und Lafontaines Puffbesuche beklagt wurden. Zu tief, als daß man nicht mit Genugtuung die eigenen Ressentiments aus dem Munde der Spötter von gestern vernähme, wie aus der "laisser-faire-Republik" Belgien, dem "Steuerhinterziehungsparadies, das sein Gemeinwesen verrotten ließ" (Zeit, 49/96). Noch deutlicher wird der "Spiegel": "Belgien ... im eigenen Selbstverständnis eine ordentliche, gereifte (!) Demokratie ... kam sich plötzlich wie eine Bananenrepublik vor" (39/96), "ein einzigartiges Biotop aus Korruption, Fahrlässigkeit und surrealistischem Föderalismus", in dem "balkanische Zerrissenheit" und "kongolesische Zeiten" herrschten (38/96). Aber nicht nur, daß die "gereiften Demokratien" demselben Taumel unterlägen, wie die "XY-ungelöst"-Nation; mehr noch, kann man sich selber zum Bollwerk der wahren, sprich gefestigten Demokratie gleich in zweierlei Hinsicht stilisieren: Einerseits vermag man von der hohen Warte vor Hysterie (und Rechtsradikalismus, wie in der Berichterstattung über Frankreich und Le Pen), "dem Gift der Gerüchte" und dem "kompletten Umsturz" (FAZ,20.1.97) zu warnen, andererseits sich die eigene Raserei nachträglich als gar vorbildlich bestätigen lassen, wie beispielsweise durch eine Intima des belgischen Königshauses, deren Äußerungen "Die Zeit" am 29.11.96 gebauchpinselt kolportiert: "Die Wende", hofft sie, hat in Brüssel begonnen: "Wie damals bei euch in Leipzig. Die Belgier, Flamen, Wallonen und Deutschsprachigen standen zusammen als ein Volk!" So recht nach Art des Hauses, fährt sie fort: "Der König hat begriffen, daß es um eine Sinnkrise geht, während der erste Minister ... nichts als Materialismus im Kopf hat."
Verkehrte Welt also? Tanzen jetzt die anderen den Carl Schmitt und Moeller van den Bruck, den Haß auf die unechte, dem Volksorganismus entfremdete Demokratie, auf das zerstrittene, führungsschwache Parteienwesen, während Deutschland weise den Kopf schüttelt ob soviel Ungestüms? Dieser Eindruck kann durchaus entstehen angesichts Hunderttausender (von der "schweigenden" Mehrheit potentieller Wähler der "Weißen" nicht zu reden), die die überkommene Gestalt der bürgerlichen Gesellschaft in ihrer liberalen Phase verteufeln und skandalisieren: Hunderttausende, die ihrer Sehnsucht nach dem autoritären Staat freien Lauf lassen, die den Schutz der Privatsphäre vor der Justiz als Verbrechen empfinden (5), die die Gewaltenteilung als Beihilfe zur Verschwörung werten, die die Exekutive nicht mehr dem auszuhandelnden Kompromiß gesellschaftlicher Interessengruppen der Legislative unterstellen wollen (6), sondern einem einheitlichen Volkswillen, verkörpert in den Helden-Staatsanwälten und -Richtern (7). Nur neigt der berechtigte Ekel vor dem Volkszorn dazu zu übersehen, daß dieser Zorn in Belgien immerhin noch einer zumindest formal bestehenden Distanz zwischen Staat und Gesellschaft, zwischen Bürger und Staatsbürger (8), gilt; in den Worten der "Zeit" vom 13.9.96: "Die Emotionen des Volkes, die Nüchternheit der Intellektuellen drücken die gleiche Distanz aus, den großen Abstand der Belgier zum politischen System, ihre tiefe Fremdheit gegenüber dem Staat, die objektive Gründe hat historische und aktuelle."
Keineswegs ist es so, daß die Massenprojektion in Deutschland etwa schwächer wäre; Russenmafia und Sexmonster hinter jeder Ecke sind fester Nachrichtenbestandteil. Doch das jeweilige Eigenleben der gesellschaftlichen und politischen Sphäre, ihre Distanz und ihre stetige Vermittlung, sind in Deutschland seit langem bereits in die Dialektik von Volksstaat und Staatsvolk, der "Wertegemeinschaft" und dem "Gemeinwohl", aufgehoben, wobei die Ressentiments des Volkes sich in der Staatsraison ausdrücken, die Staatsraison aber die Basis der Ressentiments abgibt. Belgische Zustände seien hierzulande schwerlich möglich, tönt man; wie wahr, wo doch der von den "weißen Belgiern" erstrebte Zustand lange bereits sowohl im deutschen Staatsrecht kodifiziert (9), als auch in Form der öffentlichen Meinung habitualisiert ist: Keiner Volksbewegung bedurfte die Strafrechtsverschärfung, deren meistbeachteter Teil natürlich die Erhöhung des Höchststrafmaßes für Kindesmißbrauch von 10 auf 15 Jahre war. Mit ihr beeilte sich der Staat, dem Rachebedürfnis seines Volkes zuvorzukommen (das jedem rationalen Argument Hohn spricht) (10). Auch den neuen Gesetzen zur Bekämpfung der "organisierten Kriminalität" werden sicherlich keine ernsthaften Hindernisse bürgerlich-liberaler Art wie im Vor-Dutroux-Belgien imWege stehen.
In der berüchtigten "Kriegszielrede" vom 5.4.1916 erkor Reichskanzler Bethmann-Hollweg das wallonische Kohle- und Stahlrevier um Lüttich zum Hauptobjekt deutscher Begierde. 1996 hingegen erfüllt Wallonien, der frankophone Teil Belgiens und die Heimat Marc Dutroux, die deutschen (und flämischen) Betrachter mit Gruseln: "Dem maroden Wallonien einst eine wichtige Industrieregion könnten die Todesfälle den Todesstoß versetzen. Denn die Sozialisten, die traditionell diesen Teil Belgiens regieren, sind jetzt heillos diskreditiert. Dabei waren sie bisher das verläßliche Bollwerk gegen alle Bestrebungen des wohlhabenderen Flandern, den Finanzausgleich unter den belgischen Regionen zu verändern. Nun da Filz, Korruption und Mißwirtschaft weltweit publik wurden, scheint die Entsolidarisierung der zwei Landesteile kaum noch aufzuhalten. Angewidert wenden sich viele Flamen von den Schmuddelgeschichten ihrer frankophonen Landsleute ab. ,Einer wie Dutroux und seine Frau empört sich der Vorsitzende der flämischen Christdemokraten, Marc van Peel, habe monatlich 4000 DM Sozialhilfe kassiert aus Steuergeldern, die vor allem in Flandern aufgebracht würden. Das müsse ein Ende haben. ,Dem wirtschaftlichen Tod, prophezeite die flämische Zeitung De Standaard, ,folgt jetzt der soziale Tod." (Spiegel, 38/96)
Nicht erst 1996 wurde die Wahlverwandschaft zwischen diesen Tönen und dem padanisch-sezzesionistischen Donnergrollen vom 14.09.96 in Italien augenfällig. Bereits am 20.09.95 hatte Theo Waigel mit der Äußerung Aufsehen erregt, daß weder Italien noch Belgien Gründungsmitglieder der 1999 zu bildenden Währungsunion sein würden, da Belgiens Staatsschuld 134% des Bruttoinlandsproduktes betrage (11) (60% ist die Maastricht-Marke) und damit noch die italienische Rate von 120% übertreffe. Wie in Italien ist eine der Hauptursachen dieser Staatsschuld das starke staatliche Subventionsengagement in den krisengebeutelten Zweigen der Schwerindustrie. Sind in Italien Subventionen und Transferleistungen in den agrarischen Süden zwei getrennte Komplexe der Staatsschuld, so fallen diese im Fall Walloniens in eins und machen es zu einem postindustriellen Mezzogiorno, dessen Produkte, v.a. Stahl, dennoch nach wie vor trotz stetig fallender Weltmarktpreise das Hauptexportgut Belgiens darstellen. Und wiederum Italien nicht unähnlich, ist durch den hohen Verflechtungsgrad mit Wohl und hauptsächlich Wehe der Schlüsselindustrien (bereits 1970 wurde die Kohlenförderung in Wallonien eingestellt) die politische Legitimationsbasis des intervenierenden Staates äußerst fragil.
Da im Interventionsstaat "keynesianischer" Prägung die organisierten gesellschaftlichen Interessengruppen im öffentlichen Sektor, bei den Staatsbanken, den öffentlichen Unternehmen und den sozialen Sicherungssystemen direkt nach politischem Proporz das Personal stellen (12), bekommt die enttäuschte staatsbürgerliche Erwartung, daß der Staat die allgemeine Zweckmäßigkeit der konkreten Arbeit gegenüber der als äußerlich-partikular empfundenen Tauschabstraktion und ihrem unverstandenen krisenhaften Resultaten verkörpere, das Feindbild frei Haus geliefert. Der Doppelcharakter eines jeden Staates, der auf der entfalteten Wertform, der Schrankenlosigkeit der allgemeinen Ware beruht, einerseits die "Klammer des abstrakten Reichtums" (R. Kurz) zu sein, und dessen Zwangsläufigkeit zugleich in konkret-persönlicher Herrschaft zu exekutieren, bedient von Beginn an ein bestimmtes Wahrnehmungsstereotyp. Dieses löst das Problem, einerseits handgreiflicher konkreter Herrschaft zu unterliegen, andererseits eine mysteriös abstrakte Geschehenslogik am Werke zu ahnen, auf seine Weise: Es erhält sich das Trugbild eines über dem Marktgeschehen thronenden Souveräns, indem es die herrschaftsförmigen Konsequenzen der dort waltenden Abstraktion (z.B. Arbeitslosigkeit) bestimmten intermittierenden Instanzen im politischen Apparat, die eine an sich gerechte Herrschaft verzerrten, zuschreibt.
Anders als in Deutschland, wo ein per definitionem über den gesellschaftlichen Fraktionen stehender Volksstaat auch propagandistisch beansprucht, diese Fraktionen an die Kandare zu nehmen und so nur einem dumpf-grollenden Ressentiment gegem die ominösen "Politiker" Raum gibt, ermöglicht der einen organisatorischen Kompromiß gesellschaftlicher Fraktionen verkörpernde Staat, wie in Belgien, leicht zu personalisierende Schuldzuweisungen. Diese skizzierte, klassisch-interventionistische Gestalt des Staates stellt die ideale Projektionsfläche für den von Adorno so genannten "Usurpator-Komplex" (Adorno 1980, 219ff.) (13) bereit. Dieser Komplex malt sich das bestehende politische System als Verrat an der, wenn man so will, Idee des Staates aus; dieser scheint von selbstsüchtigen Interessen "usurpiert" zu sein, gefangen von Verschwörungen, die sich an der ehrlichen Arbeit der Steuerzahler bereichern, und das sauer erbrachte Steueraufkommen zum Frommen nichtsnutziger Klientelen durchbringen. Der Nimbus des Staates als Garant des Allgemeinwohls, sprich der Existenzsicherung, die sich das Marktsubjekt von ihm zu versprechen gezwungen ist, bleibt dabei unangetastet, wird sogar idealisiert im Wunsch, der Staat möge ja autoritärer werden.
So ähneln sich in einem gewissen Maße auch die italienischen und die belgischen Krisenverläufe bis zu diesem Sommer. Zielstrebig wurde in beiden Fällen das Schlangennest, aus dem das Verderben kriecht, seit Jahr und Tag lokalisiert. Wie den "arbeitssamen" Padaniern klar vor Augen zu stehen schien, daß sie durch die "afrikanischen Zustände" in Süditalien ruiniert werden, wo das Geld in dunklen, kriminellen Kanälen verschwindet und sich eine faule, inkompetente Bürokratie und Klüngelwirtschaft mästet, stimmt seit Jahren ein großer Teil der Flamen in den Chor, daß Wallonien ihr Verderben sei, mit ein. Landesweit konnten die radikalen und "gemäßigten" Separatisten, "Vlaams Block" und "Volksunie", zusammen 12% der Stimmen bei den 95er Wahlen auf sich vereinigen (14). Und nicht nur sie, sondern auch starke Fraktionen der flämischen Liberalen und Christdemokraten fordern eine Veränderung des geltenden Finanzausgleichs zwischen den Regionen, in dem das belgische Gesamtsteueraufkommen nicht proportional den erbringenden Regionen zukommt (wie es sich die Flamen wünschen), sondern zu nicht unerheblichen Teilen ins "strukturschwache" Wallonien geleitet wird. Die Parti socialiste, im wallonischen Industrierevier traditionell stärkste Partei, wovon ihr flämisches Pendant (15) nur träumen kann, steht auf Gedeih und Verderb hinter der Beibehaltung dieses Ausgleichssystems, und damit auch hinter der Beibehaltung des letzten verbliebenen Restes der politischen Einheit Belgiens. (16) Denn dem wirtschaftlichen Niedergang Walloniens seit den späten 60ern folgte nicht zufällig bis heute eine regionalistische Reform nach der anderen begleitet vom kontinuierlichen Aufschwung des Separatismus. (17)
Nach flämischer Diktion, die der "Spiegel" getreulich wiedergibt, ist Lüttich (Liege), die Metropole Walloniens, das "Palermo des Nordens": "Trotz der Milliardensubventionen aus dem reichen Norden für den armen Süden wird das Wohlstandsgefälle immer steiler: Flandern, ein moderner High-Tech- und Dienstleistungsstaat, Wallonien ein tristes graues Land, eine rückwärtsgewandte sklerotische Agglomeration in den Fängen des sozialistischen Klüngels und der sizilianischen Mafia, die hier wegen der vielen italienischstämmigen Einwanderer ihre stärkste Bastion außerhalb Italiens hat." (38/96). Alle Ingredienzen, die der staatsbürgerliche Menschenverstand benötigt für eine umfassende sezessionistische Bewegung der Flamen und entsprechende Reaktionen der Wallonen (18) wären also gegeben. Selbst die Ethnifizierung der Verursacher der "Schmuddelgeschichten", der das Gemeinwesen unterhöhlenden und die Währungsunion versauenden Schmarotzer und Sozialhilfeempfänger ist gegenüber den frankophonen Wallonen seitens der niederländisch sprechenden Flamen ein leichtes (im Gegensatz zum italienischen Sezessionismus); eine traditionelle Animosität zwischen den Regionen, überaus erfolgreiche Separatistenparteien und der undurchsichtige Skandal von der Machart des "Paten" um die Ermordung des ehemaligen Vorsitzenden der wallonischen Sozialisten, Cools, sollten ein übriges tun. (19)
Obwohl das belgische Szenario im Übermaß alle Züge trägt, die an die hoffnungslosen Retribalisierungsschübe im Bereich des ehemaligen Comecon, und mehr noch an die Selbstinszenierungen von sogenannten Padaniern, Katalanen und Frankokanadiern erinnern, tritt im Spätsommer 1996 gerade nicht das zu Erwartende ein. Eben weil die "weiße Bewegung" Belgiens nicht die horribile dictu vertrauten Züge klassischer sezessionistischer Bewegungen trägt, sondern weil Flamen und Wallonen im am singulären Ereignis sich entzündenden Volkszorn noch einmal einig wurden, zwingen "Die Weißen" der linken, politischen Beobachtung einen anderen als den gewohnten Maßstab auf.
An jenem nämlich noch offensichtlicher als am "Padanismus" geht die liebgewordene Ideologienlehre zuschanden; eine Lehre, die besagt, daß die in einer sozialen Bewegung sich artikulierenden Bedürfnisse einen durch ideologische Intervention fortschrittlich zu wendenden Hintergrund hätten, Verzerrungen eines klassenkämpferisch zu deutenden Anliegens seien. So scheint gerade noch denkbar, bei entsprechender Verbohrtheit, daß einige der Aktivisten der Lega Nord vielleicht einer vulgären Kapitalismus- und Staatsfeindlichkeit frönen, die erst durch Propaganda und charismatische Führer ihre irrwitzige Ausdrucksform erhält. Nimmt der padanische Separatist an, daß mysteriöse Banden den Staat usurpierten, und daß deswegen ein neuer, eigener Staat hermüsse, so kommt dem Usurpatorkomplex immerhin zugute, daß der schrumpfende staatlich verwaltete Verteilungsspielraumraum aus Lobbies tatsächlich Banden macht. Aber: Dieser Prozeß tatsächlicher politischer Regression steht zur Projektion NICHT wie Ursache zu Wirkung, sondern ist der Projektion höchstens Geschmacksverstärker, da das ihr zugrundeliegende Wahrnehmungsstereotyp viel konstitutiver zum Subjekt (als Funktion des generalisierten Tauschs) gehört, als ihr vordergründiger, aktueller Anlaß.
Die Scheinplausibilität der Ideologienlehre zehrt von einem Phänomen, das Adorno so beschrieb: "Noch die schlimmste und unsinnigste Vorstellung von Ereignissen, die wildeste Projektion enthält die bewußtlose Anstrengung des Bewußtseins, das tödliche Gesetz zu erkennen, kraft dessen die Gesellschaft ihr Leben perpetuiert ... Die offene Narretei des einen ruft irrtümlich im anderen die Narretei des Ganzen beim richtigen Namen." (Adorno 1978, 215) Diese "Irrtümlichkeit" sorgt häufig dafür, daß manchen Sophisten noch eine, wenn auch haarige Konstruktion wie die im vorhergehenden Abschnitt angedeutete gelingt, in der für eine Widerspiegelung, sei es der Leninschen Materie, sei es des Althusserschen Erkenntnisobjekts, ausgegeben wird, was das Subjekt in Wahrheit aus sich selbst heraus als Wahrnehmung (Vgl. Anm. 2) produziert.
Eine solche Konstruktion von sozialer Bewegung stellen die Geschehnisse des "weißen Herbstes" allerdings vor schier unüberwindliche Aufgaben. Das offenkundige Auseinanderklaffen des Anlasses der belgischen Volksbewegung, Dutroux Sexualdelikt, und der Wirkungsmacht, mit der er alle vorgängigen "politischen" Stereotypen synthetisierte ("Der Horror von Charleroi hat das Sezessionsgespenst wiederbelebt", Spiegel 38/96), erzwingt definitiv, die jeglicher Scheinplausibilität von Widerspiegelung zugrundeliegende Ursache bloßzulegen: Den Zusammenhang von Projektivität und Subjektivität unterm Warenfetisch. Einen Zusammenhang, dessen Wirkung Wolfgang Pohrt prägnant beschreibt: "Weltweit, wäre die Schlußfolgerung daraus, reagieren die Menschen auf die weltweite Krise offenbar mit schweren Störungen ihrer Wahrnehmungsfähigkeit, noch schneller als die Organisation der Ökonomie bricht die Organisation des Subjektes zusammen." (Pohrt 1990, 278)
Fatalerweise läßt sich nicht vom Standpunkt des konventionellen "gesunden Menschenverstandes" gegen die "pathogene Meinung" (Adorno) weder des vom Usurpatorkomplex besessenen Staatsbürgers, noch gegen jene des mysteriöse Kräfte fürchtenden Esoterik- und Ökopsychotikers opponieren. Weil zwischen dieser Meinung "und der Realität eine fatale Wahlverwandtschaft sich herstellt, die dann der Verstocktheit der Meinung zugute kommt", weil deren Projektion "nachträglich von derselben Vernunft honoriert wird, der ihr psychotischer Charakter sich entzieht (und) die objektive Welt sich dem Bild (nähert), das der Verfolgungswahn von ihr entwirft" (Adorno 1963, 168), scheint jeder Öko- und Korruptionsskandal die Meinung nachträglich mit dem Prädikat sensibel zu adeln. Obwohl die Psychose (nach der klassischen Definition endogen bedingte Wahrnehmungsstörung) die politischen und ökonomischen Krisentendenzen nur in dem Sinne "wahrnimmt", wie eine stehengebliebene Uhr zweimal am Tag die richtige Zeit zeigt, fühlt sich der gesunde Menschenverstand nicht fähig, die unverstandene Irrationalität des Ganzen mit der zunächst offensichtlichen Irrationalität der Einzelnen zu verknüpfen genötigt zu glauben, daß "doch etwas daran sei". Getreu folgt dieser Verstand dem bekannten Vorbild Max Webers, der aufgrund des empirischen Belegs, daß die Vermögensgröße der Bürger jüdischen Glaubens über der des Bevölkerungsdurchschnitts lag, meinte, dem Antisemitismus Rationalität zubilligen zu können. Solch monströse Mißverhältnisse, die wie gesehen in keinerlei strukturellem Gegensatz zur positivistischen Erkenntnistheorie stehen, gehören ursächlich zu dem von Pohrt festgestellten Vorsprung des Subjekts in der Logik des Zerfalls.
Ein solches "Mißverhältnis", das sich in der größten zur (Vernichtungs)Politik gewordenen Massenprojektion der Geschichte niederschlug, bewog in den 40er Jahren den "American Jewish Congress" dazu, die Forschungsarbeit des emigrierten Sozialwissenschaftlers Adorno und seines Teams finanziell zu unterstützen. Es sollte die Frage untersucht werden, woher die Triebkräfte eines solchen Exzesses in einer aufgeklärten Gesellschaft stammen. Zu diesem Zweck wurden einer großen Anzahl von Versuchspersonen Fragebögen vorgelegt, die zu bejahende oder zu verneinende Aussagen über oberflächlich völlig unzusammenhängende Themenkomplexe, wie allerlei privat scheinende Moralprinzipien und Grundsatzurteile, aber auch geschickt durch einschränkende Rationalisierungen akzeptabel gemachte soziale Vorurteile gegen sogenannte Randgruppen, beinhalteten. Es zeigte sich, daß mit dem sozialen und politischen Vorurteil systematisch andere Reaktionsmuster korrelierten, die mit dem Vorurteil weder in der Sache, noch durch möglicherweise generalisierte persönliche Erfahrungen zusammenhingen an denen also "nichts daran war". Diese sich stets wiederholenden "stereotypen" Muster waren nicht durch formale Logik mit dem Konzept von Ideologien, die nur die Oberfläche des Individuums berühren, verknüpfbar, und mußten deshalb zwangsläufig mit "psychischen Dispositionen im Individuum" (Adorno 1980, 38) zusammenhängen. Adorno ordnete diese "vorpolitischen" Ansichten des "Vorurteilsvollen" in verschiedenen Gruppen von Behauptungen, aus denen er die berühmte F(aschismus) Skala entwickelte, eine Liste von Urteilen, in denen nicht ein einziges Mal expressis verbis Bezug genommen werden mußte auf die eigentlichen Ideologien, wie beispielsweise den Ethnozentrismus.
Mit Hilfe dieser F-Skala gelang es, Rückschlüsse zu erlangen darüber, wie tief das Vorurteil im Individuum verankert war, d.h. wie stark es mit der Charakterstruktur korrelierte, wie sehr es Bedürfnisse, die aus der psychischen Organisation des Subjekts stammen, befriedigte, sprich durch Projektion kanalisierte. Es konnte anhand der jeweiligen "Stärke" der Projektivität, d.h. in welchem Maße der Stereotyp sich von der Reflexion, dem gedanklichen Rückbezug auf den zur Debatte stehenden Tatbestand, gelöst hat und offene Wahrnehmung durch verfestigte Meinung ersetzt (20), eine Bandbreite von Typologien des autoritären Charakters entwickelt werden. Stark vereinfacht lassen sich ein "konventionelles" und ein "autoritäres" Syndrom unterscheiden (Adorno 1980, 319ff.): Ersteres entspricht dem Typus des einigermaßen harmlosen, nicht von aggressiven Wünschen gebeutelten Konformisten. Sein stetes Lob autoritärer Erziehung beispielsweise geht nicht auf Sadismus zurück, sondern auf den Wunsch, sich möglichst nicht von der "normalen" Eigengruppe zu unterscheiden; das Ich ist zwar geschwächt, aber das Über-Ich bleibt dem Ich als individuell gesetztes Ich-Ideal noch so weit verhaftet, daß das Es, das kindliche Reich der Omnipotenz, der Unmöglichkeit von Empathie und Triebaufschub, zumindest eingezäunt bleibt.
Ganz anders dagegen das "autoritäre Syndrom": Im Gegensatz zum "Konventionellen" hat Stereotypie hier "eine echte ,ökonomische Funktion in der eigenen Psyche des Individuums: sie hilft seine libidinöse Energie den Forderungen des gestrengen Über-Ichs entsprechend zu kanalisieren." Als "Pseudokonservativismus" bezeichnet Adorno die politisch-normative Stereotypie des sozusagen modernen Autoritären. Dessen Art von Oberflächen-Konformismus ist widersprüchlich, "die autoritäre Unterwürfigkeit in der bewußten Sphäre (wird) begleitet von Gewalttätigkeit und chaotischer Destruktivität in der unbewußten." (Adorno 1980, 205) Das Über-Ich, psychische Instanz gesellschaftlicher Autorität, entzieht sich dem Horizont des Ichs, verfestigt und veräußerlicht sich zugleich. Das Ich, zum Erfüllungsgehilfen des veräußerlichten, nach dem Spiegelbild der Gesellschaft anonym-repressiven Über-Ichs regrediert, kann das Es nur noch ungenügend rationalisieren, geschweige denn zivilisieren. Die nur "unterdrückten Triebe" brechen an den Ventilen, die das veräußerlichte Über-Ich, die gesellschaftliche Autorität, zuläßt, mit gestauter Energie durch. Der Widerspruch des Pseudokonservativismus zwischen unterwürfiger Oberfläche und dem aufbegehrenden im wahrsten Sinne des Wortes asozialen Es "ist keine bloße Reaktionsbildung gegen verdeckte Rebellionsgelüste; sie läßt vielmehr indirekt gerade diejenigen destruktiven Tendenzen zu, die das Individuum durch starre Identifizierung mit einem veräußerlichten Über-Ich in Schach hält." (Adorno 1980, 206) Ein ausgeprägter Sadomasochismus (21) ist die Folge: Verlangt die dem Es fremde Zurückhaltung, die das starre Über-Ich erzwingt, danach, diese Unterdrückung libidinös masochistisch zu besetzen (Ursache des übermäßigen Scheinkonformismus), so entladen sich die "verbotenen" Wünsche umso heftiger in einer überbordenden Projektivität, auf der zwanghaften Suche danach, das Verbotene an anderen zu bestrafen.
Diese Entdifferenzierung in der Organisation des Subjektes wirft dieses aufs Infantile zurück. Die Reinfantilisierung forciert "das zwanghafte Wiederaufleben irrationaler Mechanismen, die das heranwachsende Individuum niemals überwunden hatte." (Adorno 1980, 189) Die beiden typischen Mechanismen infantiler Umweltsystematisierung aber sind auch der Wertkritik wohlbekannt : Stereotypie und Personalisierung. An diesem Punkt greifen die sich zur gesellschaftlichen Totalität materialisierende Wertform und die Entdifferenzierung des Subjekts wie Zahnräder ineinander. Die aus dem Fetischcharakter der Ware entspringende "verzauberte, verkehrte und auf den Kopf gestellte Welt" produziert eine subjektive Konstellation, deren Projektivität ins Übermaß schießt. Die letzterer zugrundeliegende Wahrnehmungsunfähigkeit, wächst in derselben Geschwindigkeit an, in der "die Versachlichung der Produktionsverhältnisse und ihre Verselbständigung gegenüber den Produktionsagenten" (MEW 25, 838f.) die "Ich-Stärke" des einstmals als Herr seines Geschickes und Eigentumes sich wähnenden Bürgers kassiert. Schlagend bestätigt denn auch der Warenfetischismus die irreversiblen Stereotypen, die zur Personalisierung (22) drängen: "Es ist ferner schon in der Ware eingeschlossen, und noch mehr in der Ware als Produkt des Kapitals, die Verdinglichung der gesellschaftlichen Produktionsbestimmungen und die Versubjektivierung der materiellen Grundlagen der Produktion, welche die ganze kapitalistische Produktionsweise charakterisiert." (MEW 25, 887)
Die Eigenbewegung und Selbstläufigkeit ("Versubjektivierung"), die die Dinge als Waren gegenüber ihren Besitzern annehmen, läßt die Bedingungen der eigenen Reproduktion, die dem Subjekt den Imperativ des "Verwerte Dich selbst" aufherrschen, zum unheilvollen Hexensabbat werden. Die zunehmend undurchdringlichere Herrschaft des Warenfetisch über das gesellschaftliche Dasein, die der Unberechenbarkeit der gesellschaftlichen Anforderungen zugrundeliegt, erzwingt deren Personalisierung. Das Maß dieser "Unberechenbarkeit" bestimmt den Übergang vom konventionellen zum autoritären Syndrom, weil dem Über-Ich als psychischer Inkorporation der Gesellschaft mit einem in sich schlüssigen, aufs Private ungebrochen zu übertragenden Normenkatalog nicht mehr genügt wird, sondern das Über-Ich undurchsichtig, uneingrenzbar und widersprüchlich ist. In der Zwiespältigkeit des ,Pseudokonservativismus drückt sich der Verlust auch des letzten Scheins von Marktautonomie des Subjektes bei gleichzeitiger komplettierter Abhängigkeit vom Marktgeschehen aus. Daß diese aber nur durch "bestimmte gesellschaftliche Charaktere, die der gesellschaftliche Produktionsprozeß den Individuen aufprägt" (MEW 25, 887) zur Geltung gelangt, entspricht der Ersetzung der Wahrnehmungsfähigkeit durch projektierte Stereotypie aufs Haar. Die notwendigerweise in Menschengestalt verhüllten "versubjektivierten" (personalisierten) Produktionsbedingungen zwingen auch der potentiellen Arbeitskraft die Linearität und Norm des Prozesses auf. Die Stanzung der Individuen auf die "sozialen Eigenschaften dieser Dinge" (MEW 26.3, 498) prägt ihnen deren Stereotypie ein, die den Individuen obendrein von ihrer realen Ohnmacht (23) gegenüber diesen "sachlichen Mächten" höhnisch bestätigt wird. So ist die paradox erscheinende Tatsache, daß der Verfolgungswahn nur allzu oft a posteriori seine Bestätigung erfährt, die Welt dem Wahn ähnlich zu werden droht, nicht einem Rest unverstellter Wahrnehmung, sondern gerade der nicht vorhandenen Wahrnehmungsfähigkeit geschuldet, die Erfahrung verhindert. Der Projizierende deliriert im Einklang mit der vom Tausch verhexten Welt.
In der Rearchaisierung der Gesellschaft zu einer "zweiten Natur", rearchaisiert sich auch das Subjekt. So wie seine Handlungen vom "automatischen Subjekt" der Gesellschaft, dem Kapital, diktiert sind, büßt es auch seine Ich-bestimmte Steuerungsfähigkeit ein. Das emporsteigende selbstreferentielle und selbstläufige Es wirft die Triebsteuerung so ab, wie "die Lieb im Leibe" des wirklichen Subjekts Kapital im Begriff ist, die Intentionen des empirischen Subjektes auf bloße Makulatur zu reduzieren. Adornos F-Skala, die Anhaltspunkte für das Maß der Zwanghaftigkeit der Projektion gab, wurde selbst im Falle des Pseudokonservativismus noch deshalb gebraucht, weil eine Ich-Filterung Charakterstrukturen, die sich im vorideologischen, vorpolitischen Bereich offenbarten, von ihren "stereopathischen" Ausformungen im ideologisch-politischen Bereich trennte.
Noch die beiden Gruppen von Aussagen auf der F-Skala, die am stärksten dem "autoritären Syndrom" entgegenkommen, diejenigen, welche Projektivität sans phrase und Sexualität (24) behandeln, gehorchen der zugrundeliegenden Annahme, daß das politische Vorurteil sich nur Ich-vermittelt aus diesen Quellen speiste. Bei den im folgenden vorgestellten Skalensätzen schränken zwar keine vordergründigen Rationalisierungen, wie bei anderen Variablen, die Projektion mehr ein; aber selbst die ausgeprägte Ich-Schwäche, die sie illustrieren helfen sollen, indem sie auf Pseudoeinschränkungen im Sinne wenigstens instrumenteller Vernunft (Rationalisierungen) der vorgestellten Urteile im Gegensatz zu anderen Variablen verzichten, schien noch nicht bis zum Punkt des völligen Wegfalls des Ich-Filters gediehen zu sein.
"25. Sittlichkeitsverbrechen, wie Vergewaltigung und Notzucht an Kindern, verdienen mehr als bloße Gefängnisstrafe; solche Verbrecher sollten öffentlich ausgepeitscht oder noch härter bestraft werden.
35. Die sexuellen Ausschweifungen der alten Griechen und Römer waren ein Kinderspiel im Vergleich zu gewissen Vorgängen bei uns, sogar in Kreisen, von denen es man am wenigsten erwarten würde.
38. Die meisten Menschen erkennen nicht, in welchem Ausmaß unser Leben durch Verschwörungen bestimmt wird, die im Geheimen ausgeheckt werden." (Adorno 1980, 84)
Ein Blick auf diese drei Variablen genügte um zu sehen, daß sie vollständig Motivation, Stoßrichtung und Programmatik der belgischen Volksbewegung beschreiben. Wie der Massenkurzschluß vom Sexualdelikt zur Verschwörungsjagd abläuft, läßt sich auch an dieser Stelle nochmals in verdichteter Form, anhand der Person des Privatdetektivs André Rogge, illustrieren. Rogge forscht seit Jahren im Auftrag der Elterninitiative "Marc et Corinne" (Vgl. Anm. 3) nach Verflechtungen zwischen mutmaßlichen Sexualdelikten an ca. einem halben Dutzend längerfristig verschwundener Kinder, internationalen Banden und dem hochrangigen Staats- und Parteienpersonal. Trotz der Vergeblichkeit, die den Ermittlungen des Poirot-Nachfahren beschieden war und ist, stieg er in Belgien zum Volksheld, Leitartikler und Fernsehstar auf.
Auf Rogges Angaben basierend erklärte "Der Spiegel" (43/96) die belgische Volksbewegung wie folgt: "Eine Bürgerbewegung ist entstanden, die rücksichtslose Aufklärung fordert nicht nur über das Monster Marc Dutroux und seine Komplizen, sondern auch über Hintermänner und zahlungskräftige Kunden ... Das Volk weiß, daß auch die Justiz längst zur Beute der Parteien geworden ist. ... Mehr als ein halbes Dutzend Häuser nennt der Sozialhilfeempfänger (Dutroux, U.K.) sein eigen ... Im Gefängnis von Arlon hat er die Börsenzeitung abonniert. Und wahrscheinlich (!) bot er mit Drogen vollgepumpte Kinder auf sogenannten Partouzes an, privaten Sexpartys, die in Belgien eine gewisse Tradition haben ... Ins Blickfeld der Ermittler von Neufchateau (warum? U.K.) geraten jetzt auch wieder die ,rosa Ballette Sexfeste der gehobenen Stände, auf denen sich Ärzte, Advokaten, Politiker, Staatsschützer und hohe Justizbeamte vergnügten. Die Orgien waren Anfang der achtziger Jahre gerichtskundig geworden, nachdem eine Frau auf mysteriöse Weise umgekommen war sie hatte auf einer der Partouzes damit gedroht, über die Teilnahme Minderjähriger (keine Kinder? U.K.) auszupacken ... Nihoul, der Mann mit den weitreichenden Beziehungen, hatte auch an diesen Festen teilgenommen ... Die Sexpartys, die er in der Brüsseler Rue des Atrébates 124 veranstaltete, waren so laut, daß sich Anwohner über den nächtlichen Lärm beschwerten. Die Polizei schritt niemals ein (!) ... Der prominente belgische Detektiv André Rogge, der ... schon vor Jahren auf ein internationales pädophiles Netzwerk (für das er außer mit im TV kurz gezeigten Pornokasseten jeden Beweis schuldig blieb, U.K.) stieß, glaubt nicht, daß der Fall Dutroux ganz aufgeklärt wird, trotz aller Bemühungen der tapferen Richter von Neufchateau: ,Da stecken zu viele drin, das ist zu explosiv".
Die sexuelle Projektion, als am unmittelbarsten dem Es verbundene, bündelt die Projektivität. Die Grenze zwischen dem politischen Vorurteil und den Triebregungen, die es rationalisiert, scheint im Gegensatz zu der autoritären Struktur, die Adorno in den 40er Jahren noch vorfand, zu fallen. Gibt es durchaus Extrembeispiele jener Zeit in der antisemitischen Propaganda (am stärksten im deutschen "Stürmer"), die jene Grenze überschreiten, so blieben diese randständig, und mit Peinlichkeitsempfindungen bei der Mehrzahl behaftet. Hier hingegen hat der Es-Impuls, die Projektivität, die Vermittlung abgestreift, die zuvor der Filterung des wie auch immer geschwächten Ichs unterlag. Diese Typologie, die noch in Adornos Augen, nur in Folterkellern und Randbereichen der Gesellschaft auftritt, und ein völliges Scheitern der Differenzierung dokumentiert (Adorno 1980, 328ff.), besitzt jetzt eine Massenbasis, die sich sogar ohne nennnenswerte manipulative Beeinflussung (seitens geschickter Agitatoren) im Selbstlauf mobilisiert. (25)
Daß es der reprimierten, d.h. von keinerlei Hinwendung zum Objekt geformten, zugleich sadistischen und autistischen, Sexualität gelingt, sonst eher disparate und von Rationalisierungen eingeschränkte Projektionen zu synthetisieren, weist darauf hin, daß die "Autoritäre Persönlickeit" keineswegs auch nicht "falsch" "aufgehoben" (26) wurde, sondern, daß das "autoritäre Syndrom", wie es Adorno umriß, zwar den entscheidenden Umschlagspunkt, aber keineswegs einen Endpunkt in der Entdifferenzierung des Subjekts darstellt. Beim pseudokonservativen Autoritären wurde der "Angriff des Es" noch durch ein zwar bereits veräußerlichtes Über-Ich, das aber einigermaßen konsistent (und grausam) war, in ein Überlaufbecken mit wenn auch mehr schlecht als recht definierbaren Notventilen umgeleitet. Diese Konsistenz "verdankt" sich in erster Linie der gesellschaftlichen Struktur des allgegenwärtigen Interventionsstaates: Massenarbeit, fordistische Disziplinierung, und die durch Familien- und Sozialpolitik über ihre Verfallszeit hinaus verlängerte Trennung von Privatheit und Öffentlichkeit, von Familie und Markterfordernissen ans Individuum; all das diente dort als Zwangsklammer, wo die interne Organisation des Subjekts bereits in heller Auflösung begriffen war. Die äußerst labile Balance, in der auch das veräußerlichte Über-Ich die aufsteigende projektive Destruktivität des Es noch halten kann, weil die Autorität als konkrete im Leben des Individuums auftritt, gerät in dem Augenblick aus dem Gleichgewicht, wo diese steuernde Autorität sich zurückzuziehen scheint. Die Abstraktion des Über-Ichs in Kombination mit dem Wegfall des selektierenden Ichs öffnet die Schleusen, die das lebens- wie gesellschaftsgeschichtliche Archaische zurückhielten.
Die Krise des Interventionsstaates geht also nicht zufällig mit der Krise der Wahrnehmung einher. Der schleichende oder, wie im Comecon abrupte Zusammenbruch der Spielräume, die der "selbstverwertende Wert" der politischen Steuerung anfangs aufherrschte, gegen Ende aber nur noch zugestand, mündet mit Konsequenz im hypertrophen Wuchern der Projektivität, das die Reste von Wahrnehmungsfähigkeit in rasender Geschwindigkeit unter sich begräbt. Das Wort von der "Deregulierung", Konsequenz der "maßlosen" Beschleunigung, die "die Zirkulation des Geldes als Kapital (zum) Selbstzweck" (MEW 23, 167) macht, erhält durch die gleichzeitige Deregulierung des Subjekts eine unheilschwangere Bedeutung. Die postkeynesianische Dauerkrise zementiert sowohl durch die Vollendung der autoritären Persönlickeit, als auch durch die Vollendung der scheinbaren Naturgesetzlichkeit, in die die "Ware als Produkt des Kapitals" die lebenden Produktionsfaktoren einsperrt den psychotischen Charakter von Volksbewegungen.
Der den staatlichen Notstand einfordernde "lynch-mob" in Belgien stellt dabei nur eine der Spitzen des Eisbergs dar. Der schlagartige Kollaps der "real-sozialistischen" Staaten, die bis 1989 wie graue Riesen aus der Vorzeit des durch und durch konventionalisierten Alltags in der politischen Landschaft standen, hinterläßt eine ebenso durch und durch traumatisierte Subjektivität, deren zusammenbrechende Organisation Schritt hält mit den zusammenschrumpfenden Weltmarktchancen. Die durch nichts mehr rationalisierte Projektivität entschlägt sich eines festen Vorurteils und wird genauso chaotisch, wie das Es, dem sie Abfuhr gewährt. In einem stets beschleunigten Karussel wechseln die Schuld- und Strafprojektionen allzuhäufig befeuert durch echtes Elend von den "roten Verbrecherbanden" zu den "historischen Feinden" und vice versa.
Das linke Bewußtsein aber, das jetzt, nach dem 89er Schock, selbstverständlich so weitermachen möchte, wie bis dahin; dieses Bewußtsein, das mit Hilfe realitätsresistenter, inhaltsleerer Kategorien die immer offenkundigere Pathologie der Subjektivität krampfhaft verdrängt, um zumindest am Rande auch der nachkeynesianischen Volksbewegungen mitzuschwimmen, hat die ihm heute mehr denn je gebührende Antwort bereits vor mehr als 20 Jahren erhalten: "Das Verlangen nach positiven Vorschlägen wird immer wieder unerfüllbar, und darum Kritik desto bequemer diffamiert. Genügen mag der Hinweis darauf, daß ... die Versessenheit aufs Positive ein Deckbild des unter dünner Hülle wirksamen Destruktionstriebs ist ... Der kollektive Zwang zu einer Positivität, welche unmittelbare Umsetzung in Praxis erlaubt, hat mittlerweile gerade die erfaßt, die sich in schroffstem Gegensatz zur Gesellschaft meinen ... Dem entgegenzusetzen wäre ... daß das Falsche, einmal bestimmt erkannt und präzisiert, bereits Index des Richtigen, Besseren ist." (Adorno 1971a, 19) Das "Falsche" ohne Vorbehalt zu "präzisieren", ist das Maß, welches Kritik von Affirmation trennt.
Im Text in Kurzform angegeben:
Adorno 1963: Meinung, Wahn, Gesellschaft, in: Ders.: Eingriffe, Frankfurt
Adorno 1971: Die Freudsche Theorie und die Struktur der faschistischen Propaganda, in: Ders.: Kritik, Frankfurt
Adorno 1971a: Kritik, in: Adorno 1971
Adorno 1978: Minima Moralia, Frankfurt
Adorno 1980: Studien zum autoritären Charakter, Frankfurt
MEW: Marx-Engels-Werke, Berlin
Pohrt 1990: Der Weg zur inneren Einheit, Hamburg
Uli Krug (Bahamas 22 / 1997)
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