Titelbild des Hefts Nummer 22
Soziale Frage und autoritäre Bewegung
Heft 22 / Frühjahr 1997
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Vom Landwehrkanal nach Wurzen

Ein deutscher Holzweg

"Der Hauptfeind steht im eigenen Land". Karl Liebknechts Losung wurde zum Motto des antifaschistisch geprägten Bündnisaufrufs zur diesjährigen "revolutionären" Luxemburg/Liebknecht-Demonstration in Berlin. Diese Losung offenbart die hoffnungslose Situation des Rests der Bewegungslinken heute. Er hat sich auf den Antifaschismus als Bündnisklammer geeinigt und konstruiert sich einen "Hauptfeind" zurecht, um vom offenkundigen Gegner emanzipatorischer Bestrebungen nicht reden zu müssen.

Schon Liebknecht und Luxemburg hatten als Feind allein die Herren von Politik und Kapital ausgemacht, denen sie 1914 noch die Führung der SPD als korruppte Erfüllungsgehilfen zuschlugen. Das freiwillige Mitmachen der Bevölkerungsmehrheit, also auch großer Teile des Proletariats, veranlaßte sie nicht zum Bruch mit dem Grundprinzip des Sozialdemokratismus: Die Unterstellung fortschrittlicher, emanzipatorischer Potentiale bei der lohnabhängigen Bevölkerungsmehrheit wegen ihrer Lohnabhängigkeit. Dies eint die Begründer der KPD mit ihren mißratenen Nachfahren von heute. Unverbrüchlich wird an der Dignität des deutschen Proletariats festgehalten, das man sich nur als von seinen Führern verratenes vorstellen kann. Wenn Luxemburg von der SPD als einem "stinkenden Leichnam" sprach, drückte sich im starken Wort ihre tiefe Enttäuschung über den endgültigen Verlust einer Organisation aus, der sie bis dahin ihr ganzes Leben gewidmet hatte und zugleich die trotzige Überzeugung, daß zwischen Führung und Mitgliedschaft ein dicker Trennungsstrich zu ziehen sei. Die Lösung des Problems sahen die Kommunisten der ersten Stunde in einer neuen Organisation, die sich von der alten durch eine prinzipienfeste Führung unterscheiden sollte. Heute auftrumpfend mit der gleichen Leichnams-Parole anzutreten, nun aber die PDS damit zu belegen, zeugt dagegen nicht von zeitbedingtem Irrtum, sondern von tiefersitzender Verstocktheit. Luxemburgs Fehler war kaum vermeidbar, es gab kein marxistisches oder sonstwie revolutionäres Denken, das in der Lage gewesen wäre, die nationale Integration der europäischen Sozialdemokratien (mit weitem Abstand voran die deutsche und die deutsch-österreichische) anders zu deuten als durch den Verratsvorwurf gegen eine vermeintlich korrumpierte Führung.

Wenn heute Liebknechts Diktum vom Hauptfeind von spätgeborenen Revolutionären zum Revival einer Gedenkübung gemacht wird, die im Zeichen des revolutionären Klassenkampfes gegen den deutschen Imperialismus einen Sarah-Wagenknecht-Gedenkmarsch ableisten, dann ist nicht die kritische Auseinandersetzung mit Liebknecht und der Revolutionärin und Theoretikerin Rosa Luxemburg gewünscht und schon gar nicht mit der Katastrophe der revolutionären Bewegung in Deutschland. Die Identifikation mit den Märtyrern soll den eigenen Durchhaltewillen mit parareligiösen Anrufungen ans Gefühl festigen. Angeknüpft wird an ein abgeschmacktes Heldengedenken, das die Toten zu Ikonen macht und ihren Leidensweg zur Bekräftigung einer Sache, für die gekämpft zu haben ihnen von den selbsteingesetzten Erben stets unterstellt wurde, weil deren Tagespolitik dies so erforderte.

Auftrag Antifaschismus

Die Anleihe beim DDR-Totenkultus für Liebknecht und Luxemburg, den die westgeprägte Antifa heute macht, liegt nur vordergründig in der gewitzten Besetzung verlassenen Terrains. Die Staatsantifa der DDR und die westdeutsche, autonom geprägte wußten um die substituierende Bedeutung, die der Totenkult für eine Möchtegern-Massenbewegung hat. Das Pfund, mit dem die Antifa im Konkurrenzkampf um die politische Hegemonie wuchern zu können glaubt, ist ihre demokratische und zugleich kämpferische Tradition, ausgedrückt in ihren Toten.

Daß diese Übung mit einem realsozialistischen Credo genauso zu haben ist wie mit striktem Grundgesetzpatriotismus, hat bereits seit 1991 der Verband der Antifaschisten der DDR unter Beweis gestellt. Kaum war dieser wie die DDR abgewickelt und ihm in Gestalt der ehemals DKP-orientierten, aber rechtzeitig gewendeten VVN ein West-Pendant gegenübergestellt, hat er sich ebenfalls gewendet, ohne an die Wurzeln seines Selbstverständnisses gehen zu müssen. Ein Fehler sei es gewesen, daß in der DDR der kommunistische Widerstand so sehr in den Vordergrund gestellt wurde, so die eilfertig geübte Selbstkritik. Das gelte es zu korrigieren, denn der Antifa sei ein bedeutender Teil des demokratischen Erbes des ganzen deutschen Volkes. Und als im 20.-Juli-Jahr 1994 der kommunistische Antifaschismus als genauso totalitär wie der Faschismus aus dem offiziellen Erinnern ausgeggrenzt werden sollte, war es der hessische Ministerpräsident Eichel, der auch den kommunistischen Toten "einen würdigen Platz im Ehrenhain der deutschen Nation" zusichern wollte.

Mit solchem Demokratismus wollen die immer noch revolutionär sein wollenden Antifas natürlich nichts zu tun haben und sind ihm gleichwohl ausgeliefert. Trotzig halten sie dagegen und verweisen umso heftiger auf die kommunistische Tradition, ohne deren Wesensverwandschaft mit der demokratischen auch nur zu ahnen. Bei der Bestimmung von Freund und Feind weichen sie kein Jota von der Linie der Alt-Herren-Riege ab. Von niemandem ist entschiedenere Zurechtweisung zu erwarten als von den AABO-Antifas und ihrem Umfeld, wenn der Hauptfeind einmal nicht gut dimitroffisch als die reaktionärsten und am meisten imperialistischen Kreise etc. ausgewiesen wird und stattdessen auf die herrschende Solidargemeinschaft in Deutschland gedeutet wird.

Gewiß hat die autonome Antifa einmal anders angefangen. In strikter Abgrenzung zum DKP-inspirierten Traditionsantifaschismus ging sie die Sache radikaler an. Das drückte sich in der Bereitschaft zum handfesten Angriff auf Nazi-Strukturen genauso aus wie in einer brachialen Rhetorik. Darin war nichts vom Auftrag des Grundgesetzes zu vernehmen, dafür umso mehr von rasanter Faschisierung und der dringend gebotenen revolutionären Notwehr gegen die Übergriffe des ("faschistischen") Staates und seiner Repressionsorgane. In der Sache kam sie jedoch nie über eine "Analyse" hinaus, die am Kapitalismus seine Monopolisierungstendenzen bemängelte und Faschisierung als Präventivprogramm gegen Aufstandstendenzen der Massen begriff. Womit ihr Antifaschismus bis hin zum darin angelegten Bündnis mit den Massen mit dem demokratischen Programm der DKP größtmögliche Gemeinsamkeiten hatte.

Das praktische Bedürfnis nach effektivem Angriff auf Nazinester ließ die in autonomen Kreisen immer wieder aufflammende Organisationsdebatte zu einem Dauerbrenner werden, doch setzte sich das autonome Selbstverständnis klandestiner "Zusammenhänge" immer wieder durch. Das jetzt zu beobachtende unmittelbare Anknüpfen am kommunistischen Parteikonzept ist das Ergebnis des völligen Wegbrechens jedes bewegungspolitischen Ansatzes außerhalb der Antifa nach 1989, verbunden mit der gewachsenen Attraktivität traditioneller ML-Positionen nach dem Untergang der DDR, mit deren Staatsantifaschismus man sich früher auf gut westdeutsch nie gemein machen wollte.

Solang die Mörder leben auf der Welt

Die Ehrung der Toten geht einher mit dem trotzigen Durchhaltewillen, wie er sich in Ernst Buschs Nachkriegssong "Solang die Mörder leben auf der Welt" ausdrückt, in dem die Seelen der ermordeten Kommunisten als Rauch aus dem Kreamtorium mahnend über dem Land liegen, solange nicht mit den Mördern und ihren Nachfolgern abgerechnet wird.

Die Ernst-Busch-Fan-Gemeinde ist vor der Botschaft dieses Lieds zwar erschauert, hat aber keine Rückschlüsse auf das Land der Mörder gemacht. Im Einverständnis mit dem Sänger wußte sie zu unterscheiden zwischen wirklichen Mördern (Nazifunktionären, Industriemagnaten, Junker und KZ-Wächter) und unfreiwilligen, die man als Mitläufer oder Verhetzte einstufte und zu erziehen gedachte. Dabei wußten gerade Kommunisten der Generation Ernst Buschs, daß sie sich etwas vorlogen.

Liebknecht und Luxemburg hatten noch einigen Grund, von der Verhetzung des Proletariats durch seine Führung auszugehen. Das bestätigten nicht erst die Ereignisse von 1918/19 sondern schon der 1. Mai 1916 in Berlin und zahlreiche andere Bekundungen mangelnden Patriotismus. Ihre Reduzierung der Mörder auf eine Herrschaftsclique und ihre willfährigen Mordgesellen offenbarte wenigstens einen Teil der Wahrheit. Buschs Lied steht für die Übereinkunft der Kommunisten, die Cliquentheorie von 1914 über 1933 hinaus zu verlängern. Es bleibt beim Hauptfeind im eigenen Land und schweigt von der Volksgemeinschaft.

Die pathetische Anklage, daß immer noch Nazimörder auf der Welt lebten, nicht in die evidente Wahrheit "wir leben in einer Welt von Mördern" umkehren zu können, macht auch den Fixpunkt einer Rächerhaltung an den angeblich wenigen unmittelbar Schuldigen aus. Nie wirklich mit den Verhältnissen aufgeräumt zu haben, die Auschwitz und Dachau bedingten, ging einher mit dem Weißwaschen der eigenen Klientel und führte zur um so haßerfüllteren Anklage gegen jene führenden Nazis, derer man nicht habhaft wurde.

Daß die Reihe der Märtyrer mit Liebknecht und Luxemburg eröffnet wird, ist konsequenter Ausdruck eines fatalen Geschichtsbildes. Die Volksgemeinschaft, die im Faschismus aufging, begann sich im Januar 1919 erst herauszubilden. Liebknechts und Luxemburgs Ermordung erfolgte mithin tatsächlich eher auf Geheiß einer Clique und war nicht durch die begeisterte Zustimmung des ganzen Volkes gedeckt. Die Januarmorde von 1919 begangen von den Killern einer siegreichen Konterrevolution gleichzusetzen mit dem Mordprogramm ab 1933, macht die eigentliche Geschichtsverzerrung aus. Man darf nicht zugeben, daß die Niederlage von 1933 eine totale war und von der revolutionären Arbeiterklasse danach noch weniger übrig geblieben war als von den kommunistischen Kadern. Der Rosa-und-Karl-Kult nach 1945 dient dazu, den Gleichschritt aller Deutschen ab 1933 beim Vernichtungsfeldzug nicht nur gegen aktive Kommunisten vergessen zu machen und so die "dialektische" Legende vom Proletariat und seiner Avantgarde aufrecht zu erhalten.

Mit der justizförmigen Schuldzuweisung an bestimmte Verantwortliche (die in jedem Fall auch verantwortlich waren), präsentierte sich der staatgewordene Antifaschismus als Vollstrecker der Gerechtigkeit. Ein Antifaschismus, der in der bloßen Personalisierung des Schreckens sein "Nie wieder!" ertönen ließ und als Bollwerk Staat und Partei vorwies, deren Personal oft nur durch einen Zufall überlebt hat. Hinter der personellen Integrität des Antifaschismus schlummert seine objektive Komplizenschaft mit dem Unheil. Je schmutziger die Kumpanei mit Volk und Nation wurde, desto herrlicher erschienen die Märtyrer und ihre Organisation, welche die Wiederkehr des Schreckens zu verhindern sich verpflichtete.

Der Auftrag

"Die Toten bleiben jung" betitelte Anna Seghers ihre 1949 erschienene antifaschistische Partei- und Familiensaga, die unversehens zur Volksdichtung geriet. Darin geistert einer, der schon auf den ersten Seiten ermordet wird, als Ahnherr eines Heldengeschlechts mahnend und beflügelnd durch die Kämpfe seiner Nachfolger. Vorgestellt als klassenbewußter Arbeiter und Kampfgefährte von Luxemburg und Liebknecht und wie jene im Januar 1919 ermordet, pflanzt er seinen Klassenauftrag, eine ominöse Mischung aus Geschichts- und Naturmetaphysik, per Sperma noch rechtzeitig in den Leib der Geliebten. Sein Sohn erfährt erst spät die Wahrheit über seinen Erzeuger, das Blut aber ist stärker und treibt ihn in die Front der Klasse, für die er im Kampf gegen die Nazis natürlich heldenhaft umkommt, nicht ohne zuvor einer Frau sich schwängernd mitgeteilt zu haben, so einen Nachwuchs heraufbeschwörend, der dann endlich in Blut und Auftrag die Saat der Toten aufgehen lassen wird.

In Seghers’ Roman wird mustergültig erzählt, was Antifaschismus bis heute noch ausmacht. Der Kampf gegen die Konterrevultion 1919 als Beginn jener langanhaltenden Geschichte der Kämpfe, die gegen Freikorps, dann gegen die Hitlerfaschisten und schließlich quasi verlängert gegen den BRD-Imperialismus, der sich seinerseits wieder auf unmittelbaren Terror zu stützen gezwungen sieht (zum Beispiel in Form von Industriespionage und Sabotage zum Nachteil der DDR, wie Seghers in ihren späten Romanen "Das Versprechen" und "Das Vertrauen" zu berichten weiß). Die Niederlage 1919 entsprang danach dem Verrat der mehrheitssozialdemokratischen Führung und dem Terror der herrschenden Klasse, die sich beide der Freikorps bedienten. Der Faschismus war schließlich eine Folge dieser die Niederlage bedingenden Spaltung. Doch Anna Seghers’ literarischer Aufguß parteikommunistischer Geschichtsschreibung und Heilserwartung ist eine biologische Konstante eingeschrieben und das nicht zufällig.

Die Ernennung eines Bevölkerungsteils zur qua sozialer Stellung mit Notwendigkeit zur revolutionären Vollendung der Geschichte berufenen Klasse, war schon vor dem ersten Weltkrieg Überzeugung jener Sozialdemokraten, die an der revolutionären Übernahme der Staatsmacht durch das Proletariat festhielten. Der Einbruch 1914 hat sie gezwungen, ihre Überzeugung mit Glauben zu festigen. Meinten der alte Engels und seine jüngeren Zeitgenossen noch, die Richtigkeit ihrer Überzeugung an den deutschen Wahlergebnissen ablesen zu können, verwiesen Spätere auf die Zunahme des Bevölkerungsanteils, der kraft sozialer Stellung entweder direkt zum Proletariat gehörte oder doch verdammt war, in ihm aufzugehen. Die bittere Erfahrung, daß das Bewußtsein der Klasse dieser Verheißung immer weiter hinterherhinkte, hatte keine Analyse der wirklichen Gründe der Niederlagen 1919ff zur Folge – wenn man einige Erwägungen in "Geschichte und Klassenbewußtsein" (Lukacs) mal beiseite läßt. Es galt einfach mehr Arbeit am Bewußtsein zu leisten, es wachzurütteln etc., was vorwiegend durch Organisation und Agitation zu leisten war. Die sich strukturell militarisierende und gleichzeitig bürokratisierende Kaderpartei war die Antwort auf die unbegriffene Unzuverlässigkeit der Massen. Ihre besten Kämpfer, zu Helden stilisierte Führer wie Liebknecht und Luxemburg und unbekannte wie Anna Seghers’ Romanheld, wurden zu Stafettenläufern verklärt, die den Auftrag, den sie durch ihren Märtyrertod noch adelten an ähnlich verantwortungsbewußte Genossen weitergaben. Die traumatisierende Erfahrung der politischen Unzuverlässigkeit der Klasse, selbst großer Teile der Kader, mußte die Standhaften umso mehr auf die moralischen Qualitäten der Unbeirrbaren fixieren. Die besondere Eigenschaft, die deren Durchhalten ermöglichte, schien von ebenso besonderem Stoff zu sein, und nichts ist dicker als Blut. Blut in der doppelten Bedeutung des Wortes: als Chiffre für Vererbung und vergossen als Zeugnis größten Heldenmuts bis in den Tod. So wurde das "vererbte" Blut zum Beweis des Führungsanspruchs der SED-Kader, die sich nicht zufällig auf den Luxemburg-Mitstreiter aus dem zweiten Glied Wilhelm Pieck einiges einbildete. Noch Honecker hat in seiner Autobiographie stolz auf den Vater hingewiesen, der zu den Gründungsmitgliedern der saarländischen KP gehörte. Das vergossene Blut wiederum war Beweis des moralischen Anspruchs auf die Führung, um die Linie der Toten fortzusetzen.

So bleiben die Toten jung, und die ganz Jungen schmieden heute mit den Uralten ihr Bündnis, wenn Emil Carlebach und Fritz Teppich als moralischer Unterpfand ihres Antifaschismus auf die Bühne geholt werden. Es waren nie allein Anerkennung oder etwa Rührung über den Mut der Alten, die so viele Zuhörer bescherten. Es ist der gespenstische Gleichklang in ideologischen Fragen, der kaum 20-jährige heute von allem Zweifel unbeeindruckt die Partei- und Kampfprogramme der KPD aus den letzten Jahren vor 1933 studieren und Ungeheuerlichkeiten wie die Organisationsdebatten der Antifa M in Göttingen oder AABO vom Zaum brechen läßt.

Die revolutionäre Organisation, die je nach Konjunktur stärker als Wahlverein oder als klandestiner Kampfverband in Erscheinung tritt, wird endgültig zum Fetisch, wo die Marginalisierung den Massenkämpfern evident wird und der reale Mißerfolg durch die Selbstbespiegelung als auserwähltes Mitglied eines zu höherem berufenen Kollektiv ausgeglichen wird. Aus Heinz Keßler, von dem man nur sagen kann, daß er als Verteidigungsminister der DDR weder gegen deutsches noch internationales Recht verstoßen hat, wird ein Märtyrer der Revolution gemacht, und auch die junge Antifa hat ihre authentischen Helden. So wurde zum Beispiel in Göttingen eine junge Frau namens Conny, deren Unfall-Tod aufs Konto der Polizei geht, nicht etwa betrauert, wie es sich für eine Freundin gehört hätte, sondern die Tote schon am Tag nach ihrem Ableben zur Genossin und szeneeigenen Rosa Luxemburg zurechtstilisiert.

Das Erbe der Partei

Die Erhöhung ihres tatsächlichen Kampfes gegen die Nationalsozialisten zur Theorie des Antifaschismus durch die revolutionäre Arbeiterbewegung geschah nicht nur rein pragmatisch. Zwar war sie nach dem 30. Januar 33 auf antifaschistische Kooperation mit Nicht-Kommunisten angewiesen. Der Versuch einer antifaschistischen Erziehung der Deutschen war indes die Verlängerung einer Nationalisierung des deutschen Kommunismus, die spätestens mit der Übernahme der Führung durch Ernst Thälmann die Linie der Partei, wenn auch nicht sofort das Gros ihrer Mitglieder, prägte. Die nationale Linie, die schließlich im Antifaschismus kulminierte, brachte den eminenten Vorteil eines praktischen und ideologischen Terraingewinns mit sich, der mit der Klassenkampfprogrammatik früherer Jahre nicht zu haben gewesen wäre. Damit ist die KPD in die größte Falle, die nichts destotrotz in ihrer eigenen Geschichte angelegt war, hineingetappt. Eine Falle, die ihr mehr noch als die physische Vernichtung ihrer erfahrensten Kader endgültig das Kreuz gebrochen hat. Kraft des gewaltigen Opfers (so nannte sie die 50.000 ermordeten Kommunisten selbst) einzige wirklich organisierte deutsche Gegnerin der Nazis, beanspruchte sie ein besonderes Anrecht auf Führung in einem antifaschistischen Bündnisprojekt. Das geriet unter ihrem Einfluß angesichts der tatsächlichen Marginalität des kommunistischen Gedankens notwendig zu einer ebenso beachtlichen Volksweißwäscherei wie die in den Westzonen betriebene Persilscheinpraxis.

Nach 1945 etablierte die DDR drüben die antifaschistische Demokratie, die ihre Versuche, ein sozialistisches Deutschland zu schaffen immer mit einem Geschichtsauftrag an das ganze deutsche Volk legitimierte, also immer nur um der besseren Gemeinschaft willen antrat; und hüben die antifaschistischen Mahner vor Aufrüstung und autoritärem Staat, die sich mit den Herrschenden um den wahren Auftrag des Grundgesetzes balgten. Beide Varianten bedurften des Verweises auf die faschistische Barbarei, um Verhältnisse herzustellen und zu stabilisieren, die weit entfernt von der Überwindung dessen waren, was den deutschen Faschismus einmal ermöglicht hatte. Beide begnügten sich mit dem warnenden Hinweis auf die immer noch nicht gänzlich beseitigte Gefahr des Faschismus und machten dabei genau das stark, was ihn erst ermöglichte, das Produktivitätskollektiv Staatsvolk. Während die DDR das Volk zunächst umerziehen wollte und schließlich einfach die Geschichte umdichtete, um das Volk auf ihre Seite zu ziehen, machte der westdeutsche Antifaschismus in Friedensbewegung (erst gegen die Wiederaufrüstung dann gegen Atomwaffen) und Demokratiemahner und trug dadurch erheblich zur Modernisierung eines postfaschistischen Modells bei, das tatsächlich keiner Nazis in der Art der Hitlerfaschisten mehr bedurfte.

Antifaschismus und soziale Frage

Hatte die KPD vor 1933 mit einem übermächtigen Feind zu tun, den sie in der Hoffnung verharmloste, ihm Teile der Klientel abspenstig zu machen, so wehrt sich die Antifa heute gegen einen Feind, der wieder jenseits der Masse in einigen hundert Exemplaren der Gattung organisierter Faschisten ausgemacht wird. Sie fandet nach braunen Netzwerken, wo die Massen zum offenen Pogrom schreiten wie in Rostock. Eine Demonstration gegen Nazizentren wie in Wurzen ist willkommener Anlaß, dem Staat grundsätzlich Packelei mit der braunen Brut zu unterstellen. In Rechtsradikaler oder neofaschistischer Gesinnung und Handlungsbereitschaft erkennt der zünftige Antifa die Praxis straff organisierter Gruppen, die ähnlich verschwörerisch agieren wie Staat und Kapital, die er sich auch nur als verbrecherische Geheimbünde zur Knechtung und Ausbeutung des Volkes vorstellen kann. Die offensichtliche Identifikation weiter Kreise der Bevölkerung von Wurzen, Grevesmühlen, Fürstenwalde etc. etc. mit ihrer aktivistischen Jugend, die in der Regel keine von außen gesteuerte Anleitung für ihre deutschen Überzeugungen benötigen, darf ihr nicht zum Hauptmerk des Interesses werden, will sie nicht ihre Unterscheidung von Auftraggebern, Verführern und Verführten aufgeben. So wie die KPD nicht verstand, daß die Nazipartei die Mehrheitsstimmung im Land repräsentierte und daß ihre eigene Programmatik diese eher begünstigte denn bekämpfte, glauben heutige Antifas, daß die aktiven Nazis durch antifaschistische Agitation von der Bevölkerungsmehrheit zu trennen seien. Die Bevölkerungsmehrheit 1996 unterscheidet sich aber wesentlich von der von 1933 nur dadurch, daß ihre völkische Gesinnung nicht auf die Errichtung eines faschistischen Staates gerichtet ist, weil es dessen längst nicht mehr bedarf. Gleichwohl erkennt sie, daß der staatliche Wille zur Errichtung von mehr Volksgemeinschaft durchaus Basis-Impulsen gegenüber empfänglich ist. Die Mehrheit artikuliert die ihr eigene Mischung aus Mitmachbereitschaft für einen erfolgreichen deutschen Weg nach innen und außen und Totschlagsbereitschaft gegen portugiesische Bauarbeiter und andere Schädlinge als soziale Frage. Hatte die KPD den Nazis attestiert, daß die geschickt die soziale Frage als eine nationale ausgaben, während man selber in dieser Disziplin Defizite hatte, verkennt die heutige Antifa, daß spätestens seit dem Triumph der Nazis die soziale als eine nationale Frage gestellt wird und versucht sich in der Inszenierung und Majorisierung von Massenprotest gegen das Bonner Spardiktat.

Damit endet das kommunistische Zwischenspiel wieder bei seiner sozialdemokratischen Wurzel. Wenn heute unter der Führung des Arbeiterführers Blüm die sozialdemokratische Solidargemeinschaft enger gegen die Bedrohung der völligen Deregulierung zusammenrückt, dann wird keine radikale Linke der Gefährlichkeit solcher Abwehrkämpfe etwas entgegensetzen. Stattdessen wird aus der grassierenden sozialen Misere der Schluß gezogen, nun müsse und könne man links von der Blüm-Linie radikalen Massenprotest gegen die Bonner Sparpolitik organisieren. Selbst wenn dies gelänge, der solchen Bestrebungen notwendig eingeschriebene Ruf nach dem Staat als Garanten sozialer Alimentierung wird sich eben als der Ruf deutscher Staatsbürger an Deutschland gerieren.

Der Antifaschismus und Franz Schandl

Das garantiert pluralistische Zentralorgan für den Mainstream links von der PDS-Mehrheitsströmung, die "junge Welt", exerziert vor, warum die Linke vom Antifaschismus und seinen massenfreundlichen Verheißungen nicht lassen kann. Natürlich verfiel ihr Ost-Experte Holger Becker im Sommer 1996 am Ende eines Kommentars über die Umtriebe der braunen Jugend auf Mecklenburgischen Campingplätzen in die Klage über geschlossene Jugendzentren und hohe Jugendarbeitslosigkeit. Warum sie aus ihrer unbestrittenen Misere nicht auf andere Umtriebe kommen, etwa zusammen mit Asylbewerbern den Supermarkt plündern, statt denselben gegen die ausländische Gefahr zu schützen, wäre die richtige Fragestellung gewesen, der er geflissentlich auswich.

Auch ein Debatten-Versuch in der "jW" über die Perspektiven des Antifaschismus nach der Wurzen-Demo im Dezember ließ die Probleme nur schwach aufblitzen. Daß der Antikapitalismus der Antifa einer ist, der den Feind im Finanzkapital sieht und deshalb der einzige Stein nicht zufällig gegen die Dresdner Bank geworfen wurde, hat Jürgen Elsässer, der den Streit eröffnet hatte, gesehen. Er warf den Antifas die bräsige Bravheit ihres Umzugs vor und beklagte die mangelnde Militanz gegen die richtigen Objekte. Sein Aufruf nach einer besseren Antifa mußte jedoch genauso ins Leere gehen wie der Versuch, der PDS oder ihrer kommunistischen Plattform eine antideutsche Ausrichtung anzuempfehlen. Das Übel in den "Browntowns" ist wirklich nur handgreiflich zu bekämpfen. Aber das wäre trotzdem kein Angriff gegen den Neo- oder sonstigen Faschismus, sondern Ausdruck des Kampfes gegen eine Spielart der allgemeinen deutschen Verhältnisse.

Den Abschluß des "jW"-Disputs machte ein Kommunist, der teilweise richtig zu argumentieren schien: "Wer in den Faschisten eine Hauptgefahr wahrnimmt, kann die wirklichen Elementarprozesse des demokratischen Auseinanderbrechens und der barbarischen Zersetzung bürgerlicher Formprinzipien nicht mehr richtig deuten und bewerten. Somit die wirklichen Gefahren, die von der Mitte der Gesellschaft ausgehen, demnach gerade von Marktwirtschaft und Freiheit, Geld und Demokratie herrühren, nicht mehr adäquat erfassen. Das alles ist grauslich, hat aber mit Faschismus nichts zu tun." Diesen Sätzen Franz Schandls (jW, 19.12.96), der seine Einsichten aus den Glaubensbekenntnissen der österreichischen KPÖ und der Wertkritik der Nürnberger Zeitschrift "krisis" zusammengebraut hat, wäre beizupflichten, wenn sie nicht zur Legitimierung der Haltung der neuen deutschen Jugend dienten: "Die Getretenen treten zurück, da sie aber – und dies sei unwidersprochen – in die falsche Richtung treten, ist in Elsässers Folgerung noch mehr auf sie einzutreten, anstatt ernsthaft die Bedingungen zu diskutieren, wie sie sich aus diesem fatalen Kreislauf lösen könnten. Dieser und die ihr zugrunde liegende Logik der Kapitalverwertung müssen also zum fundamentalen Kritikpunkt werden, nicht die braunen Umtriebe." Wo der Wertkritiker, ganz in der Tradition der Nürnberger Schule, die Wurzel des Übel in Demokratie und Marktwirtschaft ausmacht (ohne freilich zu Staats- und Ideologiekritik auch nur im mindesten befähigt zu sein), ist ihm beizupflichten. Wenn er aber schon ein paar Sätze vorher das "Grausliche" zum bedauerlichen, aber korrigierbaren Fehlverhalten zurechtstilisiert, dem er immerhin die sympathische Qualität des "Zurücktretens" attestiert, landet er genau dort, wo mit anderem theoretischen Hintergrund die KPD ihr Programm zur sozialen und nationalen Befreiung formulierte. Und wenn er auch mit einigem Recht eine sehr grob geschnitzte antideutsche Haltung lächerlich macht, die das Schlagwort "Kraft der Negation" zu hilflosem Bekennertum mißbraucht und kraftmeierisch zum handfesten Widerstand gegen die gesamte Bevölkerung aufruft, wieviel falscher und vor allem wie perfide ist sein Eintreten für die Täter, die pathetisch als "Getretene" firmieren und nur der Erlösung aus dem fatalen Kreislauf der Gewalt harren. Wenn Schandl eine nicht näher ausgeführte "emanzipatorischen Praxis" empfiehlt, in der Antifaschismus keine Rolle habe, lernen wir zweierlei. Erstens daß er notwendig in der Volksgesundbetung via sozialer Frage angekommen ist und zweitens, daß unter dem Markenzeichen Wertkritik der gleiche Unsinn verkauft werden kann, wie unter dem des Antifaschismus.

Man kann das Erbe der ewig jungen Toten schließlich nennen wie man will, Verpflichtung zum "antifaschistischen Kampf" oder etwas feiner zu "emanzipatorischer Praxis", solange die willigen Vollstrecker, verständnisvoll als Getretene aus der Schußlinie genommen und nicht als freiwillige Mitglieder des "Nationalvereins freies Deutschland" kritisiert werden, wird die Stafette des Auftrags fürs falsche Programm weitergegeben werden.

Justus Wertmüller (Bahamas 22 / 1997)

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