"Daß Könige philosophieren, oder Philosophen Könige würden, ist nicht zu erwarten, aber auch nicht zu wünschen; weil der Besitz der Gewalt das freie Urteil der Vernunft unvermeidlich verdirbt. Daß aber Könige oder königliche (sich selbst nach Gleichheitsgesetzen beherrschende) Völker die Klasse der Philosophen nicht schwinden oder verstummen, sondern öffentlich sprechen lassen, ist beiden zu Beleuchtung ihres Geschäfts unentbehrlich und, weil diese Klasse ihrer Natur nach der Rottierung und Klubbenverbündung unfähig ist, wegen der Nachrede einer P r o p a g a n d e verdachtlos" – so Immanuel Kant im Jahre 1795. (1) Gute alte Zeit, in der man Intellektuelle der Verbreitung bloßer Propaganda für unfähig hielt und sich voller Zuversicht auf die Macht der Aufklärung verließ. Im Jahre 1999 möchte man der Klasse öffentlich-rechtlicher Intellektueller so vorbehaltlos nicht mehr trauen. Entschiedener noch als im Bosnienkrieg haben sie von Enzensberger über Grass zu Habermas die Lüge von KZs und Völkermord im Kosovo übernommen und statt eines entschlossenen "Sapere aude!" (2) den für die Kriegsführung notwendigen Konsens an der Heimatfront erst möglich gemacht.
Dennoch hatte der Königsberger Philosoph mehr recht, als ihm lieb sein konnte. Tatsächlich sind deutsche Intellektuelle einer Rottierung und Klubbenverbündung von je her unfähig gewesen. Jakobinische Umsturzversuche waren ihnen schon immer ein Greuel und die Wahrnehmung nationaler Aufgaben eine freudig sich selbst auferlegte Pflicht. In Zeiten des Krieges heißt nationale Verpflichtung, der Kriegsführung die nötige Legitimation zu verschaffen. Nicht jedem ist diese Fähigkeit gegeben – aber Jürgen Habermas hat diese Aufgabe in der Zeit vom 29. 4. 1999 im wahrsten Sinne des Wortes vorbildlich (3) gelöst und den Rechtsbruch in Form einer Intervention ohne UN-Mandat zu einer zwar rechtlich bedenklichen, aber gleichwohl aus zivilgesellschaftlichem Erfordernis gebotenen Handlung erklärt. Über den spontanen Beifall hinaus hat der Philosoph dem Rechtsbruch aber auch noch eine Legitimation ganz eigener Art erteilt und ihm die höhere Weihe einer im eigentlichen Sinne rechtmäßigen Handlung verliehen, nämlich als Präzedenzfall auf dem Weg einer "Transformation des Völkerrechts in ein Recht der Weltbürger", worunter die Suspendierung des Prinzips staatlicher Souveränität zugunsten der von Nationalstaaten verfolgten Minderheiten zu verstehen sei. Dem nationalstaatlichen "Stachel im Fleisch der Menschenrechtspolitik" (Habermas) soll künftig mit einer international verbindlichen Kodifizierung von Menschenrechten begegnet werden – auf daß sich der rechtsbrüchige Schnellschuß post festum doch noch als rechtens erweise.
Demgegenüber hat die Bremer Professorin Sybille Tönnies die deutschen Befürworter einer Bombardierung Jugoslawiens scharf attackiert. Ausgerechnet sie, die eine Wiedereinführung des Arbeitsdienstes nach NS-erprobtem Muster öffentlich befürwortet hatte, wird nun aufgrund ihrer scheinbar kompromißlosen Kritik an den deutschen Interventen selbst von linksradikalen Zeitschriften wie KONKRET hofiert. Tatsächlich hat sich Tönnies zu Kriegsbeginn weit aus dem Fenster gelehnt. Gemeinsam mit vierzig weiteren Juristen hat sie Strafanzeige gegen die deutsche Regierung wegen Vorbereitung eines Angriffskrieges nach § 80 Strafgesetzbuch gestellt und sich für eine Anklage der Bundesregierung vor dem internationalen Strafgerichtshof stark gemacht. Zu Recht hat sie festgestellt, daß der Angriff auf Jugoslawien ein Präzedenzfall ist: "Das NATO-Bombardement ist ein Rückfall nicht nur gegenüber dem modernen, sondern auch schon gegenüber dem klassischen Völkerrecht. Wie im status naturalis stehen sich die Völker wieder wie Wölfe gegenüber." (FAZ, 7. 6. 1999) Seitdem gilt sie den Kriegsgegnern von CDU bis PDS als letzte Bastion des Rechts inmitten einer vom Rückfall in die Barbarei bedrohten Welt.
Indessen stehen beide Positionen zueinander nur scheinbar in Widerspruch. Denn nicht nur Habermas fordert eine Stärkung der UN gegenüber dem Prinzip der nationalstaatlichen Souveränität sowie die Anerkennung subjektiver Rechte gegenüber dem formalen Staatenrecht. Auch Tönnies hält das Einklagen des völkerrechtlichen Status Quo nicht für der Weisheit letzten Schluß. Der Angriff auf Jugoslawien wäre ihrer Auffassung nach nämlich dann zu etwas gut gewesen, wenn er zu einer künftigen Stärkung der UNO führt. "Vor der Geschichte wird sich dieser Akt nur rechtfertigen können", so Tönnies, "wenn er die beschleunigte Einrichtung eines weltweiten Gewaltmonopols zur Folge hat." (FAZ, 7. 6. 1999) Auf geradezu idealtypische Weise hat Tönnies damit die pazifistische und linke Kritik an der Bombardierung Jugoslawiens zusammengefaßt. Der Angriff auf einen souveränen Staat samt der Zerstörung von Straßen, Schulen, Krankenhäusern sowie der unvermeidlichen Kollateralschäden wäre nämlich auch nach Auffassung der meisten Interventiongegner eigentlich pc gewesen – hätte nur die UNO dafür das Mandat erteilt.
Noch kurz nach der Bundestagswahl hatten konservative Geister eine solche Auffassung für die Ausgeburt einer rot-grünen Wahnvorstellung gehalten und das schon in den Koalitionspapieren zitierte "Gewaltmonopol der UN" erstens als nicht existent und zweitens dessen Einforderung als Sanktionierung eines internationalen Faustrechts vorgestellt. (FAZ, 24.10.1998) Denn nach wie vor setzt die UNO das von Habermas angefeindete Prinzip der nationalstaatlichen Souveränität gerade nicht außer Kraft. Im Gegenteil: Zugrunde liegt der Charta der Vereinten Nationen das Prinzip des Interventionsverbots in die Angelegenheiten souveräner Staaten, und sämtliche von der UN beschließbaren Maßnahmen sollen zur Anerkennung und Aufrechterhaltung des nationalstaatlichen Bestandes dienen. Freilich liegt in dieser Ermächtigung zur Gewaltanwendung bereits ein offenkundiger Widerspruch: Zur Aufrechterhaltung des Prinzips der Souveränität ist zuweilen – siehe zweiter Golfkrieg – die praktische Aberkennung von Souveränität geboten. Darüber hinaus kennt die UNO die Legitimation für eine Intervention aus Gründen der Friedenssicherung. Für deutsche Juristen ist dies allein eine Frage der Interpretation: So wurde schon von diversen Juristen in der FAZ unter dem Stichwort "Stabilität der Region" die serbische Innenpolitik aufgrund der kosovarischen Flüchtlingsströme zum Angriff auf den gesamten Balkan zurechtinterpretiert.
Doch selbst wenn sich die deutsche Vision eines "UN-Gewaltmonopols" nie durchsetzen sollte, ist das in der Charta der UN kodifizierte Völkerrecht in seiner noch heute gültigen Fassung kein Schutz vor dem Faustrecht schlechthin. Die der UNO zugeschriebene Rolle als einer über den Interessen von Nationalstaaten stehenden neutralen Instanz ist nichts anderes als eine Fiktion: eine nostalgische Reminiszenz an die Zeiten der Blockkonfrontation, als die den jeweiligen Blöcken zugehörigen Staaten angesichts der Erkenntnis ihrer relativen Schwäche gegenüber dem Feind auf die hemmungslose Verfolgung ihrer nationalstaatlichen Interessen noch verzichten mußten. Mit dem Ende dieser überschaubaren Zweiteilung der Welt ist die Neutralität als Merkmal der UNO endgültig Fiktion. Die Gremien der UN bewegen sich zu ihrem logischen Endpunkt zurück: zu einem Forum, in dem die sie konstituierenden Nationalstaaten auf eigene Faust agieren und in dem der Krieg aller gegen alle nur solange auf Sparflamme köchelt, bis dieser oder jener Staat die Risiken einer Eskalation für kalkulierbar hält.
Dieses Problem haben Habermas und Tönnies keineswegs übersehen. Als Philosophen mit starker Vorliebe für die Rechtswissenschaft wissen sie beide nur zu gut, daß im Falle fehlender Souveränität die Gewalt entscheidet und das Einklagen von Rechten ein frommer Wunsch bleibt, wenn es an Möglichkeiten zu ihrer Durchsetzung fehlt. Eben diese Problem gilt es zu lösen; eben darum der gemeinsame Rekurs auf Kant. Erwartungsgemäß kann dieser Rekurs zu nichts anderem als zu einer Pervertierung des Kantschen Traums vom ewigen Frieden führen. Kant hatte das Dilemma, vor dem unsere beiden Denker stehen, bereits mustergültig formuliert. Schon zu seinen Lebzeiten war die bürgerliche Gesellschaft nicht das, was sie nach seiner Auffassung hätte sein sollen. Ganz im Gegensatz etwa zum Optimisten Rousseau war sich Kant bewußt, daß die Verfaßtheit der bürgerlichen Gesellschaft weder ewigen Frieden noch gesellschaftliche Harmonie verbürgt, sondern daß ein latenter Krieg aller gegen alle herrscht – mit der beständigen Gefahr einer Eskalation. Seine dezidierte Ablehnung von Glück in Form materieller Erfüllung war dabei von Anfang an nicht nur gegen die feudale Gesellschaft gerichtet, die ihren Subjekten die vollständige personale Beherrschung mit endlosen Feiertagen und der Durchfütterung der Alten und Kranken versüßte. Kants Mißtrauen erstreckte sich auch auf jeglichen Anspruch auf individuelles Glück, wie er erst auf der Basis der entfesselten Warenproduktion ensteht. Nicht zuletzt der jakobinische terreur hatte ihm bedeutet, daß solchen Flausen ein für alle Mal ein Ende zu bereiten sei, und so bot sich ihm seither die Rechtsstaatlichkeit als Surrogat für den Anspruch auf ein befreites Leben an. Zur Befürwortung einer mit allen Befugnissen ausgestatteten Exekutive ist sich Kant ja nie zu schade gewesen.
Was sich aber im staatlichen Inneren noch durch eine solche Exekutive zumindest eindämmen ließ, bereitete dem Philosophen im zwischenstaatlichen Bereich weitaus größere Probleme. In der Schrift "Zum ewigen Frieden" zerbrach sich Kant den Kopf über die Möglichkeit einer Dezision im Falle sich widerstreitender nationalstaatlicher Interessen, mußte aber resigniert feststellen, daß eine solche Lösung nicht kodifizierbar ist. Die entsprechende Passage schließt mit der Erkenntnis, daß auch ein Völkerbund (wie die UNO) den kriegerischen Ambitionen von Einzelstaaten keine rechtliche Substanz entgegenzusetzen vermag: "Da sie dieses (den freiwilligen Gewaltverzicht – T. H.) aber nach ihrer Idee vom Völkerrecht durchaus nicht wollen, mithin, was in thesi richtig ist, in hypothesi verwerfen, so kann an die Stelle der positiven Weltrepublik (wenn nicht alles verloren werden soll) nur das negative Surrogat eines den Krieg abwehrenden, bestehenden, und sich immer ausbreitenden Bundes den Strom der rechtsscheuenden, feindseligen Neigung aufhalten, doch mit beständiger Gefahr ihres Ausbruchs (Furor impius intus – fremit horridus ore cruento. Virgil)." (4)
Zum Thema "Weltbürgergesellschaft" war also bei Kant im Grunde schon alles gesagt. Und das gleich in doppelter Hinsicht: Er konnte außer der Möglichkeit bloßer Gewaltanwendung keinen Ausweg aus dem innen- wie außenpoltischen bürgerlichen Dilemma zeigen, und sein Ideal der gesellschaftlichen Harmonie, an dem er so beharrlich festhielt, wußte er nirgendwo rechtlich zu fixieren. An diesem Dilemma setzen nun die Tönnies und Habermas an zu einem Zeitpunkt, an dem die "Weltbürgergesellschaft" tatsächlich existiert – wenn auch in einer anderen als in der von Kant erhofften Form. Zwar hat das Ende des Ost-West-Konflikts die – meist unter dem modischen Stichwort "Globalisierung" firmierende – durch keine staatlichen Grenzen mehr aufgehaltene Totalisierung des Kapitalverhältnisses samt des dazugehörigen menschlichen Inventars gebracht. Die Bewohner der "globalisierten" Welt sind Bürger im präzise rechtsstaatlichen Sinn. Ohne staatliche Protektion dem Markt ausgesetzt, registrieren sie durchaus, daß dies nicht zu ihrem Vorteil ist. Ihnen hat das Ende der realsozialistischen Ökonomien keinen Wohlstand gebracht, und im Gegensatz zu Kants Lebzeiten dürfen die Insassen der neuen europäischen Armenhäuser getrost annehmen, daß dazu auch keine Aussicht mehr besteht. So mutiert der Bürger unversehends zum Söldner: Wo keine Hoffnung mehr auf eine Verbesserung der Lebensverhältnisse existiert, bleibt nichts anderes mehr übrig als die Flucht in das Raubrittertum.
Stellvertretend für alle diese marodierende Banden mag der General Agim Ceku stehen. Der erlernte sein kriegerisches Handwerk zunächst in der jugoslawischen Armee. Als die jugoslawische Bundesrepublik sich in ihre Einzelteile auflöste, folgte er dem Verfall buchstäblich auf dem Fuß. Zunächst organisierte er als General der kroatischen Armee und enger Vertrauter Tudjmans die Vertreibung der Serben aus der Krajina. Anschließend erweiterte er seine militärischen Erfahrungen in der bosnischen Armee. Die vorläufig letzte Station bildete schließlich der Kosovo: Als besonders erfolgreiches Exemplar von mehreren hundert kosovarischen Offizieren, die sich vor der Entdeckung ihrer kosovarischen Identität bereits in der jugoslawischen, slowenischen, kroatischen und bosnischen Armee verdingten, wurde er dort Anfang Juni zum Generalstabschef der UCK ernannt. Im denkbar grellsten Kontrast zur Kantschen Utopie repräsentiert Agim Ceku den Idealtypus eines real existierenden Weltbürgertums: deklassierte Bürger, die sich die Zerschlagung von Grenzen und der dahinter lebenden Gesellschaften zur Aufgabe machen und so die Vision eines Europa ohne Grenzen gegen fremdstaatliche Alimentierung praktizieren.
Daraus folgt: Das Ende des Prinzips der Nationalstaaterei geht mit der "Globalisierung" mitnichten einher. Für die noch funktionierenden Ökonomien gilt nach wie vor, daß die kapitalistische Verwertung ihrer innerstaatlich-rechtlichen ebenso wie ihrer außerstaatlich-militärischen Absicherung bedarf. Für die kollabierenden Ökonomien aber gilt, daß der Wunsch nach Teilhabe an den immer spärlicher fließenden Quellen des Reichtums zu immer idiotischeren und immer brutaleren Verteilungskämpfen führt. Der Nationalismus resultiert hier nicht nur aus der schlichten Vorstellung, wonach das Niederreißen alter und Errichten neuer, immer zahlreicherer Grenzpfähle ein Garant für prosperierende Ökonomien sei, sondern mehr noch aus der durch die Erfahrung des letzten Dezenniums gewonnenen Erkenntnis, daß dieser Versuch internationale Aufmerksamkeit und brüderliche Hilfe von Seiten befreundeter imperialistischer Staaten mit sich bringt. Für letztere ergibt sich daraus gleich doppelter Handlungsbedarf: einerseits dafür zu sorgen, daß die ganze Sache nicht außer Kontrolle gerät und z. B. das "balkanesische Pulverfaß" zum bewaffneten Konflikt zwischen den die UN dominierenden Staaten führt, andererseits die Chance, auf die nach Intervention schreienden nationalistischen Führer politischen Einfluß zu gewinnen – auch wenn sich dabei weder vorab noch danach sagen läßt, wozu das eigentlich gut sein soll.
Wer sich also wie Habermas und Tönnies 1999 emphatisch auf die Weltbürgergesellschaft beruft und derart die Mutation von Bürgern zu Söldnern befördert, muß mehr als nur einfach nicht bei Groschen sein. Nolens volens ist er nationaler Ideologe – auch wenn ihm subjektiv vielleicht nicht an der Etablierung einer neuen deutschen Groß- und Interventionsmacht und dafür alles an der Befriedung ökonomisch ruinierter Gebiete gelegen ist. Dennoch manifestiert sich an diesen Meisterdenkern nationale Ideologie in unverhüllter Form. So scheint es zum Beispiel ein deutsches Spezifikum zu sein, noch die gräßlichsten Dinge in rechtliche Formen zu pressen. Zu diesen Gräßlichkeiten gehört nicht zuletzt das Prinzip der Willkür, also die Suspendierung geltenden Rechts zugunsten eines im Grundgesetz verankerten "Wertekerns", der sogenannten freiheitlich-demokratischen Grundordnung, mit der sich bis hin zur gezielten Liquidierung innenpolitischer Feinde alles rechtfertigen läßt. Für diese Werteordnung hat sich Habermas immer erklärt, auch wenn ihm die konkrete Anwendung nicht immer behagte; darum ist es auch müßig, seine Ausführungen zum Thema "Menschenrecht" in einen Gegensatz zu seiner verfassungskonformen Haltung zu bringen: Der Bruch der "Buchstaben des Gesetzes" ist im Verfassungspatriotismus eines Habermas schon längst enthalten. Im Gegensatz zu Tönnies und ihrem aufgeregten Verweis auf Rechtsbruch und Willkür verhält sich Habermas also überaus konsequent. Er setzt sich für die Internationalisierung des postfaschistischen Deutschlands ein und empfiehlt das deutsche Rechtsstaatsmodell der ganzen Welt.
Der praktische Vorteil dieses Unterfangens liegt auf der Hand. Erst mit ihrer Kodifizierung lassen sich die Minderheiten- und sonstigen ethnischen "Rechte" in einen offenen Gegensatz zu staatlichen Rechten bringen. Wie zum Beweis dafür, daß es im Spätkapitalismus keiner Philosophen, sondern nur noch Politiker bedarf und erstere also keineswegs mehr "zur Beleuchtung des Geschäfts unentbehrlich" sind, hatte sich Günther Verheugen (SPD) schon vor Beginn des Kosovokriegs über den russischen "Mißbrauch des Vetorechts" empört und die zutiefst metaphysische Frage nach dem Recht auf den Gebrauch von Rechten gestellt. Mit einer Festschreibung von subjektiven Rechten als rechtlicher Substanz der UNO wäre dieses Problem auf deutsche Weise gelöst. Denn dann gäbe es die von Habermas beklagte "Schere zwischen der Legitimität und der Effektivität" nicht mehr und wäre auch ein Angriffskrieg nicht mehr der an Jugoslawien exemplarisch exekutierte bloße "Vorgriff" auf einen künftigen Rechtszustand, dem man – wie sich Habermas ausdrückte – mit militärischer Gewalt "Nachachtung" verschaffen muß.
Bei allem praktischen Nutzen einer solchen Verrechtlichung sind es jedoch Gründe jenseits imperialistischer Interessen, die eine Internationalisierung des deutschen Modells ermöglichen. Es ist die Garantie des Erfolgs, die im zum Export empfohlenen Modell Deutschland beschlossen liegt. Als rechtliche Fixierung der Volksgemeinschaft in zeitgemäßer Form war der freiheitlich-demokratischen Grundordnung dieser Erfolg bislang nur in Deutschland beschieden. Eingeschrieben ist ihr die nazistische Formel, daß Gemeinnutz allemal vor Eigennutz gehe und daß sich der Einzelne den Erfordernissen der staatlichen Gemeinschaft bedingungslos zu unterwerfen habe. Die FdGO ist die rechtliche Umsetzung der Erkenntnis, daß die Staatsbürger zumal in Zeiten der Krise nur noch die kollektive Sorge um den völkischen Bestand zusammenhält. Im postfaschistischen Deutschland bedarf diese Unterwerfung keines Zwanges mehr. Aus tiefer Einsicht in die Notwendigkeit hat das deutsche Kollektiv die Richtigkeit des Satzes vom Gemeinnutz anerkannt und das Kantsche Ideal einer zwanglosen Herrschaft des Gesetzes durch Verinnerlichung wahr gemacht.
Als Garant für stabile Verhältnisse im Inneren wurde das deutsche Modell zwar schon immer auch vom Ausland bewundert. Seine eigentliche Wertschätzung erfährt es aber erst jetzt, und das nicht nur im Inneren, wo sich mittlerweile alles zum Standort Deutschland bekennt. Von italienischen und französischen Gewerkschaften wird das deutsche Modell der staatlichen Anerkennung und Moderation legitimer – also gemeinschaftsstiftender – Interessen den eigenen Regierungen empfohlen. Und auch Daniel Goldhagen wußte nach all seinen Erkenntnissen über die deutsche Volksgemeinschaft nichts erfreulicheres über den NS-Nachfolgestaat zu berichten, als daß sich jener seit 1945 als erstaunlich stabil erwiesen hat. Genau für diese Erkenntnis wurde Goldhagen der Demokratiepreis eines Blättchens zur Beförderung des demokratischen Sozialismus in Deutschland verliehen. Die Preisrede hielt – natürlich – Jürgen Habermas. (5) Über den Beifall der Ideologen der noch einigermaßen stabilen Ökonomien hinaus mag dem deutschen Krisenlösungsmodell jedoch auch in anderen Regionen der Welt noch eine große Zukunft beschieden sein. Für die weltweiten Modernisierungsverlierer genießt das Versprechen vom american way of life ohnehin erheblich weniger Glaubwürdigkeit als seine deutsche Version. Im Gegensatz zu jenem hält das deutsche Modell, was es verspricht: Es gaukelt keine luftigen Trugbilder von mühelos erworbenenen Reichtümern vor, sondern setzt auf nichts als eisernen Durchhaltewillen und völkische Identität. Als perpetuum mobile politischer Herrschaft ist die Irrationalität der deutschen Ideologie der adäquateste Ausdruck einer Ökonomie, die sich als Selbstzweck setzt und jeden menschlichen Einspruch zum Verbrechen wider die menschliche Natur erklärt.
Mögen sich die kosovarischen Söldner neben den deutschen auch mit US-amerikanischen Flaggen schmücken – ideologisch genießt Deutschland die Lufthoheit. Diese Karte auch wirklich auszuspielen und das deutsche Modell exportreif zu machen, ist die noch ausstehende Aufgabe der BRD. Den passenden Ideologen hat sie in Habermas schon gefunden. Seine Forderung nach einer internationalen Anerkennung von "Menschenrechten" ist nichts anderes als die Sanktionierung jedes völkischen Gemetzels als Voraussetzung für die zivilgesellschaftliche Friedhofsruhe danach.
Tina Heinz / Felix Mauser (Bahamas 29 / 1999)
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