Titelbild des Hefts Nummer 30
When Krauts Talk
Heft 30 / Winter 1999
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Der Zwang zu protestieren

Zum Verhältnis von interesseloser Theorie und Kritik

Kritischen Geistern ist der eigene Erfolg unheimlich. Eine Konferenz mit 300 Teilnehmern veranstalten zu können, ohne auf Bündnispartner angewiesen zu sein, drängt den Erfolgreichen sofort die Frage auf, ob es an der ihnen zugeschrieben Aura liege, nämlich linke Popstars, gar Theorie-Päpste zu sein. Die Frage muß sich aufdrängen, ob die eigene Waffe etwa stumpf sei und ob nicht, wenn die Protagonisten Kritik meinen, auf der anderen Seite im besten Falle Weiterbildung erwartet wird oder ein skandalträchtiges Event. Vielleicht ist ja auch das antideutsche Unternehmen nicht mehr als eine linke Volkshochschule mit angegliederten Publikationsorganen, das sich in gockelhafter Konkurrenz zu anderen Möchtegern-Hegemonisten um die kleiner werdende linke Schar rauft.

In theoriebewußten Zeiten wie diesen ist die Frage nach dem Verhältnis von Kritik und Theorie alles andere als ein Luxus. Die Zunahme theoriekonsumierender Bescheidwisser im linken Spektrum hat zur Schärfung der Kritik der politischen Ökonomie nichts beigetragen. Theorie wie sie im Zeichen der Postmoderne auf den Markt getragen wird, ist zum Schimpfwort geworden. Immer schon hat der Alltagsverstand Theorie mit überflüssigem, unverständlichem und letztlich der Herrschaftssphäre zuzurechnendem Tun identifiziert. Und immer schon schwang im unüberhörbaren Ressentiment gegen die Zumutungen des Denkens das Wissen um die Macht der Distinktion mit, wie sie sich in wirklicher oder noch im Wartestand verharrender Herrschaftssprache äußert. Wo Theorie sich nicht als Kritik der Herrschaft ausweist, nicht in unversöhnlicher Ablehnung alles Bestehenden Waffe sein will für die vollständige Beseitigung der demokratischen Vergesellschaftung, hat der Alltagsverstand Recht, wenn er sie mit Herrschaft identifiziert. Das Verhältnis zur “verstellten Praxis”, zum eigenen unglücklichen Bewußtsein und zum häufig genug prekären Kampfplatz, auf dem die kritischen Fehden ausgetragen werden, treibt kritische Theoretiker deshalb dauernd um. In der Abgrenzung von der interesselosen Theorie wird wachsam das eigene Tun zu überprüfen sein. Bestimmte Spielarten wertkritischer Theorie zum Beispiel können des hohen Niveaus der Abstraktion zum Trotz – Robert Kurz und seine Mitstreiter bestätigen es unfreiwillig – genauso folgenlos konsumiert werden wie sonst nur der Dekonstruktionsmüll französischer oder slowenischer Meisterdenker und ihrer deutschen Adepten.

Herbert Marcuse und Andreas Baader

“In dem Maß, in dem die antagonistische Gesellschaft sich zu einer ungeheuren repressiven Totalität zusammenschließt, verlagert sich sozusagen der gesellschaftliche Ort der Negation. Die Macht des Negativen erwächst außerhalb dieser repressiven Totalität aus Kräften und Bewegungen, die noch nicht von der aggressiven und repressiven Produktivität der sogenannten Gesellschaft im Überfluß erfaßt sind, oder die sich von dieser Entwicklung schon befreit und deshalb die historische Chance haben, einen wirklich anderen Weg der Industrialisierung und Modernisierung, einen humanen Weg des Fortschritts zu gehen. Und dieser Chance entspricht die Kraft der Negation innerhalb der Gesellschaft im Überfluß, die gegen dieses System als Ganzes rebelliert. Die Kraft der Negation, wir wissen es, ist heute in keiner Klasse konzentriert. Sie ist heute noch eine chaotische, anarchische Opposition, politisch und moralisch, rational und instinktiv: die Weigerung, mitzumachen und mitzuspielen, der Ekel vor aller Prosperität, der Zwang zu protestieren. Es ist eine schwache, eine unorganisierte Opposition, die aber doch, glaube ich, auf Triebkräften und Zielsetzungen beruht, die mit dem bestehenden Ganzen in unversöhnlichem Widerspruch stehen.” (Marcuse auf dem Prager Hegel-Kongreß 1966. Hervorhebung: jw.)

Das ist der Standort kritischen Theoretisierens, wie er noch bis 1989 – wenn auch immer schwächlicher und schließlich offen verlogen – als verbindlich galt. Kritische Theorie meint in diesem Zusammenhang nicht nur die Frankfurter Schule, sondern die auf Marx zurückweisende Kritik der politischen Ökonomie mit ihren späteren Erweiterungen zur Kritik der totalen Vergesellschaftung.

Kritische Theorie – und die antideutsche Kritik verdankt ihr alles – hat stets ein handelndes oder doch zur Handlung befähigtes Subjekt unterstellt. Ob es nun das als vom Geschichtsprozeß Berufene, die Arbeiterbewegung, war, worin sich noch Mitte der dreißiger Jahre alle Linken vom Parteivorstand der KPdSU bis hin zum rechtzeitig ins Exil entkommenen Frankfurter Institut einig waren, oder (siehe Marcuse) in der Widerständigkeit einer politischen Generation neu entdeckt wurde, oder schließlich beim späteren Adorno als empirisch Vorhandenes vollständig negiert wurde: Die Notwendigkeit, aktiv die eigene Geschichte in die Hand nehmen zu müssen, verbindet die sich ansonsten weitgehend ausschließenden Anstrengungen, der kapitalistischen Wirklichkeit kritisch etwas entgegenzusetzen.

Zerstörende Kritik, die sich gesellschaftliche Emanzipation zum Ziel setzt, drängt notwendig zur Praxis und Praxis heißt nicht Demo oder Menschenkette, sondern Aktivitäten in revolutionärer Absicht und mit einer nachvollziehbaren Option auf Erfolg. Auch in weniger naivem Optimismus wie beim unverwüstlichen Marcuse konnte kritische Theorie gerade in ihrer absoluten Negation des revolutionären Subjekts traditionellen Zuschnitts, also auch des Marcuseschen Alternativentwurfes, nur als Aufruf gelesen werden, dem so tiefschwarz geschilderten gesellschaftlichen Verhängnis – auch dann wenn es objektiv unmöglich erscheinen muß – praktisch ein Ende zu setzen.

In den Jahren der Marcuseschen Agitation gab es diesen Sprung in die Praxis sogar in den sogenannten Metropolen. Ihre ernsthaften Protagonisten wollten den Ador­no zwar nicht zu Ende denken und setzten letztlich mehr auf die moralische Berechtigung des Protests als auf theoretische Konsistenz, mit ihrer Kritik machten sie allerdings Ernst. Soviel in Hochachtung für Andreas Baader und die seinen.

Sich selber betrogen haben sich Theoretiker wie Marcuse und Praktiker wie Andreas Baader in ihrer Zuversicht, mit der sie schon vorhandene Potentiale von Widerständigkeit unterstellten, die angeblich zu mehr drängten als der Befreiung von allerlei überholter gesellschaftlicher Autorität. Gleichwohl ist diese Zuversicht, daß da etwas zu bewegen sein müsse, auch jenseits des erledigten historischen Subjekts Arbeiterbewegung sympathisch und das nicht begründbare Behaupten eines Zwangs zu protestieren, um vielleicht doch einmal Mensch sein zu dürfen, bleibt zentral. Kritik zu üben, ohne von dieser höchst eigensüchtigen und deshalb die anderen mitmeinenden Sehnsucht umgetrieben zu sein, fällt auf Hervorbringer und Hervorbringung furchtbar zurück. Die Leidenschaftslosigkeit der Haltung, die Gleichgültigkeit also gegenüber den Verhältnissen, und sei sie auch ausgedrückt in gepflegter Melancholie, die man bei falscher Lektüre zum Beispiel aus den Minima Moralia ziehen kann, raubt dem kritisch gemeinten Produkt die Schärfe der Erkenntnis und wird nicht mehr taugen, als akademisch gespreizt von anderen Erkanntes totzuwalzen.

Es lohnt nicht, Marcuse und verwandte Optimisten nachträglich noch einmal zu erledigen. Daß sich sein Protest-Mythos nur innerhalb der in Blöcke geteilten Welt auf seiten des westlichen denken ließ, war ihm selber bewußt. Daß sich der gesamte Protest in so etwas ähnliches wie Joschka Fischer hier und vegane Bauwagencomunity dort aufspalten mußte, ahnte er bereits, als er in den 70er Jahren den raschen Verfall seiner Hoffnungen bekannte. Es lohnt aber sehr wohl angesichts des noch weiter in die Bedeutungslosigkeit Zurückgeworfenseins linken Theoretisierens heute, die Frage nach der Leidenschaft und der Figur des Protestierenmüssens, also des Verhältnisses von kritischer Theorie und Agitation, im Auge zu behalten. Denn seit 1989 wird es schwerer und entscheidender, dort anzuknüpfen, wo Marcuse recht hatte, ohne in den bei ihm angelegten ausweglosen Optimismus zu verfallen, der noch die banalste Erscheinung als emanzipatorisch oder sagen wir’s zeitgeistig: subversiv, abfeiern muß.

Postmoderne und andere Theoriearbeiter

Tatsächlich ist es so, daß theorietreibende Leute heute zum Teil sehr eigenartige Charaktere sind. Wissend, daß weder Weltgeist noch Überdrußreaktion auf das gesellschaftliche Unheil in persönlichen Eskapismus und damit in emanzipatorische Kritik umschlagen würden, ist der Standort des Kritikers ein Unort. Das kann sich als höchst persönlicher Unort des vereinsamten Wertkritikers (als ein beliebiges Beispiel) darstellen, der in fast völliger Abgeschiedenheit die Theorie um der Sache willen treibt und manchmal in größenwahnsinniger Bescheidenheit auf Zeugen seines Tuns fast völlig verzichtet.

Wer in kläglichen Jobberein sich das nackte Überleben sichert und seine freie Zeit in Bibliotheken oder am Computer zubringt, dessen Ausdrucke keiner mehr lesen soll, um der Enttäuschung vorzubeugen, daß keiner den Text lesen will, dem wird sein privater Theoriebetrieb zur Selbstversicherung, zum Grund, noch nicht Hand an sich zu legen.

Häufiger anzutreffen ist ein anderer Charakter: Ihm wird kritische Theorie zur lebenslänglichen Ersatzhandlung fürs Nicht-Berücksichtigtwerden bei der Vergabe von Lehraufträgen im Wissenschaftsbetrieb. Hier ist der kritische Gehalt bis zur Unkenntlichkeit verborgen im eifrig abwägenden Rezipieren der jeweilig herrschenden Geistesströmungen, das mit dem ein oder anderen Schuß Marx oder Adorno angereichert wird. Diese Spezies hat sich die abgefeimte Interesselosigkeit des Lehrbetriebs insofern zueigen gemacht, als sie die Frage, zu welchem Zwecke solch zeitraubendes Hobby überhaupt betrieben wird, als von vorneherein beschränkt und erkenntnisfeindlich verwirft.

Gänzlich unerträglich wird der möchtegern-universitäre Theoretiker dort, wo er sich dezidiert der Gesellschaftskritik zu widmen vorgibt und zielsicher die gesellschaftliche Integration von leider nicht nur hoffnungslosen Fällen wie ihm selber betreibt, sondern eben auch solcher Leute, in denen ein Rest des Marcuseschen Abscheus und Protestierenmüssens aufbewahrt ist. Blätter wie Jungle World oder Arranca (1), schlimmer noch die Beute, iz3w oder Mittelweg 36 stehen hier warnend vor Augen. Hier wird vom Geist der kritischen Theorie das auf Flaschen gezogen, was zu Selbstmunitionierung gegen radikale Kritik benötigt wird. In diesem Spektrum treffen sich die panisch um ein Unterkommen im ideologischen Apparat ringenden Bankrotteure, für die exemplarisch die mutige Feindin alles Serbischen, die Popdiskursantin Katja Dieffenbach (2) stehen mag, mit solchen, die sich ihr Hobby in der theoretisch gescheit sein wollenden Verlautbarung gesucht haben. Umgetrieben von der Ort- und Haltlosigkeit ihrer intellektuellen Existenz, immer auf der Suche nach Anerkennung, potenziert sich in ihrer Produktion eine geheimnisvolle Kälte, die in der angeblichen Bemühung um Wahrheit, um die es ihnen vorgeblich geht, dauernd aufscheint. Denn statt einen Begriff von Wahrheit auch nur zu suchen, zum Zwecke, ihn zu schärfen und mit der gesellschaftlichen Lüge zu konfrontieren, finden sie statt dessen gleich mehrere, von denen sie jedenfalls wissen, daß sie alle irgendwie interessant sind.

In ihrer Kritik zum Beispiel am Realsozialismus und seiner katastrophischen Geschichte ist keine Parteilichkeit eingeschrieben für den gescheiterten Versuch der Befreiung, sondern jenes “eh' schon wissen”, das man mit 40 haben kann, weil man sich von seiner K-Gruppen-Vergangenheit emanzipieren muß, oder das man sich mit Anfang 20 zulegt, um in die Versuchung der praktischen Kritik gar nicht erst zu kommen. Solche Leute (3) verachten den junge-Welt-Redakteur Werner Pirker nicht etwa deshalb, weil er ein Kommunist sein will und trotzdem dauernd antisemitisches Zeug absondern muß. Ihnen wird der parteikommunistische Hintergrund zur Bedingung für den Antisemitismus und in ihrer Kritik am Pirkerschen Antisemitismus schwingt unüberhörbar der Antikommunismus als seine scheinbare Voraussetzung mit. Die richtige Kritik am Realsozialismus, der als staatsförmige Veranstaltung zur schöpferischen Anwendung des Wertgesetzes tatsächlich Antisemitismus produzieren mußte, führt in den falschen Händen zu einer interesselosen Haltung, die, statt für ihn zu kämpfen, jede Form des Kommunismus vorab mit dem Antisemitismus identifiziert.

Warum zum Beispiel im parteikommunistisch geprägten serbischen Restjugoslawien nach Aussagen jener, die es wissen müssen, der dort lebenden Juden, Antisemitismus traditionell nicht zur Volkskultur gehört, auch heute nicht, ist für professionelle Verächter des serbischen Turbopops, keine Frage. Ihnen ist die antikommunistisch aufgeladene Kritik am Antisemitismus so sehr Bedürfnis wie dem Regierungspersonal, von dem sie sich einzig durch größeres Differenzierenkönnen unangenehm unterscheiden.

Die Hobbytheoretiker und der Markt

Diejenigen, die um des immer noch erhofften Gebrauchtwerdens sich den Erfordernissen des Zeitgeists andienen, trennt von jenen, die von vornherein in der weisen Erkenntnis, daß sie nicht landen werden, Verzicht leisten, so viel nicht. Auch die Bescheidenen, die vorgeben, außerhalb des Betriebs in Theorie zu machen, um ihre Unabhängigkeit zu wahren, treiben ihr Hobby nicht so selbstlos wie der Briefmarkensammler. Sie wissen um die gesellschaftliche Reputation ihres Bescheidwissen in Zeiten, in denen mit symbolischem Kapital wirklich nichts mehr zu versilbern ist. Es verbleibt ihnen dennoch ein Surplus in den zunehmend abgewetzt wirkenden Resten der Bildungsbürgergesellschaft. Auch hier ist Distinktion gefragt, gibt es In-Kreise und Hierarchien. Stellungen, die der Gesellschaftsfähigkeit und der Balzordnung wegen durchaus ihre Bedeutung haben. Ein Fahrradkurier im 26. Semester, der schon seinen Beitrag zum Popdiskurs in einer einschlägigen Gazette, die ihn nicht bezahlt, untergebracht hat, ist schon einer im Meer der Namenlosen, die wenigstens um den Ruf, ein einzigartiger Kopf zu sein, sich bemühen. So kehrt in Form mancher Kleinverlage auf noch komischere Weise wieder, was Eco im Foulcaultschen Pendel so launisch beschreibt: Gegen Vorfinanzierung entstehen Bücher, vertrieben von Verlagen, die nur von der Vorfinanzierung der unverkäuflichen Produkte durch die Autoren existieren.

Man soll solches Tun verachten, aber nicht unterschätzen. Im immer desolateren Markt der linken Meinungen sind die Bescheidwisser ohne Interesse, aber mit theoretischem Tiefgang, seit der strukturalistischen Schwemme der Balibar, Said und anderer Antirassisten zunehmend gelittene, ja unverzichtbare Gestalten. Die traditionelle Bewegungslinke von AntiRa bis AntiFa verhält sich etwa so, wie die Labour-Partei Tony Blairs zu ihrer gewerkschaftsorientierten und staatskapitalistischen Geschichte. Statt die falsche frühere Radikalität um einer wirklichen willen zu kritisieren, wird der Partei- und Gewerkschaftsbürokratismus früherer Jahre als kommunistisch denunziert und mit ihm auch die Basis für die Diskussion einer radikalen Zukunft exorziert. Die Bewegungslinke, die sich ihres irgendwie staatsozialistischen Projekts beraubt sieht, adaptiert konsequent das Projekt Moderne eines Tony Blair, wenn sie wahlweise das SPD-Programm von 1972 oder Existenzgeldforderungen katholischer Sozialpolitiker empfiehlt, also immer genau das, was die Regierung gerade aus dem Programm gestrichen hat. Um den allzu deutlichen Vorsatz unkenntlich zu machen, besteht hier noch Theoriebedarf, geliefert von Leuten, die an das Zeug, das sie dauernd absondern, tatsächlich auch glauben und ihm die Duftmarke “modern”, mindestens jedoch “undogmatisch” zu verleihen wissen.

Wenn der kritische Artikel seinen Markt verliert, sollte man denken, daß die Produktion zurückgeht. Wenn die Universität von zwei frei werdenden Stellen eine wiederbesetzt, sollte die Zahl der verbissenen Kämpfer um ein Dozentenamt eigentlich abnehmen. Aber es ist nicht so. Allmachtsphantasien sind Erscheinungen des autoritären Charakters. Sie treten verstärkt auf, wenn die angestrebte gesellschaftliche Stellung ins Unerreichbare entrückt und das sich Einrichten in enttäuschender Zurückgesetztheit ein Zwang wird, der in Freiwilligkeit umgedeutet werden muß. Einmal Gremliza sein oder doch wenigstens von ihm gelobt zu werden, treibt die Jungle World- Redaktion, die in ihm den prominenten Kolumnisten und nicht den Kommunisten sieht, so besessen um, daß sie auf Vatermord sinnt, angesichts der Vergeblichkeit ihrer Aspiranz und der Ödnis der eigenen Produktion (4). Und wo noch nicht einmal Dozenturen im Umkreis des weiß Gott unbedeutenden Linksprofessors Wippermann (5) zu erhaschen sind, will man es ihm auf der unbezahlten Spielwiese nachtun, ja ihn übertreffen. Die kritische Haltung, die solchem Tun innewohnt, ist keine. Sie verwirft kleinlich und emsig die bloße Hoffnung, ja selbst noch die Notwendigkeit auf Emanzipation, wie es die rauher werdenden Zeiten erheischen.

Wer sich nicht ganz mit dem Jargon der Postmoderne als Argumentersatz zufriedengeben will, mischt gescheit Adornozitate in den Text und benützt den radikalen Kritiker zur Denunziation der Radikalität. Auf den Adorno vorauseilenden Ruf, ein Schwarzseher gewesen zu sein, der jede kritische Praxis verworfen habe, wird positiver Bezug genommen, wenn jede Form konsequenten Eskapismus’ – gerade der der RAF (6) – mit müder Geste und Verweis auf den Klassiker in die Schranken gewiesen wird. Der Klassiker gerät aber dort selber in Verdacht, wo seine schroffe Zurückweisung emanzipatorischer Potentiale in der Gesellschaft dem postmodernen Projekt Subversion ins Gesicht schlägt. Hier ist dann die mangelnde Durchlässigkeit der kritischen Theorie, die bemängelt wird, Anlaß, vor einem irgendwie stalinistischen Totalitätsdiskurs zu warnen.

Unbrauchbar für jeden gesellschaftlichen Zweck

Antideutsche Kritiker unterscheiden sich von den Theoretikern des linken Zeitgeists nicht um der Distinktion, sondern um der Sache willen. Wer, wie die Antideutschen, mit Begriffen wie dem der gesellschaftlichen Totalität arbeitet, die angeblich eine Hermetik erzeugen, die kein Dagegen mehr aufkommen lasse, tut das nicht, um sich als gerade noch einmal Davongekommener selber zu feiern, als letzter Bürger oder ähnlichen Quatsch. Er tut es schon gar nicht, weil er mit schöner Regelmäßigkeit sein “Nichts geht!” ausspucken will. Er tut es in der irren, weil unbegründbaren und noch nicht einmal empirisch verifizierbaren Hoffnung, daß das, was auf der Hand liegt, die Verhältnisse, unter denen wir überleben, nicht verbessert werden können, sondern restlos zerschlagen werden müssen, auch erkennbar sei. Und er tut es in der Hoffnung, daß die Erkenntnis leidenschaftlichen Haß produzieren muß und deswegen die Kritik auch in die Tat umsetzbar sein müßte. Ulrich Enderwitz hat in einem Vortrag einmal eingewandt, daß, obwohl es an Einsichtigen mehr gebe, als man sich gemeinhin vorstelle, von diesen keiner auch nur einen Schritt zur Umsetzung dieser Kritik tun werde, sondern durch kluges Sich-Einrichten, das ja gerne Abwarten genannt wird, gerade als potentieller, aber selbst stillgelegter Kritiker den Weg in den Untergang sekundieren werde. Auch das eine Überlegung, die mehr für sich hat, als mit geschärftem Witz widerlegbar wäre.

Was von antideutscher Seite bisher geschieht, geschieht tatsächlich von einem ähnlich prekären Unort aus, wie die monadenhafte theoretische Bemühung des sein Publikum ausschließenden Heimkritikers, von dem oben die Rede war. Antideutsche Kritiker und postmoderne Ideologen sind sich in ihrer gesellschaftlichen Überflüssigkeit durchaus ähnlich. Während aber Letztere ihre Überflüssigkeit als positives Lebensgefühl drapieren und panisch getrieben dauernd nach einem Markt fahnden, der gerade nach ihren Fähigkeiten verlangt, weiß der antideutsche Kritiker, daß er kein Lebensgefühl anbieten kann, das zur Identifikation reizen könnte und ist sich seiner persönlichen wie kritischen Überflüssigkeit für jeden in dieser Gesellschaft in Kurs stehenden Zweck bewußt.

Von Deutschland aus und als eingeborene deutsche Staatsbürger Volk und Nation ins Zentrum der Kritik zu stellen und als Anzusprechende ausgerechnet die deutsche Linke sich auszuersehen, die als ihre Stichwortgeber eben die obengenannten Journale und dazu gehörendes Autorenpersonal sich ausgesucht hat, ist verrückt.

Den Ekel am Mitmachen, den Zwang zum Protestieren nannte Marcuse den Antrieb der neuen Linken, anzuschreien und zu leben gegen eine Gesellschaft, die in Prosperität versinke. Prosperität im materiellen Sinne kommt ihr zwar heute völlig abhanden, Prosperität meinte aber auch bei Marcuse keineswegs Luxus, sondern einen Überfluß an gebrauchswertberaubten Waren und ihre Konsumenten. Es war bei ihm schon die Rede von einer Selbstzurichtung der Staatsbürger zu besinnungslosen Hedonisten, die ihren Hedonismus sehr wohl auch im Zeichen des Mangels austoben können. Hedonisten, die sich den Aufkleber “Ich will feiern” aufs Auto kleben und wegen ihrer Ziellosigkeit auf das einzige Ziel, den autoritären Staat und seine finalen Projekte sich kaprizieren werden. Der Ekel am Mitmachen muß sich zuvörderst im Ekel an diesem verabscheuungswürdigen Land ausdrücken. Und weil er nur ein antideutscher, also kommunistischer, sein kann, muß er sich angesichts der eigenen Schwäche und geringen Ausstrahlung am ewigen “kritischen” Wegbereiter des deutschen Vollzugs festbeißen, der deutschen Linken. Weniger an Antifa-Aktivisten und ihrem praktischen Tun, aber sehr dezidiert im Abscheu vor der nazistischen Wandervogel-Idyllik ihrer Ideologen, die in den Kategorien von Zeltlager, Lagerfeuer und Gemeinschaft mit den Pfadfindern konkurrieren. Der Überdruß muß sich äußern an den Störern des Berliner Gelöbnisses, die mit der geschmäcklerischen Aussage “Tucholsky hat doch recht” an dessen banales Schlagwort gemahnen und sich zielsicher an den Ort der intellektuellen Zerstreuung sozialdemokratisch-nachdenklicher Lehrer katapultierten, das deutsche Kabarett. Dieses Sätzchen im Moment der medienintensiven Störung dauernd vor die Kameras halten zu müssen, bekam seinen besonderen Sinn durch die Anreicherung der Null-Aussage mit einem Logo. In diesem Fall JungdemokratInnen/Junge Linke (7). Productplacement bei der Störung des öffentlichen Gelöbnisses im Bendlerblock. So nahe sind sich Kritiker und Kritisierte nur in der deutschen Demokratie. Die Kritisierten durften sich freuen, daß etwas Abwechslung in den sturen Ablauf ihrer Veranstaltung geriet: So bunt kann Demokratie sein. Und die Kritiker konnten stolz nach Hause gehen, wissend, daß Junge Linke von Teilen der Öffentlichkeit als witzige Ironisierer verstaubter Rituale gehandelt werden. Zwei Facetten eines Verhängnisses: Das Geheimnis der demokratischen Opposition.

An die Linke wird sich dennoch die Kritik auch weiterhin richten müssen, weil es neben dem bienenfleißigen Jungfunktionärsgeschäft, wie es gerade in Junge Linke und AAB beliebt ist, in den gleichen Organisationen den durch solche Angebote des autoritären Mitgestaltens nicht aufgehobenen Haß auf die Verhältnisse gibt, der sich nicht vom Pionierleiter in ödes Funktionierenmüssen einzwängen lassen will. Neben widerlichen Serbenfressern gab es während des deutschen Krieges scharenweise Desorientierte, die sich zwar für konsequente Kriegsgegnerschaft nicht entscheiden wollten, aber einen Dreck auf die ausrelativierenden Flugblätter von Arranca oder ak gaben und mit den Versagerausgaben der Jungle World alles andere als froh waren. Und zurück zum praktischen Beispiel Gelöbnis im Bendlerblock: Diese Veranstaltung zu stören hätte als notwendige, spaltende Provokation ein für das Jahr 1999 höchst zutreffendes Motto haben können, wenn auf dem Regenschirm, der dauernd in die Kameras gehalten wurde, nicht olle Kamellen von Tucholsky und das Logo einer noch olleren Abgreiftruppe zu lesen gewesen wäre, sondern das Motto: “Stauffenberg war ein Völkermörder.”

Antideutsche und Linke

“Daß der Kampf um die höhere Allgemeinheit der Zukunft in der Gegenwart zur Sache besonderer Individuen und Gruppen wird, macht nach Hegel die tragische Situation der weltgeschichtlichen Personen aus. Sie greifen gesellschaftliche Verhältnisse an, in denen – wenn auch schlecht – das Leben des Ganzen sich reproduziert; sie kämpfen gegen eine konkrete Gestalt der Vernunft, ohne daß die Praktikabilität der zukünftigen Gestalt, die sie vertreten, schon empirisch bewiesen wäre. Sie sind Frevler an dem, was in Grenzen immerhin bewährt ist (...). Die Individuen, die sich der Idee so sehr fügen, daß ihre Existenz von ihr durchdrungen ist, sind unfügsam und eigensinnig. Das gemeine Bewußtsein weiß keinen Unterschied zwischen ihnen und Verbrechern zu machen.” Auch das ist Marcuse, nunmehr aber schon 1938. Und die Betonung der Maßlosigkeit, die im Anspruch, für die Idee, also die theoretische Kritik, für das Allgemeine, also für eine sinnvolle Ordnung der Gesellschaft gegen alles Bestehende zu kämpfen, sich äußert, markiert heute zuvörderst nicht den Konflikt zwischen Normalbürger und antideutschem Kommunisten, sondern den zwischen Antideutschen und Linken bzw. Verwaltern des linken Mitmachens. Die Kluft zwischen einem Bürger, der Antideutsche ihrer eigenen objektiven Ohnmacht wegen noch mit einem freundlichen Lächeln beschenkt, ,,Spinner eben”, und einem linken Kritiker der Antideutschen ist erheblich. Letzterer muß, weil er sich das konstruktiv-oppositionelle Mitmachen auf seine verwelkten Fahnen schreibt, diejenigen, die mit den Verhältnissen auch ihn, der sich darin einrichtet, denunzieren, zu Verbrechern erklären. Und Verbrecher ist innerhalb der Linken, wer als Rassist, Sexist etc. tituliert wird und nach dem Motto “Haltet den Dieb!” aus der Solidargemeinschaft ausgeschlossen wird.

Antideutsche Kritik ist Strömung, die im organisierten Sinne keine sein will und wendet sich an alle Linken, die sich unter den ausgelutschten Bewegungslabels für eine kritische Demokratie genausowenig treffen wollen, wie unter dem pseudokritischen Banner von Theoretikern, die den Begriff des Allgemeinen schon deshalb dekonstruieren müssen, weil sie noch nicht einmal unter den Verhältnissen leiden, die aufrechtzuerhalten sie mithelfen.

Justus Wertmüller (Bahamas 30 / 1999)

Anmerkungen:

  1. Berliner Zeitgeistblatt, das im Spannungsfeld zwischen autonomer Realpolitik, postmodernem Diskurs und praktischen Vorschlägen zur Sozialpolitik (Existenzgeld) angesiedelt ist und sich entsprechend liest.
  2. Postmoderne Spitzenkraft des Popdiskurses. Fiel zuletzt in den Nachkriegsausgaben der Jungle World auf, in denen sie den serbischen Turbopop als ein besonders nationalistisches und sexistisches Übel dekonstruierte und popkulturell alle Argumente für eine erneute Bombardierung Belgrads zusammentrug.
  3. Diese klassisch antitotalitäre Figur tauschte zuletzt in einem Artikel Udo Wolters in der Jungle World vom 15.09.99 auf und verweist in der Person des Autors auf das Freiburger Internationalismus-Blatt iz3w, dessen ständiger Mitarbeiter er ist.
  4. Vgl. den Stellvertreter-Angriff des Freiburger Gastautors Gerhard Hanloser, der in der Jungle World vom 23.06.99 vorgeblich die Antideutschen in den Sack steckte, aber dabei immer auf die konkret schielte, die ihn nicht druckt. Das Phänomen ist auch in anderen Publikationen bemerkbar. Zuletzt in Sozialistische Zeitung (SoZ) vom 14.10.1999, in der ein Thies Gleiss die Konferenz “10 Jahre danach” zu besprechen vorgibt: “Die Antideutschen sind bei einer solchen Betrachtung eine kleine esoterische Versammlung. Gleichzeitig prägen sie aber die politische Ausrichtung der zwei auflagenstärksten Zeitungen und Zeitschriften in diesem Land, nämlich konkret und Jungle World” und nicht Thies Gleiss, was irgendwie ungerecht ist.
  5. Wippermann, der sich anschickt, den linken Habermas zu machen, hat in seinen Überlegungen zum “Antiziganismus”, der dem Antisemitismus ideologisch und im praktischen Vollzug gleiche wie ein Ei dem anderen, bereits 1997 eine gesinnungstüchtige Forschung für antitotalitaristisch Interessierte vorgelegt.
  6. Auch die postmoderne Beschäftigung mit der RAF ist eine rein popkulturelle, die die Erscheinung in Aspekte von Martyrium und Glamour aufspaltet und zwischen Oliver Tolmeins Kochrezepten für Irmgard Möller und Reinhard Götz’ Betrachtungen oder jüngsten Fotoausstellungen in den Berliner Hackeschen Höfen angesiedelt ist.
  7. Um einem Mißverständnis vorzubeugen: Die JungdemokratInnen/Junge Linke sind ein bundesweit operierender politischer Jugendverband, dessen dominierende Mehrheitsströmung sich im prickelnden Spannungsfeld zwischen linken Grünen, PDS und Autonomen konstruktiv einrichtet. Davon zu unterscheiden sind kommunistische Minderheitengruppen, die allein aus organisatorischen und finanziellen Gründen unter dem gleichen Dach existieren. Das sind insbesondere die Berliner Gruppe sur l’eau und die Hamburger Rausch, Ration, Revolution. Beide haben mit Deutschland, Demokratie und ähnlichen Ärgernissen nichts zu schaffen.

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