Titelbild des Hefts Nummer 31
Demokratischer Faschismus
Heft 31 / Frühjahr 2000
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„Die Gedanken sind frei“

Das Schwarzbuch Kapitalismus von Robert Kurz

Gegen eine „Historisierung“ der von ihren postmodernen Apologeten als alternativloses „Ende der Geschichte“ apostrophierten Marktwirtschaft ist selbstredend nichts einzuwenden. Spielt es da eine Rolle, wenn dies auf dem Boden einer Zusammenbruchstheorie – „Der Kapitalismus ist am Ende seines Blindflugs durch die Geschichte angelangt, er kann nur noch zerschellen“ (S. 762) – geschieht? Kann dieses Unterfangen dadurch beeinträchtigt werden, daß der Autor bis vor kurzem noch auf der „Suche nach dem verlorenen sozialistischen Ziel“ (so der Titel des 1988 erschienenen „Manifest(es) für eine revolutionäre Theorie“) nahezu alle sozialen und politischen Bewegungen schon mal als potentielle Kraft für eine Alternative jenseits von Markt und Staat in Erwägung gezogen hat?

Im Schwarzbuch des Kapitalismus, in dem Kurz eine „historische Gesamtbilanz“ des Kapitalismus zieht, hat sich die Perspektive verdüstert: „Die Weltkrise der Dritten industriellen Revolution trifft auf kein emanzipatorisches Subjekt mehr, das als gesellschaftliche Alternative mobilisierbar wäre.“ Doch ganz so sicher ist sich Kurz noch nicht. Warum sonst legitimiert er seine Historisierung des vermeintlich geschichtslos gewordenen Kapitalismus mit der doch eher optimistischen Aussicht: „Um eine neue, andere Alternative wieder denken zu können, muß zuerst die Geschichte rehabilitiert (!) werden.“ (S. 12) Und im Epilog seiner Katastrophengeschichte bescheinigt er einer potentiellen „emanzipatorischen Antimoderne“ gar, das zivilisatorische Überleben sei „allein eine Bewußtseinsfrage“. (S. 783) So endet das Buch denn auch in einer Mischung aus Resignation und Zweckoptimismus. Die (explizit erwähnte) Bemerkung Adornos, sich wenigstens von der eigenen Ohnmacht nicht dumm machen zu lassen, übersetzt Kurz in den volkstümelnden Slogan: „Die Gedanken sind frei, auch wenn auch sonst gar nichts mehr frei ist.“ (S. 792)

In dieser kruden Mischung aus kritischer Theorie und populären Slogans kommt die kategoriale Schwäche des gesamten Buches zum Vorschein. Womöglich trägt diese Melange zur Vergrößerung der Leser- und Anhängerschaft bei, unter der sich mittlerweile vermutlich auch das Klientel der „Zeit“ befindet, in der das Schwarzbuch als „ein großer Wurf, ... die wichtigste Veröffentlichung der letzten zehn Jahre“ hochgelobt wurde – was Kurz gegönnt sei. Aber diese Popularisierung verallgemeinert eben nicht nur das Richtige, sondern auch das Falsche. Denn Kurz steht nach wie vor – trotz seiner lautstark ausposaunten Überwindung des Arbeiterbewegungsmarxismus – fest auf dem theoretischen Boden der marxistischen Tradition. Deren gemeinsamer Nenner ist und bleibt die zuerst von Engels vollzogene, später nie zurückgenommene Popularisierung der Marxschen Wertkritik (insbesondere der Wertformanalyse) zum wissenschaftlichen Sozialismus.

Positionierung und Kritik

Gegen den Traditionsmarxismus führt Kurz im Schwarzbuch durchaus viele gute Argumente an. So der Verweis darauf, daß die vermeintliche Systemalternative – der sowjetische Staatssozialismus – „Fleisch vom Fleische“ war. Überhaupt: Alle Gesellschaftssysteme des 20. Jahrhunderts – der bürgerlich-liberale ebenso wie der fordistische Kapitalismus, Sowjetkommunismus und Nationalsozialismus, aber auch die an der Peripherie des Weltmarkts angesiedelten Regime der „nachholenden Modernisierung“ im Osten und Süden – sind Kurz zufolge verschiedene Formen ein und desselben warenproduzierenden Systems. Vor dem Hintergrund der identischen und übergreifenden „negative(n) Grundform aller Gesellschaftssysteme des 20. Jahrhunderts, nämlich das im Laufe des 19. Jahrhunderts herausgebildete warenproduzierende Industriesystem mit seiner Zwangsherrschaft der ,abstrakten Arbeit‘ und der Zwangskonkurrenz sogenannter Nationen auf dem Weltmarkt“ (S. 446), begreift Kurz die Unterschiede zwischen Nationalsozialismus, Sowjetkommunismus und westlicher Demokratie als „historische Ungleichzeitigkeiten“ ein und desselben Systems. Aus dieser Perspektive belegt er nicht nur die „innere Identität von Demokratie und Diktatur“, er zeigt auch, daß sich das antisemitische Denken beispielsweise eines Henry Ford in seinen Grundzügen nicht von dem der Nazis unterschied, und demonstriert so, daß Antisemitismus einen zentralen Bestandteil der kapitalistischen Normalität darstellt. Doch indem er Antisemitismus zugleich als „Konstrukt“ (S. 429) begreift, zeigt er, daß er den im wissenschaftlichen Betrieb gültigen und (deshalb?) auch im linken mainstream verbreiteten (de)kon­struk­tivistischen Boden nicht verläßt. Ein ideologiekritischer Begriff, der demgegenüber Antisemitismus als genuin bürgerliche Denkform begreift – als Basisideologie oder Alltagsreligion des Kapitalismus –, hat in diesem Denken keinen Platz.

Nicht nur hierin zeigt sich, daß Kurz sich von der marxistischen Tradition, die immer nur die andere, sozialistische Seite der wissenschaftlichen Denkform darstellte, nicht wirklich gelöst hat. So gelingt es ihm zwar, die dunklen Seiten des „Siegeszugs“ der „schönen Maschine“ ans Licht zu bringen. Bereits die Massenarmut des vorindustriellen Frühkapitalismus deutet an, daß „der Kapitalismus ein brutales Gewinner-Verlierer-Spiel (ist), dessen totalitärer Charakter die pure soziale und selbst die physische Existenz als Einsatz nicht ausspart; und er hat von Anfang an mehr Verlierer als Gewinner hervorgebracht.“ (S. 14) Die notwendigerweise düster ausfallende Gewinn- und Verlustrechnung bilanziert die Geschichte der drei industriellen Revolutionen als Geschichte der Durchsetzungskrisen und der gegenwärtigen „Endkrise“ des Systems der abstrakten Arbeit und beschreibt den jeweiligen Niederschlag im Bewußtsein ihrer Ideologen, angefangen bei den Theoretikern des Liberalismus wie Hobbes, Adam Smith und Mandeville bis hin zu den heutigen Ideologen wie etwa Fukuyama und nicht zuletzt den „neuen Dämonen” Nolte, Walser, Sloterdijk, de Benoist und wie sie alle heißen. Diese als die Wiederkehr (über „postmoderne Umwege über Nietzsche und Heidegger“) der die Geschichte des Kapitalismus von Beginn an begleitenden Ideologen wie Darwin, Spengler, Ernst Jünger etc., deren Geschäft immer schon die Biologisierung und Naturalisierung des Gesellschaftlichen war, zu denunzieren und ihre Ideologieproduktion als Erwachen des neu-völkischen, Rasse durch Genetik ersetzenden Geraunes zum Gegenstand der Kritik zu machen, ist auch angesichts der fehlenden Aussicht auf eine rettende Alternative mehr als geboten.

Was jedoch (nicht nur) am Schwarzbuch irritiert, ist die Selbstgefälligkeit, mit der Kurz der marxistischen Tradition vorrechnet, sie hätte in gleichem Maße wie das Massenbewußtsein die kapitalistischen Grundkategorien verinnerlicht, ihre „Kapitalismuskritik“ sei in die vom Liberalismus unbewußt aufgestellte Falle gelaufen, die darin bestünde, „Alternativen nur noch innerhalb der kapitalistischen Realkategorien formulieren zu können“.(S. 497) Zu dieser, wie zu zeigen ist, nicht wirklich begründeten Selbstgefälligkeit – denn in genau jene „Falle“ tappt er selbst – kommt die vor pejorativen Kraftausdrücken strotzende Sprache hinzu. Als müsse er seinen Ruf, den er sich als Kapitalismus-Kritiker gemacht und somit zu verlieren hat, beständig unter Beweis zu stellen, trägt er seinen „Abgesang auf die Marktwirtschaft“ in verschiedenen Wendungen vor: Menschen werden „verwurstet“ und müssen verinnerlichte Zwänge „herauswürgen“, Nationalstaaten veranstalten „Fingerhakeln“, das „Terrorsystem der abstrakten Arbeit“ ist zugleich eine „grauenhaft häßliche Weltmaschine des Kapitals“ und so weiter und so fort.

Nicht, daß das kapitalistische System nicht in jeder Hinsicht verabscheuungswürdig wäre. Doch hinter solchen Kraftausdrücken versteckt sich eine Unsicherheit, die Kurz eigentlich nicht nötig haben sollte. Denn er analysiert die negativen Folgen (Massenarmut, Kriege, Massenvernichtung, Naturzerstörung), die der Kapitalismus im Laufe seiner Geschichte gezeitigt hat und noch zeitigt, sehr eindringlich – er „seziert die Marktwirtschaft“, wie der Klappentext zu Recht ankündigt. Doch wie schon der wissenschaftliche Sozialismus und wie jede andere Sozialwissenschaft auch, erheischt Kurz kategoriale Eindeutigkeit, begriffliche Klarheit und eindeutige „Positionierungen“ auch noch dort, wo materialistische Kritik sich weigert, den an sich selbst unvernünftigen Gegenstand – die durch den Wert synthetisierte Gesellschaft – zu theoretisieren und so zu rationalisieren. Anders als Kurz weiß materialistische Kritik von der Unmöglichkeit, den Kapitalismus in ein theoretisches System bannen zu wollen, und verweigert sich der Theorieproduktion.

Negative Historisierung von Auschwitz

Die Probleme, die sich Kurz mit seiner kategorialen Klarheit und Eindeutigkeit und der daraus resultierenden Theorie des Kapitalismus (bzw. „der Moderne“) einhandelt, offenbaren sich spätestens dann, wenn die „Historisierung“ an den Abschnitt der Geschichte gelangt, den nicht nur rechte Ideologen wie Nolte ebenfalls allzu gerne historisieren – und damit relativieren. Daß es mehr als bedenklich, bei einer „Rehabilitierung der Geschichte“ jedoch unvermeidbar ist, Auschwitz als Durchlaufstation des zu sich selbst und damit an sein Ende kommenden Systems der Warenproduktion zu verorten, ahnt auch Robert Kurz. Und so scheint es, als würde sich der in den Kategorien Wert und abstrakte Arbeit steckende, von Kurz verdrängte Problemgehalt plötzlich Raum schaffen, wenn die „negative Fabrik Auschwitz“ in den „breiten Strom der Modernisierungsgeschichte“ eingeordnet werden soll; es scheint, als würde sich die erschlichene kategoriale Klarheit rächen, wenn, „unbeschadet (der) Dimension der Singularität“ eine „negative Historisierung von Auschwitz“ (S. 487) unternommen wird. Die ansonsten eher geradlinig vorgetragene Katastrophengeschichte gerät ins Schlingern. Immerhin!

Einerseits, so Robert Kurz, müsse man Auschwitz aus der „Geschichte der Moderne“ erklären. „Alle Grundelemente des Denkens, das zu Auschwitz geführt hat, entstammen dem breiten Strom der Modernisierungsgeschichte und ihrer Ideologisierung.“ (S. 480) Auschwitz müsse deshalb neben dem Gulag und anderen Arbeits- und Konzentrationslagern als „in den Zwängen der kapitalistischen Produktionsweise“ (S. 487) wurzelnd gesehen werden. Auch Auschwitz „war eine fordistische Fabrik, genau wie ,Volkswagen‘.“ (S. 492) Nur eben eine „negative Fabrik“: die äußerste Konsequenz des warenproduzierenden Systems, die „Vernichtung der Personifizierung des Abstrakten“, so Postone, auf den sich Kurz hier bezieht. Andererseits will Kurz aber Auschwitz nicht in der Geschichte der Moderne verschwinden lassen und betont die Singularität: „Auschwitz als singuläre Tat war spezifisch deutsch.“ (S. 488)

Dieses Wechselspiel von einerseits und andererseits: zwischen dem Anspruch, den „Zusammenhang mit der Logik und der allgemeinen Geschichte des Kapitalismus unter Einschluß seiner westlich-angelsächsischen Varianten sichtbar zu machen“ (S. 487) und dem Bemühen, Auschwitz „in die Kontinuität der spezifischen deutschen Nationalgeschichte zu stellen“ (S. 488), zeigt, daß sich dem klassifikatorischen Denken des Werttheoretikers spätestens hier der Gegenstand entzieht. Anstatt aber das Dilemma zu benennen und das paradoxale Verhältnis, dem das Verbrechen Auschwitz entsprungen ist, als Paradoxie zu thematisieren, flüchtet sich Kurz in einen – seiner populären Fassung der Wertkritik entsprechenden – populären Jargon der Dialektik: „Wie der Antisemitismus im allgemeinen zum Nationalsozialismus im allgemeinen gehört, so gehört Auschwitz im besonderen zur deutschen Nation im besonderen.“(S. 488) Was will er damit sagen? Und was soll folgendes heißen: „Aber das Allgemeine und das Besondere sind immer verschränkt; das Besondere ist das Besondere eines Allgemeinen und das Allgemeine enthält das Besondere.“

Mit dialektischen Phrasen jedenfalls läßt sich das Dilemma, daß eine „negative Historisierung“ sich von einer Historisierung á la Nolte der Form nach nicht unterscheidet, nur schwer verdecken. Explizit will Kurz ja „genau anders herum wie Nolte“ (S. 445) vorgehen, was eine wirkliche Kritik der konservativen Historisierung verhindert. Den von Nolte als „übergreifendes Positivum“ verstandene Liberalismus müsse man „als die bloß mit Orwellschem Vokabular schöngefärbte Welt jener negativen und repressiven Zwangsvergesellschaftung durch die monströse ‚schöne Maschine‘ der ‚Verwertung des Werts‘“ darstellen, und schon sei man vor der Gefahr gefeit, Auschwitz zu relativieren. Kritik aber, die nur im Austauschen von Vorzeichen besteht, bleibt in einem System, das sich geradewegs durch solche Vorzeichenwechsel hindurch reproduziert, notwendig dem System selbst verhaftet. Die Rede von der Singularität von Auschwitz bleibt solange ein Lippenbekenntnis, wie versäumt wird, die erkenntniskritischen Konsequenzen zu ziehen, die die nationalsozialistischen Verbrechen dem Denken auferlegen – Konsequenzen, die dazu führen sollten, eine Historisierung von Auschwitz, sei es nun eine negative wie bei Kurz Kurz oder eine positive wie bei Nolte, als unzulässige Relativierung kategorisch abzulehnen.

Werttheorie mit negativem Vorzeichen

Das gesamte werttheoretische Fundament der kritisch gemeinten Theorie von Robert Kurz besteht im Grunde aus nichts anderem als aus einer prinzipiell zwar richtigen und notwendigen Kritik am wissenschaftlichen Sozialismus (Arbeiterbewegungsmarxismus), die sich aber, da sie sich einem bloßen Vorzeichenwechsel verdankt, in den Fängen des Gesamtsystems verheddert. Während sich die marxistische Tradition positiv auf den Wert bezog – als anzueignenden Mehrwert – wird bei Kurz der Wert in eine ‚negative‘ Kategorie verwandelt: wird zum Allgemeinbegriff, der ihm dazu dient, das System der Warenproduktion als Katastrophengeschichte darzustellen. Obwohl er gegen die marxistische Tradition immer wieder betont, man müsse damit aufhören, nach Alternativen innerhalb der Form der warenproduzierenden Gesellschaft zu suchen, und endlich die Form selber zum Problem erheben und ernst machen mit der „Kritik der politischen Ökonomie“, bleibt Kurz hinsichtlich des Begriffs der Wertform weit unterhalb des von Marx im „Kapital“ erreichten, kritischen Niveaus.(1)

Deutlich wird dies in den Begriffen von konkreter und abstrakter Arbeit. Kurz faßt das Verhältnis dieser beiden Bestimmungen als Gegensatz von Form und Stoff: Der hinter dem Rücken der Menschen bereits existierende stoffliche Inhalt, der „Kommunismus der Sachen“, sei unvereinbar mit „den konträren Subjektformen an der gesellschaftlichen Oberfläche“, heißt es in „Der Kollaps der Modernisierung“. Aus dieser Spaltung der Wirklichkeit in einen „objektiven Zustand“ und den ihm entgegengesetzten Subjektformen – der Spaltung der Wirklichkeit also in ein „An sich“ und ein „Für sich“ – resultiert der Vermittlungsauftrag, dem der Theoretiker sich verpflichtet fühlt. Das Resultat der Vermittlungsanstrengung des Theoretikers – die aus der Analyse der Wirklichkeit resultierende Theorie – muß, so will es das traditionelle Verständnis von Theorie und Praxis, dann noch in ein richtiges Verhältnis zur Praxis gesetzt werden (Vermittlung von Theorie und Praxis), und schon erscheint die „Aufhebung“ des Werts zum Kommunismus nur noch als eine Frage der „Befreiung der Reichtumsproduktion von den absurden kapitalistischen Restriktionen“. (S. 781) Dieser Theoretiker mißachtet in all seinen Anstrengungen jedoch zutiefst, daß die dem warenförmigen Denken geschuldete Spaltung von „an sich“ und „für sich“ vom Kapital längst vermittelt ist.

Das Verhältnis von abstrakter Form und stofflichem Inhalt zum Geheimnis der warenproduzierenden Gesellschaft erklärend – „Es wäre also begrifflich der Widerspruch von STOFFLICHER PRODUKTIVITÄT einerseits und WERT– oder WARENCHARAKTER der Produktion andererseits als Wesenskern der GESCHICHTE DES KAPITALS herauszuarbeiten“ (Die Krise des Tauschwerts, in: Marxistische Kritik, Nr. 1 1986, S. 8) –, geht es Kurz zwar nicht mehr um die alte Illusion des Arbeiterbewegungsmarxismus, also nicht mehr um den Glauben daran, die „Arbeit“ könne sich vom „Kapital“ emanzipieren. Gegen diese Arbeitsmetaphysik, die das Verhältnis von Kapital und Arbeit als „äußere(n) Interessengegensatz“ auffaßt, aber auch gegen die neue Illusion, die darin bestehe, daß „angesichts der beispiellosen Dimensionen finanzkapitalistischer Simulationsprozesse“ der Schein entstehe, „als könne das ,Kapital‘ gewissermaßen für sich alleine weiterakkumulieren – eine kaum geringere Illusion“ (S. 731), führt Kurz „die bislang verborgene Identität von ,Kapital‘ und ,Arbeit‘ ... ihre ökonomische Identität als Form und Substanz des Verwertungsprozesses“ an. Anstatt aber auf den realen Kern der Identität von Form und Substanz zu reflektieren – die gesellschaftliche Totalität (Kapital als automatisches Subjekt) – , nimmt er die ideologische Rede vom Ende der Geschichte allzu wörtlich und will analytisch nachweisen, daß der „Kapitalismus eben gar keine Zukunft mehr hat“ (S. 734). Die Selbstreferentialität des „Simulationsprozesses“ Kapital sei eine Illusion, die es zu zerstören (zu dekonstruieren) gelte. Die im Schwarzbuch angeführten Argumente sind aus zahlreichen Artikeln aus der Zeitschrift „Krisis“ hinlänglich bekannt: Durch eine enorme „finanzkapitalistische ,Fiktionalisierung‘ der Ökonomie“ (S. 730) habe sich die Form vom realökonomischen Inhalt entkoppelt, mit der Konsequenz, daß sich die „spekulative Blase“ so lange aufblähe, bis sie platzen muß, was unweigerlich zum Zusammenbruch (finale Krise) führe; im „Kasinokapitalismus“ sei das Geld „arbeitslos“ geworden und damit „entsubsantialisiert“ (S. 731), deshalb würden sich „sowohl die Produktivkräfte als auch der Vergesellschaftungsgrad immer weniger in die Geldform bannen lassen“ (S. 732), usw. Beim Versuch, den bevorstehenden Zusammenbruch analytisch und empirisch nachweisen zu wollen, transformiert Kurz die Revolutionstheorie von einst in eine Zusammenbruchstheorie, die das Verhältnis von Arbeit und Kapital zwar nicht mehr als Interessengegensatz soziologisiert, die aber gleichwohl den Nexus von Arbeit und Kapital (Wert) verkennt. Kurz hat den wissenschaftlichen Sozialismus, den er eigentlich überwinden wollte, lediglich analytisch auf die Höhe der Zeit gebracht. Sein Denken reproduziert die den Traditionsmarxismus immer schon ‚auszeichnende‘ verkürzte Dialektik von abstrakter Form und konkretem Stoff.

Von abstrakter und konkreter Arbeit zu sprechen macht nur Sinn, wenn beide als Momente eines Dritten verstanden werden, das dieses Verhältnis konstituiert. Marx nennt jenes Dritte Wert. Es ermöglicht, daß Dinge verschiedener Qualität im Tausch verglichen werden können. Wert ist „etwas rein Gesellschaftliches“, enthält „kein Atom Naturstoff“. Eine Abstraktion also, jedoch keine Denk- sondern eine Realabstraktion. Eine Abstraktion, die im Tausch selbst ihren Ort hat. (2) An keiner Stelle in seinem nun doch schon recht umfangreichen Werk wird Robert Kurz dem Problemgehalt dessen gerecht, was Marx, ausgehend vom so gefaßten Begriff des Werts entwickelt, der außerhalb seiner Erscheinung als Tauschwert, außerhalb seiner Verdinglichung im Geld und außerhalb seiner Prozeßhaftigkeit im Kapital keine Wirklichkeit hat. Dort, wo Marx den „mystischen Charakter“ der Ware thematisiert, von theologischen Spitzfindigkeiten und metaphysischen Mucken spricht, wo die Rede von der „verrückten Form“ ist, entmystifiziert, popularisiert und rationalisiert Kurz den an sich selbst irrationalen Gegenstand. Er übersetzt den erkenntnis- und ideologiekritischen Gehalt der Dialektik der Wertform in eine popularisierte Dialektik von abstrakter Allgemeinheit im Gegensatz zur konkreten Allgemeinheit der Arbeit.

Vom Versuch Gott zu denken

Sämtliche von Marx in der Wertformanalyse als reale Paradoxien dargestellte Verkehrungen, wie die, daß das Konkrete (Gebrauchswert bzw. konkrete Arbeit) zur Erscheinungsform seines Gegenteils, dem Abstrakten (des Werts bzw. der abstrakt menschlichen Arbeit) wird, daß in einer Gesellschaft, die sich durch den Wert synthetisiert, nichts so erscheint, wie es ist und doch alles so ist, wie es erscheint, rationalisiert Kurz zu einer Werttheorie, die das Unmögliche möglich macht und das „Problem der ‚Wertgegenständlichkeit‘ in seinen wesentlichen Aspekten“ zu klären vorgibt. Dabei fällt die Einsicht, daß Kritik der politischen Ökonomie nur als Einheit von Ökonomie- und Erkenntniskritik ihren kritischen Anspruch einlösen kann, unter den Tisch zugunsten einer ökonomistischen Marxinterpretation, die Kurz 1987 in der „Marxistischen Kritik“ (3) , der Vorläuferzeitschrift der „Krisis“, vorlegte und die seitdem seinen Analysen im wesentlichen unverändert zugrunde liegt.

Dort präsentiert er eine Werttheorie, die den inneren Zusammenhang von Wert (Tauschwert) und Gebrauchswert in „zwei Ebenen des Wertform-Begriffs“ aufspaltet. Allen Ernstes behauptet Kurz, man müsse die Natur der ‚unfaßbaren‘ Form der Wertgegenständlichkeit an einer einzelnen Ware aufzeigen können, denn die abstrakte Wertgegenständlichkeit der Waren sei der Tauschrelation vorausgesetzt. Bereits im Übergang von der Arbeit zum Wert der einzelnen Ware, den der Wertform-Begriff der ersten Ebene reflektieren soll, erhalte die einzelne Ware die Form der Wertgegenständlichkeit, Wertform komme der Ware also „logisch noch ‚vor‘ der Tauschrelation“ zu. (4)

Aus einer richtigen Kritik an der Arbeitsmetaphysik des Traditionsmarxismus zieht Kurz die falsche Konsequenz: Er kann der Versuchung, Wert aus der Arbeit abzuleiten, nicht widerstehen und verfehlt dadurch die Dialektik der Wertform, der nur negativ, durch Kritik an prä-monetären Werttheorien, beizukommen ist. Kurz dagegen versucht einen Begriff der Wertform logisch unabhängig vom Geld zu entwickeln. Geld, so Kurz, spiele erst auf einer zweiten Ebene, beim Übergang vom (bereits konstituierten) Wert zu dessen Erscheinungsform, dem Tauschwert, eine (aus der Volkswirtschaftslehre allzu bekannte) Rolle – es fungiere als Schleier: „Der Austausch selber oder der Tauschakt ist es, der im praktischen Handeln die fetischistische Natur der ‚Wertgegenständlichkeit‘ verschleiert und im Bewußtsein verfestigt, statt sie zu offenbaren. (...) Das hier einstweilen bloß ideell vorgestellte Geld (als Preisausdruck des Produkts) verschleiert den fetischistischen Charakter des gesellschaftlichen Daseins vergangener Arbeit.“(MK 4, S. 100)

Um die vom Tauschwert angeblich verschleierte Wertgegenständlichkeit in den Griff zu bekommen, versucht Kurz die Metaphorik, mit der Marx die Realparadoxie Wert umschreibt („Wertgegenständlichkeit“, „Fetischismus“ „dinglicher Schein“, „gespenstige Gegenständlichkeit“ etc.) für eine Ableitung des Werts aus der abstrakten Arbeit fruchtbar zu machen. Er will das „Rätsel“ des Warenfetischs lösen, indem er „die Verwandlung der abstrakten Arbeit oder des realabstraktiven Handelns in eine abstrakte dingliche Gegenständlichkeit“ (MK 4, S. 87) nachzuweisen sucht. Doch was „realabstraktives Handeln“ ist, was die an anderer Stelle immer wieder erwähnte „Verausgabung abstrakt menschlicher Arbeit“ sein soll, mag nicht so richtig einleuchten. Und weil alles ziemlich schleierhaft ist, zieht Kurz auch hier sämtliche dialektische Register: „Um diese Struktur (den Warenfetisch) wirklich verstehen zu können, ist freilich abermals ein Rückgriff auf die Hegelsche Begriffswelt notwendig, in deren Terminologie sich alle beweglichen, in sich widersprüchlichen, gegensätzlichen Momente zu einer Einheit zusammenfassenden ‚Gegenstände‘ oder Verhältnisse unnachahmlich ausdrücken lassen.“ (MK 4, S. 98) Dort wo es Marx darum geht, zu zeigen, daß es nur das „bestimmte gesellschaftliche Verhältnis der Menschen selbst (ist), welches hier für sie die phantasmagorische Form eines Verhältnisses von Dingen annimmt“ (MEW 23, S. 86) – wo es also um Ideologiekritik geht – sieht Kurz in einer Dialektik von „An Sich“ und „Für Sich“ die Grundlage zur Aufhebung der Wertvergesellschaftung zum kommunistischen „An und Für Sich“. „Die wirklich konkrete Arbeit in ihrer Gesellschaftlichkeit ist das wahre ‚An Sich‘ des im Wert bloß ‚ausgedrückten‘ gesellschaftlichen Verhältnisses. Aber dieses wirkliche ‚An Sich‘ ist als solches nicht ‚für‘ die privaten Warenproduzenten. Die wirkliche gesellschaftliche Produktion der Individuen ist so nicht die Identität eines ‚An und Für Sich.’“(MK 4, S. 99)

Aus dieser Zwei-Ebenen-Konstruktion resultiert dann jene Theorie des Werts, die – unter Verzicht auf die Reflexion der eigenen Erkenntnisform – so tut, als könne sie das automatische Subjekt Kapital denken wie einen dem Denken gegenüberstehenden Gegenstand, könne es also verstehen. Dies jedoch kommt dem Versuch gleich, Gott zu denken, und mündet in nichts als Rationalisierung des an sich selbst Irrationalen: in notwendig falsches Bewußtsein.

Verrückter oder gesunder Kapitalismus

Mit seinem Begriff von Wertvergesellschaftung, der dort Eindeutigkeit erheischt, wo die Irritation des Denkens ihren Anfang haben müßte, macht Kurz das, was Wissenschaft seit Beginn der Neuzeit tut: er ordnet und katalogisiert das vorgefundene Material. So redlich die schwarze Historisierung des Kapitalismus durch Robert Kurz auch ist (verglichen insbesondere mit der postmodernen Geschichtslosig- und Beliebigkeit): er reproduziert die wissenschaftliche Denkform. Er reduziert – wie jede gute Theorie – Komplexität, produziert ein in sich schlüssiges System und wird so, wenn auch unfreiwillig, in der Form seines Denkens zum affirmativen Theoretiker des von ihm gehaßten Systems.

Von den Apologeten der Marktwirtschaft unterscheidet ihn die These, daß die dunklen Seiten des Kapitalismus keine negativen Auswüchse eines an sich richtigen Systems sind, sondern daß das System selbst das abzuschaffende Problem darstellt. So kann er zeigen, daß das (alte und neue) völkische und biologistische Denken nicht im Gegensatz zum demokratischen Denken des Liberalismus steht, sondern diesem entspringt. Doch er versäumt es, auf das realmetaphysische Grundproblem kapitalistischer Gesellschaft – das durch die Sache selbst gesetzte Problem der Synthesis durch den Wert – zu reflektieren, das in der ideologischen Rede von der „unsichtbaren Hand“, in der im liberalistischen Denken das unverstandene Allgemeine benannt wurde, zum Vorschein kommt. Kurz übersetzt statt dessen die positive Metaphorik von der „schönen Maschine“ in die ,negative‘ vom häßlichen „Terrorsystem der abstrakten Arbeit“. Den ideologiekritischen Gehalt der Kategorien Wert, abstrakte Arbeit und automatisches Subjekt verfehlend, stiftet er Eindeutigkeit und Klarheit dort, wo materialistische Kritik den Ort ihrer Intervention haben müßte.

Anders als im „Kapital“ von Marx wird in der Werttheorie von Kurz der Gehalt des mit der Rede von der verrückten Form gemeinten nicht wirklich eingelöst. Verrückt ist die Form bei Kurz nur deshalb, weil sie rein selbstbezüglich ist, weil das System ein selbstreferentielles ist, eine „Selbstzweckmaschine“. Verrückt ist im Verständnis von Kurz das wertförmige Produktionssystem deshalb, weil es – so will es seine Krisentheorie – permanent und mit zunehmender Beschleunigung an seinem eigenen Untergang arbeite, indem es seine Quelle – die Arbeit – reduziert. Verrückt ist es, weil das Verhältnis von Arbeit (produktives Kapital) und Geld (spekulatives Kapital) auseinander drifte, was zwangsläufig zum Platzen der spekulativen Blase führe und so den Zusammenbruch des Systems einleite. Doch der Gedanke, daß die gesellschaftliche Totalität (Synthesis durch den Wert), das Verhältnis von Wert in Geldform und Wert in Form von lebendiger Arbeit (Marx zufolge der Gebrauchswert des Kapitals) immer wieder neu reguliert, mit jeder Krise, die der Alltag des Kapitalismus ist, neu hergestellt wird, ist dem Werttheoretiker Kurz fremd. Anders als Marx, dessen Krisenbegriff nicht vom Wertbegriff zu trennen ist, der also keine eigenständige Krisentheorie neben der Werttheorie entwickelt hat und der deshalb Krise nicht als Ankündigung des bevorstehenden Zusammenbruchs begreift, sondern als Selbstreinigungsmechanismus des Kapitalismus,(5) legt Kurz seiner Krisentheorie einen verkürzten Wertbegriff zugrunde, was dazu führt, daß er dieselben empirischen Daten zur Untermauerung seiner Zusammenbruchstheorie heranzieht, die anderen (zum Beispiel Ebermann/Trampert in ihrer „Offenbarung der Propheten“) als Beweis für das genaue Gegenteil dienen: nämlich der These, daß es dem Kapitalismus so gut wie nie zuvor gehe. Wer hier recht hat, bleibt eine Frage der üblichen Spiegelfechterei unter Wissenschaftlern, also des Glaubens.

Verrückt ist die Wertform aber nicht, weil sie als „Selbstzweckmaschine“ unaufhaltsam auf ihren Zusammenbruch zusteuert, sondern aus anderen Gründen. Sie ist nicht zuletzt deshalb verrückt, weil (spätestens nach Auschwitz) kein vernünftiger Grund für das Fortbestehen des kapitalen Ausbeutungs- und Herrschaftsverhältnis angegeben werden kann. Von einem Kritiker des Kapitalismus wäre nicht die richtige Theorie der falschen Gesellschaft zu erwarten, sondern ein Beitrag zu deren Überwindung. Die aber ist keine Frage der richtigen Analyse oder Theorie, sondern der praktischen Abschaffung.

Martin Janz (BAHAMAS 31/2000) (Bahamas 31 / 2000)

Anmerkungen:

  1. Eines Niveaus wohlgemerkt, das im „Kapital“ trotz der nicht zu vernachlässigenden, hier aber nicht weiter zu erörternden Ambivalenz erreicht ist, die darin besteht, daß Marx auch eine mit dem Marxismus durchaus kompatible Arbeitsmetaphysik vortrug: er vom Arbeiterbewegungsmarxismus also nicht vollkommen grundlos in Anspruch genommen werden konnte.
  2. Der Marxsche Begriff von Abstraktion unterscheidet sich fundamental von dem von Robert Kurz: Während Marx von der Realabstraktion Wert ausgeht, die mit Arbeit zunächst rein gar nichts zu tun hat, sondern aus der Tauschrelation resultiert, denkt Kurz Abstraktion ausgehend von der Arbeit: „Abstrakte Allgemeinheit der gesellschaftlichen Arbeit aber bedeutet umgekehrt genau dies, daß nämlich die gesellschaftliche Allgemeinheit der Arbeit (...) real GETRENNT ist von diesem inhaltlichen Reichtum der besonderen nützlichen Arbeiten in ihrer Vielfalt der konkreten gesellschaftlichen Arbeitsteilung.“(Abstrakte Arbeit und Sozialismus, in: Marxistische Kritik 4, S.Das Abstrakte ist für Kurz also abstrakt, weil es getrennt ist von der stofflichen Seite, abstrakt ist Arbeit deshalb, so Kurz im Schwarzbuch, weil Arbeit sinnentleert und inhaltlich gleichgültig ist und die Menschen „ihre gesamte produktive Tätigkeit dem abstrakten Selbstzweck des Geldes (aus Geld mehr Geld machen) ausliefern“. (S.
  3. Robert Kurz: Abstrakte Arbeit und Sozialismus. Zur Marx‘schen Werttheorie und ihrer Geschichte, in Marxistische Kritik 4, Dez. 1987
  4. Dieser Artikel ist übrigens ein schönes Beispiel dafür, wie man nahezu alle für eine ideologiekritische Lesart relevanten Stellen des „Kapital“ zitieren und doch haarscharf am intendierten Gehalt vorbei argumentierten kann. Folgendes Zitat aus dem Fetischkapitel des „Kapital“ sucht man allerdings vergebens: „Erst innerhalb ihres Austauschs erhalten die Arbeitsprodukte eine von ihrer sinnlich verschiedenen Gebrauchsgegenständlichkeit getrennte, gesellschaftlich gleiche Wertgegenständlichkeit.“ (MEW 23, S.
  5. Was wiederum nicht heißen soll, daß Marx nicht auch Revolutionstheoretiker war, doch das gehört nicht hierher, sondern wäre, wie schon gesagt, unter dem Thema: „Ambivalenz der Marxschen Ökonomiekritik“ gesondert zu behandeln.

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