Titelbild des Hefts Nummer 34
Hauptsache Sexualität
Heft 34 / Frühjahr 2001
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Bandenkrieg um die Villa Kunterbunt

Gegen die Schrecken der desexualisierten Infantilgesellschaft hilft nur noch die Notbremse

Über manches schweigt man besser. Das ungläubige Erstaunen, das Berichte aus fremden Lebenswelten beim nicht eingeweihten Zuhörer hervorrufen, schlägt stets auf denjenigen zurück, der tatsächlich dabei gewesen und anscheinend so vertraut mit den befremdlichen Ritualen ist, daß er, obgleich um distanzierte Berichterstattung bemüht, mit dem Geschilderten identifiziert wird. BAHAMAS-Redakteure haben ihre Not mit der Schilderung eines Oktober-Abends im letzten Jahr. Wie soll man einem Freund in Westdeutschland begreiflich machen, daß ausgerechnet auf einer Veranstaltung der BAHAMAS, nach einer langen Reihe relativ gepflegter Diskussionsabende, mit Suppenlöffeln und Trillerpfeifen ausgerüstete Leute auftauchen, die kaum, daß man beginnen wollte, rhythmisch zu heulen, pfeifen, topfschlagen und stampfen begannen? Wie erzählen, daß sie nicht zu ihrer Therapiegruppe wollten und nur den Raum verwechselt hatten, daß sie tatsächlich auf eine BAHAMAS-Veranstaltung wollten, um dort so lange zu lärmen, bis die Referenten den Saal verlassen haben würden? Außenstehenden muß der Vorfall wie eine Episode aus einer fremden oder parallelen Welt erscheinen, und BAHAMAS-Redakteuren geht es wie Nichtrauchern nach einem Kneipenbesuch: Noch Tage danach beriechen sie ihre Kleidung, ob nicht vielleicht immer noch Spuren des vermaledeiten Geruchs darin sitzen könnten.

Diesem Einbruch von Angehörigen einer gespenstischen Welt war ein nicht enden wollendes Gespräch über einen Fall von schlechtem Sex aus dem Jahr 1998 vorausgegangen. Geführt in schlecht gelüfteten Friedrichshainer Kneipen, veganen Wohngemeinschaften, die von Hunden mitbewohnt werden, betratscht in staatlich bezuschußten Frauenprojekten, linken Buchhandlungen, antirassistischen Initiativen, weitergetragen auf bundesweite antifaschistische Treffen und selbsttätig fortlabernd bis hinein in wertkritische Zirkel in Wien.

Eines Abends im Dezember 1998, irgendwo im widerständischen Berliner Bezirk Friedrichshain, hat eine Frau mit einem Mann geschlafen und es hat keinen Spaß gemacht. Vorausgegangen war eine verkorkste Beziehung und eigentlich hatte man längst miteinander Schluß gemacht. Die schlechtesten Zugaben – das weiß man eigentlich – sind die Liebesnächte nach der Liebe, wenn nur noch die Gewohnheit des Sexualakts geblieben ist. Der Held des kleinen Dramas also hat es noch einmal wissen wollen und alles, was ihm an Charme und körperlicher Ausstrahlung zur Verfügung stand, noch einmal massiv zum Einsatz gebracht, fast wie in den besten Zeiten. Und es ist ihm gelungen, zum Ziel zu kommen. Er habe ihr Lust machen wollen, gibt die Frau später zu Protokoll, obwohl sie mehrfach gesagt habe, sie wolle nicht mit ihm schlafen. Mit der Frau sind Tausende Schlüssellochgucker zu dem Ergebnis gekommen: „Es ist eine Vergewaltigung“. Deren Vorhut hat zum Suppenlöffel gegriffen und eine BAHAMAS-Veranstaltung heimgesucht.

Schlechter Sex – die Geschichte zweier Kieze

Nun ist ja schlechter Sex nicht allein das private Unglück Friedrichshainer Vegetarierinnen mit irgendwie linkem Anspruch. Exlinke oder inzwischen linksliberale Frauen, die etwas weiter westlich leben, etwa in Charlottenburg oder Schöneberg, verarbeiten das gleiche Erleben anscheinend etwas anders. In den meisten Fällen würde dort eine vergleichbare Begebenheit von der „betroffenen Frau“ mit der an die eigene Person gerichteten Aufforderung, mehr „Selbstbewußtsein“, Entscheidungsfreudigkeit zu zeigen, Wissenmüssen „was ich selber will“, „was für mich gut ist“ und so weiter, rezipiert werden. Weiter westlich gehen Frauen davon aus, daß das, was ihnen im Beruf abverlangt wird, wenn sie bestehen wollen, auch für das Privatleben gilt. Die Devise heißt: an sich arbeiten. Der persönliche Kummer über einen alltäglichen Vorfall wie dem, der dem Friedrichshainer Sexskandal zugrunde liegt, endet mit dem Anspruch an sich selbst, in Zukunft nicht mehr dem Typ, sondern dem vorher gefaßten eigenen Vorsatz zu folgen. Ob solches Verarbeiten wirklich gelingt, ob die dauernde Selbsterforschung gerade über unbegriffene, ja feindliche Instanzen des eigenen Trieblebens, dem Ich wirklich Handlungsanleitungen für eindeutige Antworten auf zutiefst zweideutige Situationen gibt, darf bezweifelt werden. Das darin enthaltene Selbstvertrauen, das den vereinzelten Einzelnen auf Welteroberung und Bestehen-müssen eicht und wie Robinson auf seiner Insel nur noch Sieg oder Untergang kennt, wird im regelmäßigen Scheitern – an der Liebe, im beruflichen Aufstieg, noch im Sportverein – entweder einen zerquälten Klienten von Therapeuten, Psychologen oder Selbsthilfegruppen produzieren, oder andernfalls einen jener obstinaten Mittelstandssubjekte, die sich und den anderen ununterbrochen Erfolgsbilanzen vorlegen, denen zufolge man eigentlich zufrieden sein könne, obwohl psychisches Elend und materielle Dürftigkeit aus jedem Knopfloch lugen. Und dennoch bleibt zwischen zwei Bezirken und zwei Lebenswelten ein Unterschied festzuhalten, der einer ums Ganze ist. Während dort schlechter Sex in der Regel als Problem bzw. Defizit der eigenen Subjektzurichtung rezipiert wird, wird er hier externalisiert, d.h. als äußere Gewaltanwendung begriffen.

Die angestammte Heimat der Putztruppe

Die Autonomen folgen, seit es sie gibt – also von Fischer Jockels Putztruppe bis zu den Berliner Interim-Lesern – , dem immer gleichen Projekt, Politik der ersten Person machen zu wollen. Der einst erfreulichen Einsicht, gegen die Verhältnisse auch dann anzustinken, wenn der historische Istzustand weder einen fortschrittlichen Trend noch das dazugehörige Subjekt bereithält, ist eine im Wort autonom aufschimmernde Maßlosigkeit gefolgt, deren Folgen man von Anfang an hätte kennen müssen. Dem eigenen revolutionären Impetus stets das Wissen um die eigene Marginalität entgegenzuhalten, dem Willen zur Himmelstürmerei also mit der jedenfalls aktuell objektiven Unmöglichkeit zu kommen, ist zweifellos eine Veranstaltung, die der ganzheitliche Mensch nicht aushält. Autonom meint zunächst in durchaus antikommunistischer Absicht, nicht nur das Mißtrauen gegen eingetretene Pfade, sondern darüber hinaus die Ahnung, daß der Kommunist, obgleich in der Regel mit der Psychoanalyse auf Kriegsfuß, dem Menschen wie er ihn vorfindet mißtraut und eigentlich einen ganz anderen will und als radikaler Kritiker jeder Reform also gerade der Lebensreform nichts abgewinnen kann.

Je hilfloser sich die Politik aus dem Stand erwies, desto verkrampfter hielten die autonomen Politiker am Fetisch der ersten Person fest. Die Welt draußen geriet zum Schemen, die Innenwelt dafür umso scheinbar plastischer zur Wirklichkeit. In der dauernden Bemühung um Häuser, auf die man als Straßenkämpfer oder Hausbesetzer Zugriff nahm, manifestierte sich das autonome Kollektiv als Abschottungsbewegung von einer Welt, der es nicht imponieren kann. Je unwirklicher die „Angriffe“ gegen Bonzen, Nazis oder die Polizei gerieten, desto übermächtiger entwickelte sich der Einzelne zum Größenwahnsinnigen. Aus einer marginalen Subkultur, die sich radikale Gegner der toten Verhältnisse vielleicht um des Überlebens willen zulegen müssen, entwickelte sich eine sehr reale Subkultur gesellschaftlicher Parias, die als Avantgarde nur noch in soweit gelten können, als sie scheinbar freiwillig auf sich nehmen, was immer mehr Menschen durch den Zwang der Verhältnisse zugemutet wird: Leben von minimalen Sozialleistungen oder prekären Gelegenheitsjobs, leben auf beengtem Wohnraum mit schlechten sanitären Einrichtungen und vielfach tatsächlich von so wenig Geld, daß sich dem allgemeinen Äquivalent fast schon notwendig Elemente des Naturaltauschs an die Seite stellen. Dem solcherart Marginalisierten eignet der abgewetzte Stolz des verarmten deutschen Intellektuellen, des erfolglosen Künstlers und nicht nachgefragten Akademikers. Seine Armut trägt er mit Stolz, seine reale Überflüssigkeit ist ihm Signum für die Überflüssigkeit der Welt und sein Ich ist ihm alles. Was der falschen Maßlosigkeit, autonom, also frei und unabhängig von der Welt sein zu wollen, innewohnt, haben heutigen Autonomen ganze Generationen deutscher zu kurz Gekommener vorgemacht: Zwei existentialistische Nachkriegsgenerationen, von denen die erste den nächsten Krieg gleich aktiv mit vorbereitet hat und die zweite zum Glück im Wirtschaftswunder ersoff und Baskenmütze und Denker-Pfeife gegen Rasenmäher und Golfschläger eintauschte. Die Welt mußte ihnen wie ihren Friedrichshainer Enkeln als in Unordnung und um ihr Wesentliches beraubt erscheinen und nur auf die Prinzen und Prinzessinnen zu warten, denen die Fähigkeiten zum Wachküssen eignet. In der Wagenburg oder dem befreiten Kiez harren sie heute ihres Einsatzes und arbeiten zunächst an sich selbst ab, was sie mit der Welt einst noch vorhaben. Identität ist das Zauberwort, das den deklassierten Mittelständler vom bierdosenbewehrten Subproletarier bedrohlich unterscheidet. Wie schon die Kumpaneien deutscher Natursucher der ersten Generation in ihren Tessiner Kommunen nur in der größtmöglichen gegenseitigen Akzeptanz des je eigenen Spleens funktionierten, weiß die Versammlung autonomer Identitärer nur zu gut, daß jeder Einzelne in seiner ganzen persönlichen Strahlkraft, seinen unverwechselbaren Eigenschaften, seiner Kreativität und seinen Utopien zu achten sei. Die lausigen Versuche, Musik zu machen, künstlerisch kreativ zu sein, oder an sich zu arbeiten, sei es im Kampfsportstudio oder in der Beschäftigung mit veganen Kochrezepten, gelten als unbedingt zu achtender Ausdruck individueller Persönlichkeitsentwicklung.

Für die Gesellschaft übersensibel

Im einzelnen Tun ist die Arbeit an sich selbst durchaus verwandt mit dem der Schöneberger Mittelstandslinken, von der oben die Rede war. Der Unterschied liegt in der existentialistischen Gesamtkultur der Freiräume, in denen es stattfindet. Die Schönebergerin wird regelmäßig ihre Arbeit an sich selbst in ein scheinbar produktives Verhältnis zu einer ganz normalen Welt setzen, in der sie bestehen will. Das Joggen dient dem Erhalt des Körpers für den Arbeits- und Liebesmarkt, das Hobby der Kontaktpflege und Aufrüstung der Persönlichkeit mit Unverwechselbarem, und im intimen Umgang mit dem Liebhaber befragt man sich selbst auf die eigene Beziehungsfähigkeit. Ähnlich den Friedrichshainern weiß auch sie, daß eigentlich Größeres in ihr steckt, daß sie für ganz andere berufliche Aufgaben als die ihr gestellten und ganz andere Männer als die für sie erreichbaren geschaffen sei. Auch sie neigt dazu, in der realen Welt verschwörerische Tendenzen, Intrigen gegen die eigene Person und strukturelle Gemeinheiten, die sie unmittelbar schädigen, zu vermuten. Die Robinsonade der Mittelstandsexistenz erkennt mit Schaudern das Herz der Finsternis, den geisterhaft bevölkerten Urwald, der sich nicht ihrer individuellen Zurichtung fügen will, sondern zurichtend nach ihrer Persönlichkeit, ihrem Schicksal ausgreift. Aber noch führt sie den Kampf, noch agiert sie wirklich in der ersten Person. Friedrichshainer Prekären ist der Rest Objektbezug zur Welt und zum menschlichen Gegenüber, an dem die Schönebergerin noch festhält, gänzlich abhanden gekommen. Ihr lautstarkes Behaupten des selbstbestimmten Einzelnen ist bereits Indiz dafür, wie kümmerlich es ums eigene Ich bestellt ist. Nicht zufällig ist es um die angeblich so vielfältigen kulturellen Beschäftigungen von Leuten aus der Szene mager bestellt. Sie verweigern den sauren Schweiß, den die Schönebergerin im Aquarellmalkurs oder beim Tangolernen vergießt, alles bleibt wie beim verzogenen Kind kaum angefangen liegen. Der ursprüngliche Impuls, sich selbst zum liebenswerten Objekt zu machen, um vom geliebten Objekt beschenkt zu werden, bäumt sich kurz auf und fällt zurück in Apathie. Und auf alles gibt es eine Antwort: Dem Recht auf Selbstbestimmung gesellt sich die Begründung fürs Scheitern bei im penetranten Einbekennen, verletzt worden zu sein. Die Unfähigkeit fürs normale Leben, das gleichwohl das einzig reale ist, wurde schon vor Jahren in einem denkenswerten Klospruch im EX verewigt. Dort hieß es: „Autonome Jugend – für die Gesellschaft übersensibel“. Wo es an Liebenswürdigkeit genauso fehlt wie an Eigenschaften oder Fähigkeiten, die Bewunderung, gar Zuneigung und schließlich triebhafte Begierde auf einen ziehen, bleibt Sensibilität zurück. Der vermessene Anspruch, gerade deshalb, weil einem nichts gelingt, kein Vorsatz zur Durchführung kommt und jede Lebensäußerung linkisch und ungeschlacht ausfällt, ein Anrecht darauf zu haben, geliebt zu werden, macht sie einer anderen Generation, der Generation Heidegger, so ähnlich. Ihre Sensibilität schließlich ist das Einzige, das bleibt. Sie vermag zum ernsthaften Erlernen des Saxophonspielens genausowenig herhalten wie zu irgendeiner anderen stillen Beschäftigung mit sich selbst. Die Verwundbarkeit läßt sie Nähe suchen zu anderen Verwundeten, die es genausowenig in ihrem eigenen Zimmer aushalten können. Die einander Nahen wiederum wissen sich nichts zu sagen, also reden sie über andere. Damit überspielen sie, daß sie nicht zueinander finden können und sich trotzdem gegenseitig brauchen. Die Ich-Generation wacht eifersüchtig darüber, daß das Mittelmaß keiner Störung unterworfen wird, kein Wort verletzt (man tratscht ja nur hinter dessen Rücken über einen anderen) und kein Tun in den Bannkreis der größenwahnsinnigen Sensibilität des Gegenübers eingreift. Daß dort, wo kein individueller Antrieb mehr ist, der persönliche Willen groß geschrieben wird, verwundert nicht. Die Generationen deutscher Deklassierter waren stets Männer und Frauen des Willens, dessen Äußerung die böse Tat als entmenschlichte und hinterher gar nicht gewollte Kollektivtat auf den Fuß folgen mußte. Der Voluntarismus als Versuch, den Stier einfach bei den Hörnern zu nehmen und dem eigenen Willen gefügig zu machen, wird, auf ein ichschwaches Kollektivsubjekt übertragen, genausowenig geeignet sein, in der eigenen, geschweige denn der äußeren Welt etwas zu bewegen. Er kann aber als voluntaristische Skrupellosigkeit gegen Einzelne sich wenden, die sich eines Fehlverhaltens gegen die Gruppe haben schuldig werden lassen. Inszenierung und Methoden im Kampf gegen die Identitätsverletzer haben nicht zufällig Züge des ritualhaften Gebarens der Feme, in der eine zur großen Familie halluzinierte Volksgemeinschaft in einer operettenhaften Mischung aus staatlicher und clangebundener Justiz den Stab über den mißratenen Sohn bricht und ihn ausstößt.

Vom Umgang mit dem Mißbrauch

Je schwieriger die psychosoziale Situation eines Menschen sich gestaltet, je offensichtlicher für andere die aus den Fugen geratene Persönlichkeit sich präsentiert, desto verbissener wird häufig vom Beschädigten das Offensichtliche zurückgewiesen. Offensichtlich von Instanzen getrieben, die er nicht mehr unter Kontrolle hat, und dem normalen Alltag immer weniger gewachsen, nervt er sein ihm Hilfe antragendes Umfeld mit der verrückten Behauptung, alles sei in Ordnung. Gewiß, so wird er ausführen, gebe es Probleme, Probleme allerdings, die reinlich zu scheiden seien von zerstörerischen Kräften, die im Inneren des auf ein Bündel Elend Geschrumpften so offensichtlich ihre Arbeit tun. Sich selbst definieren zu können, mit absolutistischer Gewalt über sich selbst zu verfügen und damit auch kategorisch und unhinterfragbar Auskunft über sich selbst zu geben, ist Voraussetzung menschlicher Subjektivität wie Indiz für ihre Auflösung zugleich. Im verrückten Anspruch, seines Glückes Schmied sein zu dürfen, in der Anmaßung, für alles allein verantwortlich zu sein und sein Schicksal selber bestimmen zu können, versichert sich der bürgerliche Mensch seiner selbst. Das zersprungene Subjekt indes gibt lediglich vor, über sich selbst und seine scheinbare Intaktheit Auskunft zu geben. In Wirklichkeit hat es sich längst auf Tätersuche begeben. Die Definitionsmacht über sich selber als schrulliges Festhalten am aufklärerischen Menschheitsanspruch kündet schon von der vermeintlich freiwilligen Vereinzelung des Bürgers, dessen Schicksal die Vereinsamung ohnehin ist. Gestört fühlt er sich noch in der Periode seiner scheinbaren Allmacht, wenn die Geschäfte laufen und die Familie blüht, von fremdem Zugriff, der den Geschäftsgang belasten, die Kinder verziehen und die Ehefrau abspenstig machen könnte. Aus den Fugen geraten definiert er allein seine Beschädigung, also nicht sich selbst als die unglückliche Karikatur dessen, was ein Mensch sein könnte, sondern als Opfer eines höchst konkreten Angriffs durch einen nicht minder konkreten Täter. Seine beschädigte Subjektivität flüchtet sich in den Opferstatus, der ihm dazu verhilft, eine Ersatz-Subjektivität, die fürs Ganze stehen soll, auszubilden. Dem ganz normalen Verfolgungswahnsinnigen glaubt man nicht, vielleicht weil seine Geschichten in lediglich ver-rückter Weise die lebenslängliche Verfolgung des Einzelnen bis hin zum Zusammenbruch so deutlich wiedergibt, das schon der Selbstschutz das noch intakte Gegenüber auf Abwehr gehen läßt.

Diesen irgendwann einmal psychiatrisierten Opfern der Gesellschaft stehen Invaliden der totalen Vergesellschaftung gegenüber, die auf jedes Verständnis zählen dürfen. Sie sollen in oft schon exhibitionistisch anmutender Weise ihren Mitmenschen das Unglück ausbreiten, das ihnen widerfuhr, und in ihnen, den Mißbrauchten, sollen die anderen ihr eigenes Unglück erkennen oder doch die Nähe zum Unglück, dem sie gerade noch entronnen sind. Gemeint ist nicht der Mißbrauch, den Staat und Gesellschaft durch die andauernde Zurichtung, den ewigen Bruch individuellen Wollens, bevor es noch eine Vorstellung von sich hat, ihren Subjekten antut. Briefmarkensammeln oder ehrenamtliche Kassenwartstätigkeit im Sportverein, die ganze jämmerliche Welt der Freizeit als bedrückendes Resultat lebenslänglichen Mißbrauchs, der die Einzelnen erst auf so sinnvergessenes Tun hat verfallen lassen, ohne daß man einen individualisierbaren Täter finden könnte, davon ist natürlich nicht die Rede.

Nein, es bedarf einer konkreten Schädigung, deren Folgen dann alles entschuldigen und es bedarf nicht minder konkreter Täter. Mißbrauch meint daher allein den Anschlag auf die vermeintlich ursprüngliche Unschuld des Kindes, die der Erwachsene nie bewältigen würde.

Wie nahe benachbart Schöneberg und Friedrichshain in Wirklichkeit sind, bezeugt die Genese der Beschäftigung mit dem Mißbrauch. Lange ist es her, die jüngsten „Enthüllungen“ über Daniel Cohn Bendits Zeit im Kinderladen stehen dafür, als alle Linken, also sowohl solche, die später in Schöneberg sich um die Zukunft der taz sorgen würden wie diejenigen, die heute in Friedrichshain selbstbestimmt leben, noch über Sexualität sprachen und sie keinem, auch nicht den Kindern absprachen. Zwar spricht einiges dafür, daß Vater oder Kita-Erzieher den Zugriff des kleinen Mädchens auf sein Glied besser zurückweist und sind erhebliche Zweifel an der Ersprießlichkeit der pädophilen Hinwendung zum Kind angezeigt; wo jedoch die Grenze zwischen sexueller Gewalt und einer auf Gegenseitigkeit beruhenden sexuellen Beziehung verlaufen, bleibt ausgeklammert. Schon die Frage ist Blasphemie und indiziert Mittäterschaft. Statt sich von der höchst umtriebigen sexuellen Aktivität der Kinder, die eben keineswegs allein sich gegenseitig befingern, sondern immer schon ihre genitale Triebenergie auf Eltern, ältere Geschwister und andere Erwachsene lenken, wenigstens eine Vorstellung zu machen und ihnen die Unschuld, die sie nie hatten, endlich abzusprechen, wird eine Mißbrauchsdebatte aufgeführt, die die wirklichen Opfer schon nicht mehr meint, sondern zur Kollektivveranstaltung mißbrauchter Deutscher wird. Neben der volksgemeinschaftlichen Veranstaltung, haltet den Sexualtäter, birgt die Sorge um die Unschuld des Kindes das Verlangen, wieder Kind sein zu dürfen und aus den Fängen der Welt, die dem Subjekt mit ihren Zumutungen nur Ängste und keine Zuflucht bietet, fliehen zu dürfen. Als mißbrauchtes Kind, als um seine narzißtische Omnipotenz gebrachtes zerstückeltes, gedemütigtes, der Willenskraft beraubtes Wesen wähnt sich der Friedrichshainer, der den selbsttherapeutischen Ansatz, den die Schönebergerin auf der Suche nach dem frühkindlichen Mißbrauch noch umtreibt, überbietet.

Anna und Artur werden kastriert

Ein unbändiges, unberechenbares, über gewitzteste Formen der Irritation und Sabotage am gesellschaftlichen und staatlichen Herrschaftsanspruch verfügendes Wesen schreibt sich der Autonome selber zu. Den sogenannten Normalos unendlich überlegen durch seine Unmittelbarkeit und sprudelnde Lebenskraft, sucht sich die Selbstzuschreibung mit großer Häufigkeit ein Bild im Kind. Der witzige kleine Junge mit der Zwille, das frech grinsende zahnlückige Mädchen, das zum Erbrechen bekannte Kinderbild aus der Jahrhundertwende, das ein recht dickköpfig wirkendes Geschwisterpaar darstellt, die als Anna und Artur, die das Maul halten, durch die Szene kursierte, all das sind auf Veranstaltungsplakaten und Interim-Titelbildern penetrant wiederkehrende Chiffren für ursprüngliche Widerständigkeit. Interessanterweise stehen ihnen ab und an reichlich derangierte Greisinnen und Greise zur Seite, die im Stadium der dementen zweiten Kindheit freundlich, aber irgendwie vertrottelt und ebenso zahnlückig grinsen. Die Flut der Kinderbilder, die alle auf Pippi Langstrumpf zurückgehen, und die paar Greise versinnbildlichen Anfang und Ende eines Lebens, dessen Mitte unter Verdacht steht. Das Kind darf keine Sexualität haben und dem Greis wird unterstellt, er habe das Interesse daran inzwischen verloren. Fast schon religiös treten zwei Stadien der narzißtischen Unschuld einem entgegen, und natürlich wird unterschlagen, daß die Sabotage der Kinder nur allzu häufig mutwillige Zerstörung stiftender Ausdruck narzißtischer Kränkung ist und im obstinaten Nörgeln der ganz Alten ein durchaus verwandter Schrei nach der Mutterbrust herauszuhören ist. Die Definitionsmacht beider bezieht sich auf die unmittelbare Triebäußerung und den selbstsüchtigen Versuch, unbedingt zu bekommen, wofür nichts getan ward. Beide Charaktere haben mit Steinschleuder bewehrt oder der hageren Faust, die unablässig auf den Tisch klopft, bis der Wunsch erfüllt ist, die Mittel des privaten Terrors in seiner infantilen Variante schon im Anschlag.

Die Funktion der Kind-Idealisierung für das spätbürgerliche Subjekt kehrt in der autonomen Bilderwelt nur etwas ungeschlachter wieder: Das Kind entsteht vor den Augen der am Leben Verzweifelnden als vom Rationalitätszwang befreit, irrational und unberechenbar. Der Preis dafür ist die Vorstellung, es sei auch autonom gegenüber irritierenden Triebwünschen. Damit erscheint es als die quasi authentische Monade, die gegenüber den sozialitätsstiftenden Wirkungen von Sex immun ist. Damit ist das so definierte Kind die ideale Keimzelle von Clans und Banden.

Pippi Langstrumpfs verbotene Lust

Merkwürdigerweise sind noch die Kinderbilder nicht der westlichen Metropole entnommen oder wenn, dann nicht der Mehrheitsgesellschaft, sondern migrantischen marginalisierten Minderheiten. Daß es mit der Unbändigkeit des Kindes nicht mehr viel auf sich hat, weiß der Autonome von heute, wenn er an seine eigene Kindheit oder die Kinder denkt, die in seinem Umfeld heranwachsen. Die Sabotagefähigkeit des Kindes, die Etablierung einer naiven Nebengesellschaft, die geheimnisvolle Kommunikationsformen und Rituale für sich entdeckt hat und der einst wirklich Vorformen von Protest innewohnte, ist dahin. Die bewegenden Kindergeschichten aus der bürgerlichen realistischen Literatur, die stets damit enden, daß das Kind gewaltsam gebrochen und in die traumatisierende Welt der Schule, Kinderarbeit etc. hineingeschleudert wird, leben von einem damals zunächst noch vorhandenen und dann gewaltsam zerschlagenen Naturzusammenhang. Und das in doppelter Bedeutung: Einerseits tat sich dem Kind die Natur tatsächlich auf, in Gärten, Wiesen und Wäldern und im täglichen Umgang mit Haustieren. Aber auch in einem gesellschaftlichen Naturzusammenhang, der die Welt noch ohne dauernde Anleitung von Erwachsenen wie einen Abenteuerspielplatz erscheinen und erobern läßt. Das Klettern in Speichern und Kellern, die distanzierte Beobachtung der Erwachsenen bei ihren Verrichtungen und nicht zuletzt jene geheimnisvollen Treffen im Dunklen, in denen wahrscheinlich dem Doktorspiel und anderen Perversionen weit exzessiver gefrönt wurde als heute, all das war geeignet, im Bewußtsein der Kleinen einen von dem der Erwachsenenwelt geschiedenen Kinderkosmos entstehen zu lassen.

Wenn Autonome die Kinder als desexualisierte Projektionsflächen für den eigenen Infantilcharakter benutzen, dann tun sie das insoweit zurecht, als die Mittelstandskinder von heute tatsächlich schon ähnlich desexualisiert aufwachsen wie die Erwachsenen es schon immer waren. Gerade weil die Tabus, allen voran das Verbot der Selbstbefriedigung, weitgehend gebrochen sind, ist das Anrüchige der genitalen Sexualität, die Lust am Verbotenen, am Verschwinden. Im modernen Mittelstandsmilieu – ob linksradikal oder traditionell spielt keine Rolle mehr – ist mit der verlorenen kindlichen Spontanität, der mit Ronja Räubertochter und ähnlichem Schwachsinn künstlich auf die Beine geholfen werden soll, auch das perverse sexuelle Interesse am Anderen, ob Kind oder Erwachsener, geschwunden. Als ahnte das Kind, daß es mit ausgelebter genitaler Sexualität zur Befriedigung kaum vordringen könnte, weil die Eltern dazu nicht Vorbild und Ansporn, sondern lediglich Warnung vor namenlosem Triebunglück sind, verhält es sich sexuell so aseptisch wie die autonome Projektion es will. Vom Trieb bleibt infantile Regression, die aus den Kindern so unausstehliche Ich-will-ich-will-Schreier macht, denen von der Spontanität nur der narzißtische Terror geblieben ist, dem Porzellan und Nerven zum Opfer fallen; ansonsten ist nichts geblieben als ein apathischer Stubenhocker, dem das Lachen vergangen ist. Diese Kinder sind keine, weil sie traumatische Sozialisationsbrüche, die mit Einschulung und ähnlichen Zurichtungen für die Erwachsenenwelt einst verbunden waren, gar nicht mehr erleben können. Weder wird ihnen die im Verborgenen gelebte Sexualität ausgetrieben, noch müssen sie für etwas gebändigt werden – sie waren nie unbändig. Die Pippi Langstrumpf der Astrid Lindgren, Vorbild für Generationen emanzipierter Mütter für die Zurichtung ihrer Töchter, hält alles vom Glück des ungebändigten Kindes bereit, außer der Sexualität. In der Rückübersetzung der Bilderbuch-Pippi könnte man mühelos das kleine Mädchen entdecken, das eine lebhaft forschende Hinwendung zu Pipi und Popo anderer Menschen hat und teilweise auslebt, aber die steht unter Verbot. Gerade weil die widerständigen Kinder der autonomen Ikonographie also Wunschkinder sind, die nur sein können, wofür sie herhalten müssen, wenn sie genital-sexuell aktiv sind und doch zugleich nur das kastrierte Wesen sein dürfen, das Astrid Lindgren schon mit ihrer Pippi präsentiert hat, verbirgt sich im so ausgestalteten Kinderbild die ganze Gewalt des Verdrängten.

Bildet Banden – und bekämpft alle, die aus der Reihe tanzen!

Dem Kind, das es einmal gab, ist noch eine weitere Form der Sozialität entrissen und von wildernden Erwachsenen mißbraucht worden. Die gegengesellschaftlichen Impulse des Kindes haben sich in früheren Zeiten in Form der Bande manifestiert, die auf relativ verborgenem, teils verbotenem Terrain ihre Abenteuer erlebte. Obwohl immer schon hierarchisch strukturiert und nicht frei von bereits erlebten und internalisierten Herrschaftsformen, konnte die Kinderbande im glücklichen Fall Elemente relativer Befreiung von den Zwängen der Erwachsenenwelt stiften. Ein freundlicherer und hilfsbereiterer Mikrokosmos als der Makroorganismus Gesellschaft, den es durch seine Instanzen Familie und Schule bereits kennt, ist die Zugehörigkeit zu einer Bande nicht nur für Kinder ein erfreuliches Erlebnis gewesen, sondern auch für alt Gewordene oft die einzige glückliche Erinnerung. Doch schon der Kinderbande wohnt der vorzivilisatorische Gehalt der Horde inne und je enttabuisierter die Gesellschaft, je schwindender der Unterschied Kindheit versus Erwachsenenleben ausgebildet ist, desto verrohtere Schrecken kann auch die Kinderbande bereit halten. Sie kennt bereits in ihrer Hochform als größtes Verbrechen den Verrat und wird nach veranstalteter Femejustiz den Verräter unbarmherzig züchtigen, demütigen und ausstoßen. Folgt dieses kindliche Tun im besseren Fall noch der Logik der Bestrafung wirklichen Verrats – der gegnerischen Bande oder den Erwachsenen ist der Standort des Lagers bekannt gegeben und damit das Zentrum der kleinen Gesellschaft der Zerstörung ausgesetzt worden (so in Louis Pergauds Krieg der Knöpfe, 1912) –, so ist inzwischen von Kinderbanden jederzeit das zu erwarten, was Robert Musil in den Verwirrungen des Zöglings Törleß bereits 1906 als die unbarmherzige sexuelle Demütigung beschrieben hat, die eine Geheimgesellschaft Pubertierender an einem 10-Jährigen, der eines Kameradendiebstahls überführt wurde, vornimmt.

Wenn nun Erwachsene mit dem Slogan „bildet Banden!“ nicht nur einem infantilen Wunsch Ausdruck geben, um dessen Unschuld es längst geschehen ist, sondern damit real unter Beweis stellen, daß die Struktur der Bande längst ihre Sozialisationsform ist, dann müssen alle Elemente der Femejustiz, wie sie nicht nur hinter der Definitionsmachtsformel als Triade von Anklage, Urteil und Vollstreckung sich verbirgt, irgendwann einmal voll zum Tragen kommen. Wenn Banden nichts zusammenhält als das Bekenntnis zu Triebunterdrückung und dem verzweifelten Festhalten an der gegenseitigen Anerkennung in der geballten identitären Mittelmäßigkeit, dann gilt für sie, was Karl-Heinz Neumann bereits 1965 (!) dem Triebschicksal der bundesrepublikanischen Gesellschaft prophezeit hat:

„Die eingefangene Lust ist keine mehr, weil durch den standartisierten Sexualrhythmus der Gesellschaft infantile Partialtriebe affiziert werden, Petting, Dating, und damit die Vorlust zur Endlust werden. Die daraus entspringenden Neurosen legen Zeugnis dafür ab, daß die Sexualtabus in Wahrheit nicht fielen. Was erreicht wurde, ist einzig eine neue Form von Verdrängung, die aber nur verständlich explizierbar ist durch das Verständnis der veränderten sozialökonomischen Situation der Gesellschaft. Die aufgehobenen und deshalb aufbewahrten Sexualtabus werden umso repressiver, desto mehr sie ausgehöhlt werden. Genau dies bezeichnet die Institutionalisierung des Tabus. Durch die potentiellen Schäden, welche den Menschen heute zugefügt werden, wird kollektiver Narzißmus aktiviert – und zwar auf der Stufe der infantilen Verfassung der menschlichen Entwicklung, die die Menschen davon abhält, sich zu lieben, sich zu lieben in einem emphatischen Sinne. Untersucht werden müßte, inwieweit durch die Infantilisierung der Menschen wieder archaische Tabus aktiviert werden. Archaisch deshalb, weil die infantilisierten, also unmündigen Menschen in diesen Tabus keine Vernunft mehr erkennen können, aber ihnen doch gehorchen müssen. Die verbissene Wut gegen alle, die aus der Reihe tanzen, rührt wahrscheinlich daher.“ (Neumann in: Böckelmann, die schlechte Aufhebung der autoritären Persönlichkeit, Freiburg, 1987) Zweifellos kennt die Gesellschaft den Haß gegen alle, die aus der Reihe tanzen, in der Art wie Neumann es meinte, nicht mehr. Gammler, Kommunarden, umherschweifende Haschrebellen, schließlich Punks – Lebensformen, die früher den Ruf nach dem Konzentrationslager wie automatisch provozierten, sind Geschichte. Die Zeitgenossen lassen sich von keiner oppositionellen Selbstinszenierung mehr beeindrucken, sie wissen anscheinend nur zu gut, daß sich dahinter das immer gleiche Unglück verbirgt, und die Gleichen, die früher in Schwulen einen Fall für rasche Kastration sahen, bringen heute ihren Klappstuhl mit zur Gay-Parade. Seit man weiß, daß der Schwule auch nur heiraten will, also genauso unbefriedigt lebt wie wir Heteros, seit man es gewohnt ist, in der Sabotage von Schienen wg. Castor-Transport ein modernes Räuber-und-Gendarm-Spiel zu sehen, das es ja tatsächlich auch ist und dessen Veranstaltern man bestenfalls Beifall für gelungene Überlistung der Polizei zollt, ihrem Anliegen und ihrer Lebensform aber genauso desinteressiert gegenüber steht wie den Hobbys der Nachbarn und Arbeitskollegen, gibt es niemanden mehr, den man wegen seiner anderen Lebensweise haßt und beneidet. Die verbissene Wut richtet sich fast ausschließlich gegen diejenigen, die unfreiwillig aus der Reihe tanzen, Ausländer und Obdachlose also. In der Subkultur der Szene haben sich die alternativen Lebensentwürfe der Gammler, Punks etc. in verzerrter, jedes provokativen Gehalts entledigter Form erhalten, weil man mit Notwendigkeit auf die Beschäftigung mit sich selbst verwiesen ist.

Ficken ohne Ende

Hier wird Neumanns apokalyptische Warnung vor den Schrecken der infantilen Gesellschaft, gerade deshalb, weil man vorgibt, sie zu bekämpfen, in furchtbarer Weise Realität. Realität im szeneeigenen Mikrokosmos, der Vorschein auf den ganz großen Bandenkrieg sein könnte. Die Reaktivierung archaischer Tabus, vor der Neumann warnt, ist in den infantilisierten Szenebanden in Form der monströsen Wiederaufrichtung des Sexualtabus Wirklichkeit geworden. „Verbannt im Giftschrank der Seele wuchert die Lust“, und kein Ventil wird sie halten. Was da nur herauskommen kann, davon haben die Bandenkrieger in Wort und Tat schon einmal einen Vorgeschmack gegeben: „Endlich kann man wieder ohne Ende ficken, und zwar wann, wo, wie und wen man will!“ (Interim Nr. 513) Die Projektion dieser Allmachtsphantasie auf die BAHAMAS-Redakteure vermag nicht davon abzulenken, daß im Haß der Neid auf eine Macht, die man im Feind vorhanden wähnt und selber gerne hätte, nur allzu deutlich aufscheint. Dieses zur Vergewaltigungsphantasie verkommene Bedürfnis nach Triebabfuhr, das gespenstisch an die Himmelreichsphantasien islamistischer Glaubenskrieger gemahnt, in denen es Jungfrauen ohne Ende zur freien Verfügung geben werde, erscheint in klassischer Projektion auf solche, die aus der Reihe tanzen, in diesem Fall also auf die Redakteure einer Zeitschrift, die sich anmaßt, über den angelegten Terror zu reden, bevor er voll ausgebrochen ist. Die Verdrängungsleistung durch die Übertragung des eigenen Verlangens auf Verräter an der sexuellen Zwangsmoral, die die Gesamtgesellschaft als ständig wiederkehrendes Verfolgungsritual an den Kinderschändern virtuell auslebt, mußte jedoch mißlingen. Nicht unbedingt weil zu viele aus der Reihe tanzen, sondern weil das Agieren der Bande einem über den Banden stehendem Gesetz, das wie die Frau in der modernen Zweierbeziehung für die Zumessung der erlaubten Triebquanta zuständig ist, nicht gehorcht. Wer die Koexistenz infantilisierter Banden durch gelegentliche Triebabfuhr in der Art eines Feldherren im 30-Jährigen Krieg regeln will, also die eroberte Stadt der Soldateska für eine genau bestimmte Zeit zur Plünderung freigibt, der muß über die Einzelplünderung hinaus mit demr Versprechen auf weiteren Genuß durch vorübergehenden Verzicht, also der Fortsetzung des Krieges locken.

Anna und Artur hassen sich bis aufs Blut

Wie aber bringt man Anna und Arthur wieder dazu, das Maul zu halten, die Zwille in den Schrank und den Suppenlöffel in die Schublade zu legen? Längst haben sie jedes Interesse an der Fortsetzung des Krieges gegen die Gesellschaft verloren, längst ist der Haß gegen vermeintliche Mißbraucher vom täglichen Haß aller gegen aller nicht mehr zu unterscheiden. Was in der Keilerei auf der BAHAMAS-Veranstaltung begann, als Gegner und Befürworter der Veranstaltung sich mit der gleichen Vokabel „du Fotze“ beschimpften, ist einem unkontrollierbaren Haß aufeinander der sich nur noch durch kulturalistische Attribute voneinander unterscheidbaren Banden gewichen, die vorläufig darin eskalierte, daß Frauen eine Frau unter beifälligem Applaus vieler Männer an den Haaren aus einer Kneipe schleiften, weil ihr Freund ein sexistischer Schläger sei. Die solchermaßen Gedemütigten, nicht faul, kündigten für das nächste und letzte Party-Event in der gleichen Kneipe an, zahlreich zu erscheinen und sich den Zutritt zur Not mit Gewalt zu verschaffen, woraufhin die Party nicht stattfand usw. usf.

Die Feldherren ohne Versprechen, die Agenten der gezielten Verleumdung und Organisatoren des nächsten Bierputsches, die Redaktion der Zeitschrift Interim, die durch gezielte Veröffentlichungen des ärgsten Unflats gegen die BAHAMAS und eine antifaschistische Gruppe den Kessel erst zum Sieden gebracht hatte, ausgerechnet diese perfiden Intriganten stehen nun fassungslos vor einem Unglück, dem allein die BAHAMAS, die nun mal nicht zum Kuchen gehört, entgangen ist. Doch sie haben die BAHAMAS gelesen und wie schleichendes Gift hat sie diese Lektüre zum unfreiwilligen Eingeständnis ihres endgültigen Scheiterns gebracht: „Die autonome und antifaschistische Szene ist unserer Meinung nach kein Selbstverwirklichungsworkshop zum Austoben unverarbeiteter Aggression (oder sollte es zumindest nicht sein)“ (8.02.01) Wenn es zu spät ist, kommt die Einsicht: „Was wir mit Sicherheit nicht mehr machen werden, ist das weitere Verbreiten von Dreckwäsche.“ Jetzt gehe es darum, „die Frontstellung zurückzunehmen und einen neuen Ansatzpunkt für eine Kultur der Auseinandersetzung zu finden.“ Und warum alles immer so weitergehen wird, macht „Eure Redaktion“ unmißverständlich klar: „No means no – alles andere ist zu diskutieren.“

Otto Zeiger (Bahamas 34 / 2001)

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