I. „Man hat die Politik die ‚Kunst des Möglichen‘ genannt, und tatsächlich ist sie eine kunstähnliche Sphäre, insofern sie, gleich der Kunst, eine schöpferisch vermittelnde Stellung einnimmt zwischen Geist und Leben, Idee und Wirklichkeit, dem Wünschenswerten und dem Notwendigen, Gewissen und Tat, Sittlichkeit und Macht. Sie schließt viel Hartes, Notwendiges, Amoralisches, viel von ‚expediency‘ und Zugeständnis an die Materie, viel Allzumenschliches und dem Gemeinen Verhaftetes ein, und schwerlich hat es je einen Politiker, einen Staatsmann gegeben, der Großes erreichte und sich nicht danach hätte fragen müssen, ob er sich noch zu den anständigen Menschen zählen dürfe. Und dennoch, so wenig der Mensch nur dem Naturreich angehört, so wenig ist die Politik nur im Bösen beschlossen. Ohne ins Teuflische und Verderberische zu entarten, ohne zum Feind der Menscheit zu verfratzen und ihr oft zugeständnisvolles Schöpfertum in schändliche und verbrecherische Unfruchtbarkeit zu verkehren, kann sie sich ihres ideellen und geistigen Bestandteils niemals völlig entäußern, niemals ganz den sittlichen und menschenanständigen Teil ihrer Natur verleugnen und sich restlos aufs Unsittliche und Gemeine, auf Lüge, Mord, Betrug, Gewalt reduzieren. Das wäre nicht mehr Kunst und schöpferisch vermittelnde und verwirklichende Ironie, sondern blinder und entmenschter Unfug, welcher nichts Wirkliches stiften kann, sondern nur vorübergehend schreckhaft reüssiert, während er schon auf kürzere Dauer weltvernichtend, nihilistisch und auch selbstzerstörerisch wirkt; denn das vollkomen Unsittliche ist auch das Lebenswidrige.“ Der dieses optimistische Bekenntnis unmittelbar vor der Kapitulation Deutschlands im Zweiten Weltkrieg geschrieben hat, wird bis heute bisweilen als Bestandteil des deutschen Übels angesehen, weil er im Frühjar 1918 eine unerträgliche Schwarte vorgelegt hatte, in der er als ausgewiesener Unpolitischer glaubte, das aristokratische Ziel persönlicher Bildung, Feind aller politischen Ideologie überhaupt,verteidigen zu müssen und sich deshalb mit seinem Krieg führenden deutschen Vaterland solidarisch erklärte. Im April 1945, als Thomas Mann seinen Aufsatz „Deutschland und die Deutschen“ abschloß, hatte er sich längst wieder hinter eine Kriegspartei gestellt, diesmal aber nicht Deutschland, sondern die USA, deren Bürger er gerade geworden war. Anders als in seiner unpolitischen Zeit vor und während des ersten Weltkrieges begriff er nunmehr den Krieg der Alliierten gegen die Deutschen als Politik und zwar zu dem Zweck, eine Welt einzurichten, die nicht romantisch, schicksalhaft und vorsehungsgläubig in die nächste Katastrophe rennt, sondern zwar unvollkommen, aber so vernünftig wie möglich ihre Geschäfte verhandelt. Der Unpolitische hatte zur Politik gefunden und als mit der deutschen Ideologie bestens Vertrauter, weil einst selber in sie verrannt, prägte er einen Republikanismus, der auch nach 58 Jahren in seiner alten Heimat nichts gilt. Thomas Mann muß an sein politisches Ideal Franklin D. Roosevelt, aber auch an Winston Churchill gedacht haben, als er fortfuhr: „Die zur Politik berufenen und geborenen Völker wissen denn auch instinktiv die politische Einheit von Gewissen und Tat, von Geist und Macht wenigstens subjektiv immer zu wahren; sie treiben Politik als eine Kunst des Lebens und der Macht, bei der es ohne den Einschlag von Lebensnützlich-Bösem und allzu Irdischem nicht abgeht, die aber das Höhere, die Idee, das Menschheitlich-Anständige und Sittliche nie ganz aus den Augen läßt: eben hierin empfinden sie ‚politisch‘ und werden fertig mit der Welt und mit sich selbst auf diese Weise. Ein solches auf Kompromiß beruhendes Fertigwerden mit dem Leben erscheint den Deutschen als Heuchelei. Er ist nicht dazu geboren, mit dem Leben fertig zu werden, und er erweist seine Unberufenheit zur Politik, indem er sie auf plump ehrliche Weise mißversteht. Von Natur aus nicht böse, sondern fürs Geistige und Ideelle angelegt, hält er die Politik für nichts als Lüge, Mord, Betrug und Gewalt, für etwas vollkommen und einseitig Dreckhaftes und betreibt sie, wenn er aus weltlichem Ehrgeiz sich ihr verschreibt, nach dieser Philosophie. Der Deutsche als Politiker, glaubt sich so benehmen zu müssen, daß der Menschheit Hören und Sehen vergeht – dies aber hält er für Politik. Sie ist ihm das Böse, – so meint er denn um ihretwillen recht zum Teufel werden zu sollen.“ (Thomas Mann, Essays, Band 5, Frankfurt 1996, S. 272f., Hvhb. v. uns)
II. Seit Deutschland die volle Souveränität wiedererlangt hat, verhält es sich gegenüber den zur Politik Berufenen – und das sind weiterhin die USA und bis zu einem gewissen Grad Großbritannien – fast wie vor sechs Jahrzehnten. Es handelt einseitig dreckhaft und auf Seiten des vollkommen Unsittlichen und Lebenswidrigen, wenn es denen Beifall zollt, die glauben, „sich so benehmen zu müssen, daß der Menschheit Hören und Sehen vergeht“. Obwohl Deutschland also schon wieder antipolitisch agiert, will kaum einer unter seinen deutschen Kritikern sich den antifaschistischen Einsichten Thomas Manns anschließen. Das Ressentiment gegenüber den USA macht sich hierzulande bekanntlich an der Wurzel jeder Politik fest, die nicht auf deutsche Antipolitik abzielt, nämlich in wohlverstandenem eigenen Interesse zu handeln und der Welt gerade keinen am Ende noch als uneigennützig ausgegebenen Heilsplan vorzulegen. Als die Regierung der USA sich entschloß, den Irak zu erobern, dann deshalb, weil sie durch den Irak und andere arabische Regimes ihre Interessen an einer funktionierenden kapitalistischen Ordnung im Nahen Osten gefährdet, zudem von diesen Ländern eine Gefahr für Leib und Leben der eigenen Landsleute und amerikanischem Eigentum ausgehen sah. Wenn diese Regierung genau deshalb erklärt, diesen Ländern die gesellschaftliche und staatliche Rahmenbedingung der kapitalistischen Produktion, also die Demokratie, verschaffen zu wollen, dann schreit ganz Deutschland „Haltet den Dieb“. Dies geschieht aus jenen „plump ehrlichen“ Motiven, nicht zuletzt aus dem Wissen, daß ein so wesenhaftes Gut wie die Demokratie nur aus Uneigennützigkeit gespendet und niemals aus Interesse oktroyiert werden dürfe, und der Spender einem Ideal und keinem Interesse, einer Vision und nicht schnödem Pragmatismus zu folgen habe.
Die Mehrheit der Deutschen verhielt sich unpolitisch, weil sie es wie die Regierung mit den frommen Massenmördern hält, die kritische Minderheit aus einem gar nicht so unverwandten Mißtrauen in die Politik der von den USA geführten Kriegskoalition. Die Rede ist nicht von der antiimperialistischen Linken – die ist längst als Schröders oder Fischers Fußtruppe unterwegs – sondern von Leuten, die sich der kritischen Theorie und kompromißloser Kritik am Antisemitismus verpflichtet sehen und die sich teilweise sogar antideutsch nennen. Auch aus diesen Kreisen wollte kaum einer sich eine Entscheidung für den Afghanistan- und Irakkrieg abringen lassen, obwohl das angesichts der unpolitischen und deswegen umso aktivistischeren Stimmung im Land besonders im Frühjahr 2003 keine Frage des Geschmacks, sondern Notwendigkeit und Voraussetzung jeder noch so hilflosen Intervention für die vom globalen Antisemitismus Bedrohten gewesen wäre. Die Mitmacher im Verein unpolitischer Deutscher warteten mit der grandiosen Erkenntnis auf, daß George W. Bush auf antideutsche Zustimmung wohl als letztes gewartet hätte, genauso wie irgendwelche Schlaumeier seit eineinhalb Jahren voneinander immer wieder abschreiben, daß die antideutsche Forderung nach „Waffen für Israel“ doch wohl nicht die Unterstützung sein könne, die Israel gerade bräuchte. Daß sie zugleich immer dünnere Aufgüsse einer Theorie des Antisemitismus – zur Kritik reicht es schon längst nicht mehr – vorlegen, in der Israel kaum mehr als blasser Hintergrund vorkommt, fällt ihnen schon gar nicht mehr auf. Die Kritik des Antisemitismus ist längst bei vielen zum Diskurs verkommen, in denen Juden und ihr Staat genausowenig vorkommen wie ihre Feinde.
Die zugleich eigentümlich plumpe und eigentümlich entrückte Art, in der solche Theoriebildung sich präsentiert; die eigentümlich weltfremde Art, in der das, was gesellschaftlich der Fall ist, nicht ins Bewußtsein aufgenommen und verhandelt, sondern gebannt und von ihm ferngehalten wird, und aus der das Zurückweichen vor der kritischen Intervention notwendig folgt, verweist auf eine sehr deutsche Misere, die Marx und Engels schon vor über 150 Jahren benannt haben: auf den in Deutschland besonders ausgeprägten Hang zu einem kontemplativen Weltverhältnis, in der die Wirklichkeit nur passives, entqualifiziertes Material darstellt, woran das gleichsam „außer der Welt hockende Bewußtsein“ (Marx/Engels) die Leistungs- und Entwicklungsfähigkeit seines als autonom vorgestellten kategorialen Apparats demonstieren kann. Solch kontemplatives Weltverhältnis, worin das Bewußtsein sich als selbstgenügsames, in sich ruhendes und mit sich identisches Subjekt begreift, muß daher jede Forderung nach kritischer Intervention und Eingreifen als blanke Zumutung empfinden.
Damit offenbaren sie eine Auffassung von Theorie, die den „Antinomien bürgerlichen Denkens“ blind verhaftet ist, auf jeden Fall hinter den Marxschen Materialismus zurückfällt. Vor den Anforderungen der Intervention versagen sie, weil sie schon vor denen der Theorie versagen; vor der Entscheidung und dem praktischen Eingreifen weichen sie zurück, weil sie sich bereits beim Nachdenken gegen diese dem Denken doch notwendig eingeschriebenen Momente stur stellen. Der Dünkel deutscher Intellektueller, sich vom „schmutzigen“ Tagesgeschehen fernzuhalten und sich geistigen Geschäften zu widmen, gründet also in der Weigerung, Denken als „praktisch-kritische Tätigkeit“ (Marx) konsequent ernst zu nehmen; ihnen wäre daher nicht vorzuwerfen, daß sie abgehoben seien, sondern daß sie es zuwenig sind. Wer nämlich wahrhaft Theorie treibt, d.h. sich rückhaltlos der Sache überläßt, ohne auf Konsens und Selbstbestätigung zu schielen, ohne Furcht davor, daß die Versenkung in die Sache einen dorthin treiben könnte, wo man nicht landen will und einen gar zu Entscheidungen nötigt, wird, selbst wenn er sich in scheinbar ganz abseitigen Spitzfindigkeiten herumtreibt, ohne es zu wollen, zwangsläufig immer wieder auf die Realität auftreffen; der wird unversehens ins Zentrum des gesellschaftlichen Verlaufs katapultiert und zur Einmischung angehalten, denn noch die abstrakteste Kategorie ist die Denkform eines letzten Endes gesellschaftlichen Inhalts, Abbreviatur von Erfahrung, Form eines bestimmten Sachgehalts. Gerade wenn man „rein“ i.S. von rückhaltlos Theorie betreibt, kann man sich gar nicht um die Realität drücken – es sei denn, man wehrt sie ab, blendet sie aus, benützt also die Formen der Theorie, um Erfahrung abzuwehren. Genau das ist aber bei den stolz apolitischen Linken der Fall: Sie unterhalten ein zutiefst instrumentelles Verhältnis zur Theorie, was sie schon immer getan haben, mit dem Unterschied, daß früher die Theorie schlimmsten Praktizismus, die Bewegungspolitik, zu legitimieren hatte, während sie heute der Erfahrungsresistenz und der schönen Seele die höheren Weihen zu erteilen hat – Hauptsache, es wird Sinn gestiftet.
Eingreifen ist also nichts, was zur Kritik äußerlich „hinzutritt“, ihr angefügt wird, sondern ist die Konsequenz der Kritk oder noch besser: diese Kritik selbst in anderer Potenz. Es ist deshalb auch ganz falsch, wenn der BAHAMAS vorgeworfen wird, sie habe mittlerweile die Ebene der Theorie verlassen und mache jetzt in Interventionismus, gar in Politik. Es sei versichert: Wir tun das, was wir immer schon getan haben, mit dem kleinen Unterschied, daß wir die interventionistische Stoßrichtung, die unseren vermeintlich „rein theoretischen“ Texten schon immer zugrundelag und die wir auch immer betont haben, nunmehr explizit machen. Geändert haben nicht wir uns, sondern die Verhältnisse haben uns gezwungen, das vorher nur Unterstellte nun offen auszusprechen und daraus die Konsequenzen zu ziehen. Wer diesen ruhigeren BAHAMAS-Jahrgängen nachweint, sollte nicht verkennen, daß gerade damals Artikel für Artikel die Voraussetzungen für das erarbeitet wurden, was ihn seit dem 11.09. an ihr zu stören begann. Aufgeregt werden solche Menschen, jetzt wo sie nicht mehr mitvollziehen wollen, was in ihrem Fanzine steht, weil es neuerdings mit ihnen macht, was in den scheinbar so ruhigen Jahren vorher allen möglichen anderen Linken widerfuhr, die das Blatt deshalb auch nie als ruhig oder theoretisch begriffen, sondern als gemein, polemisch und vor allem erpresserisch.
III. Die auf Identität und Selbstbestätigung statt auf Selbstkritik und Distanz gerichtete Stellung zur Realität, wie sie bei jenen antideutschen Kritikern anzutreffen ist, kommt schlagend zum Ausdruck in der verdinglichenden, gläubigen Art, mit der sie aus kritischen Einsichten und Erwägungen, die jeweils einen ganz spezifischen Stellenwert im Zusammenhang entfalteter Theorie aufweisen, starre Axiome machen. Aus Angst vor dem andernfalls drohenden Gewißheitsverlust – der der Angst vor dem Selbstverlust in der Sexualität zutiefst verwandt ist – lassen sie sich in der Erfahrung der Sache nicht treiben, sondern sind erpicht darauf, theoretische „Prinzipien“ festzuklopfen, die nur dem denkenden Subjekt und eben nicht der zu denkenden Sache verhaftet sind; sie behandeln ihre Erfahrung wie Privateigentum, bringen sie damit um ihren Sinn und verkehren ihren kritischen Gehalt ins Gegenteil.
Die Kritik der politischen Ökonomie im emphatischen Sinne etwa ist eine Konstitutionslehre; ihr geht es um die begriffliche Darstellung der real-abstrakten Konstitutionsbedingungen des Denkens und Handelns der einzelnen Subjekte. Sie rekonstruiert die den verselbständigten Formen kapitalistischer Vergesellschaftung immanente (Eigen-)Dynamik und vermag sie als eine Bewegung zu bestimmen, die aus eigener Schwerkraft mit fataler Notwendigkeit in Barbarei, Vernichtung und Selbstzerstörung mündet. Dem Kritiker der politischen Ökonomie geht es darum, die gesellschaftlichen Naturgesetze des Kapitals „rein“ herauszupräparieren; er versucht, mit aller Drastizität zu demonstrieren, daß das Kapitalverhältnis in den Abgrund führt – unter der Voraussetzung, daß es sich selbst überlassen bleibt und kein bewußtes und selbstbewußtes Subjekt diesem naturwüchsigen Gang der Dinge das Ende bereitet. Um diese fatale Naturgesetzlichkeit verfolgen zu können, muß die Kritik dabei einerseits von den „modifizierenden Umständen“ (Marx) geschichtlicher Art abstrahieren und andererseits vom Wünschen und Wollen der Einzelnen. Solche bestimmte Abstraktion heißt aber gerade nicht, daß das, wovon abstrahiert wurde, für die Theorie unwichtig wäre, sondern im Gegenteil, daß es ihr ausgespartes Zentrum ist.
Die wert- und staatskritische Gesellschaftstheorie ist daher keine positive Determinationslehre. Sie sagt nicht: „Es kommt alles notwendig, so wie es kommt und daran läßt sich nichts ändern“, sondern fällt ein historisches Existentialurteil: „heute ist es so und es wird notwendig so weitergehen – es sei denn, die Menschen änderten ihre Verhältnisse, wozu sie grundsätzlich die Freiheit besitzen.“ Jeder Satz der kritischen Theorie, der auf der fatalen Notwendigkeit kapitalistischer Vergesellschaftung insistiert, zielt auf das Gegenteil dessen, was er behaupten muß, will seinen Adressaten befragen, ob er durch sein einverständiges Mitmachen diese Notwendigkeit befördern oder sie destruieren will. Wenn das Kapitalverhältnis als objektives Verhängnis beurteilt wird, dann um klarzustellen, daß wohl die Barbarei mit Notwendigkeit eintritt, nicht aber der Widerstand dagegen: der kann sich auf keine „objektive Tendenz“ berufen, sondern muß sein Werk frei, d.h. gänzlich ungeschützt vollbringen.
Daraus folgt, daß die Kritik der politischen Ökonomie nie eine positive Lehre sein kann, die nach Selbstaffirmation verlangt oder zur Selbstbestätigung taugte, sondern eine, die zu sich selbst auf Distanz geht und zur Selbstabschaffung drängt. Wenn Logik und Realgeschichte zusammenfielen, wenn das, was Kritik logisch rekonstruiert und das, was gesellschaftlich der Fall ist, deckungsgleich wären, dann wäre dies die universale Barbarei und damit das Todesurteil nicht nur der Kritik. Im wohl verstandenen Eigeninteresse der Kritik und der sie formulierenden Individuen ist es daher, in jenem gewiß bescheidenen Umfang, in dem die eigenen Kräfte und die eigene Wirkungsmöglichkeit es zulassen, praktisch dazu beizutragen, daß Begriff und Sache, Logik und Geschichte nicht zur Deckung kommen. Es gilt zu begreifen, darin eines Sinnes mit dem späten Horkheimer und Adorno, daß die Nicht-Identität von Begriff und Sache als Bedingung dafür steht, überhaupt Luft zum Atmen zu haben, und daß daher alle Residuen der Freiheit verteidigt werden müssen, in denen das Unheil nicht zu sich selbst gekommen ist. Auf eingreifender Kritik zu bestehen, gerade dann wenn das Übel offen zutage liegt, die verzweifelte Hoffnung darauf, ein Unheil durch hartnäckige Überzeugung, ja durch Organisiserung von Kritik als politischen Widerspruch abzuwenden, der Wille, alles zu tun, das Befürchtete nicht geschehen zu lassen, unterscheidet den Theoretiker als Kritiker vom Theoretiker als Fatalisten.
Das wiederum hat seine Konsequenzen für Begriff und Sache der Politik. Materialistische Kritik begreift Politik als Gegenstand und Medium des (staatlichen) Souveräns und klärt deshalb über den staatstragenden Charakter einer jeden Politik, gerade der „linken“, auf. Sie verwirft das Eingreifen dort, wo es zum Mitvollzug des Unheils wird und sich ins Mitmachen verkehrt. Als Realkategorie des kapitalistischen Vergesellschaftungszusammenhangs ist Politik nicht nur ein integrales Moment von dessen selbstdestruktiver Tendenz, sondern deren Motor; der Versuch, den Kapitalismus durch den Eingriff der Politik von seinem Krisencharakter zu befreien, führte zur Vernichtung der Juden als finaler politischer Tat. In Auschwitz triumphiert ebenso wie das Kapital die Politik, indem beide sich zugleich selber zerstören. Damit ist Politik die Bedingung der Menschheitskatastrophe – wie sie andererseits, dort wo sie nocht nicht zu sich selbst gefunden hat, auch die Bedingung war, um der Barbarei Einhalt zu gebieten. Materialistische Kritik wird von Politik auch unter Bezug auf den einzigen deutschen Bürger, Thomas Mann, nichts retten können – andererseits wird sie jene Politik, die entschlossen ist, gegen ihre eigene Ausgeburt, ihr eigenes Umschlagsprodukt anzugehen wie es die USA damals mit den Nazis und heute mit den Islamnazis machen, unterstützen. Die Form Politik ist in der Tat Bedingung des Unheils – das ist das Gegenteil der auch unter Antideutschen beliebten Behauptung, jede Politik sei überall das gleiche Übel, weil Politik zuzeiten auch die Bedingung ist, dem Unheil Einhalt zu gebieten.
IV. Der antipolitische Gestus hat seinen tieferen Grund in einem Unbehagen an der Aufklärung. Die Aufklärung, da sind sich viele Adorno-Adepten mit vielen ganz positivistischen Kritikern des Antisemitimus einig, sei im Grunde eine Einbahnstraße nach Auschwitz gewesen. In der Tat hat die Geschichte der Assimilisierung der Juden nie aufgehört, eine Judenfrage zu bleiben und der Zwang bürgerlich-abstrakter Gleichheit produziert stets aus sich heraus aufs Neue den ewig Ungleichen. Aber die Aufklärung – und das macht ihren konstitutiven Doppelcharakter aus – stellt, als mit Herrschaft verfilzte, zugleich die Mittel bereit, Herrschaft den Garaus zu machen. Herrschaftliche Aufklärung ist zugleich Aufklärung über Herrschaft – das wird nirgendwo so deutlich wie beim Begründer moderner Staatswissenschaft Niccolò Macchiavelli; dafür, daß er die Wahrheit über Politik und Staatlichkeit so unumwunden ausgesprochen hat wie Marx die übers Kapital, wird er bis heute – besonders in Deutschland – verleumdet und gehaßt. Es ist dieselbe deutsche Leutseligkeit, aus der heraus über den „Macchiavellismus“ hergezogen wird und aus der heraus andere Immanuel Kant einen „Vordenker der Vernichtung“ heißen. Zwar bedeutet der Fortschritt von Macchiavelli zu Kant auch einen Rückschritt, wenn Kant die Herrschaft einer moralischen Rationalisierung unterstellt und die Verinnerlichung von Herrschaft als Voraussetzung einer Rücknahme des Souveräns in den Konsens der Bürger entwickelt; ein Faschist ante rem ist er deswegen nicht, weil auch hier die implizit immer angelegte katastrophische Konsequenz bürgerlicher Herrschaft unfreiwillig ausgeplaudert wird. So scheint auch bei Kant Wahrheit auf – als negative Wahrheit. Die Aufklärung mit spitzen Fingern anzufassen, heißt solchen Wahrheiten nicht ins Auge sehen zu wollen, bedeutet den Unwillen, die eigene Tätigkeit als aufklärerische zu begreifen, bedeutet schließlich Partizipation an der verbreiteten Gegenaufklärung.
Nun bezieht sich gerade diese mitunter gerne auf Horkheimer und Adorno. Mitunter scheint in der „Dialektik der Aufklärung“ unfreiwillig die Menschheit ab dem Punkt, an dem Stammesverbände sich in Gesellschaften, einfache Tauschbeziehungen in Vorformen der Warenproduktion sich wandelten, mit jedem weiteren Fortschritt immer unentrinnbarer in einen Abgrund der Vernichtung zu rasen. Namentlich im Odysseuskapitel scheint die Aufklärung eine einzige Geschichte der Rationalisierung, Verdinglichung und Verweigerung von unmittelbarer Erfahrung zu sein. Daß dies so scheint, hat einen einfachen Grund: „Horkheimer und Adorno dehnen den Begriff der Aufklärung über deren eigentliche Epoche hinaus(...) Damit tragen sie zwar einem geschichtlichen Phänomen Rechnung, nämlich daß jede Epoche in den vorausgegangenen vorbereitet worden ist, aber die bestimmte Differenz von der einen zur anderen Epoche geht verloren. Aus dieser Konstruktion resultiert der merkwürdig finalistische Charakter der Dialektik der Aufklärung – der falsche Schein, als ob alles ab ovo vorherbestimmt sei.“ (Detlev Claussen, Grenzen der Aufklärung, Frankfurt 1987, S.49f.) Die Gleichsetzung von Weltgeschichte und Aufklärung sollte aber gerade der Annahme entgegenwirken, es habe einen paradiesischen Urzustand gegeben, aus dem die Menschen durch den Sündenfall der Aufklärung vertrieben worden wären, sollte also ihre Thesen vor anti-aufklärerischem Mißbrauch schützen! Daß ebendiese Konstruktion von pseudotheoretischen Adepten 50 Jahre später für anti-aufklärerische Zwecke benutzt werden würde, konnten Adorno und Horkheimer nicht ahnen; kein Wunder, daß es ihnen auch nicht gelungen ist, mit einer Fülle dezidiert prowestlicher und antideutscher Texte nach 1945 bei der politik- und herrschaftskritischen Gemeinde durchzudringen.
V. Die BAHAMAS hatte sich – seit der Ausgabe Nr.18 – die Aufgabe gestellt, die bundesdeutsche Linke Segment für Segment, Glaubenssatz für Glaubenssatz, als gleichermaßen theorieabstinenten wie theoriemißbrauchenden Verein zivilisationsfeindlicher Mitmacher zu delegitimieren, auszusprechen, daß diese Linke und all die anderen Mitdeutschen zusammengehören wie eine große Familie, in der man sich haßt, aber nicht voneinander lassen kann. Dazu gehörte, die Linke für ihr notorische Staatsgläubigkeit zu kritisieren, die sich seit jeher in ihrer blinden Begeisterung für das „Politik-Machen“ manifestierte und im Glauben, „Politik“ sei der Hebel, den Kommunismus herbeizuführen. Mittlerweile nun hat sich herausgestellt, daß die „Antipolitik“, die die Angesprochenen zum Teil verdächtig schnell sich zu eigen gemacht haben, das Gegenteil einer Kritik der Politik ist – wie die Kritik des Kapitals das Gegenteil von Antikapitalismus und die Kritik der Nation das Gegenteil von Antinationalismus; sie ist die Legitimation für Denkfaulheit und praxisabstinenten Fatalismus geworden. Dagegen ist in aller gebotenen Kürze daran zu erinnern, daß die Kritik der Politik kein beliebiges Schlagwort ist, sondern etwas ganz Bestimmtes meint: die Anmaßung linker Platzhirsche, in welcher Frage auch immer ein Allgemeines zu verkörpern, im Namen einer volonté générale zu sprechen, was jene Eigentlichkeitsmetaphysik impliziert, die die „wahren“ Interessen derer zu kennen beansprucht, mit denen man Bündnisse schließt und demonstriert, was schließlich dazu führt, daß man keine Position bezieht, sondern Minimalkonsens um jeden Preis herbeiorganisiert. Ist die BAHAMAS nun zum Billigpreis konsensual geworden, „macht“ sie also „Politik“? Wohl kaum.
Es macht einen erheblichen Unterschied, wenn am 15. Februar 2003 in Berlin 500.000 Bürger gegen den Irakkrieg demonstrieren und 50 für die militärische Beseitigung des Saddam-Regimes oder am 23. November 150 Leute gegen den Aufmarsch von Djihadisten am Al-Quds-Tag demonstrieren und gleichzeitig 850 die zwölfte Wiederkehr des Tages der Ermordung von Sylvio Meier, mit einem antifaschistischen Kiezspaziergang begehen. Beide Male waren die Veranstaltungen der Mehrheit vollkommen unpolitisch. Die 500.000 huldigten ihrer pazifistischen Regierung genauso wie jene 850, die ganz autonom den Aufstand der Anständigenprobten und sich als Vorfeldorganisation eines regierungsamtlichen Antifaschismus präsentieren, der vom Islam-Faschismus schweigt. Da war niemand zu überzeugen, weil die jeweilige Mehrheit für einen Frieden mit den Mördern und gegen die USA und Israel sind, am 15.2. wie am 22.11., und weil der Staat genau in diesem Sinne regiert wird. Wenn pragmatische Mittel einer um Veränderung bemühten Einmischung wider die staatlichen Geschäfte als „Politik“ angesehen werden, dann haben die Antideutschen in beiden Fällen Politik gemacht und die anderen sich als Akklamationspöbel aufgeführt, also ein Stück aus jener antibürgerlichen Zeit gegeben, als durch die Nazis das deutsche Volk sich selbst regierte, weil seine Wünsche der Führer aussprach. Wenn „Politik“ darüber hinaus bedeuten soll, im wohlverstandenen, eigenen Interesse zu versuchen, „mit sich und der Welt fertig zu werden“, ohne zum Feind des Menschen zu „verfratzen“, wie Thomas Mann es forderte, dann waren die beiden antideutschen Interventionen tatsächlich Politik – Politik nämlich gegen das Bündnis der Unpolitischen, die mit „Lüge, Mord, Betrug und Gewalt“ in arabischen Ländern und anderswo jederzeit sich arrangieren und Politik im eigenen Interesse, nämlich für die Herstellung von Verhältnissen, in denen solcher „blinder und entmenschter Unfug“ endlich aufhört. Daß solche Politik auch mit Leuten möglich und sinnvoll ist, mit denen man in anderen Fragen, etwa der Sinnhaftigkeit der privaten Verfügung über die Produktionsmittel, keinerlei Gemeinsamkeiten hat, bedeutet kein „Politik-Machen“ im schlechten Sinne: Trennendes wurde nicht verschwiegen und kein fauler Konsens als „eigentliche Gemeinsamkeit“ ausgegeben. Der Kampf gegen die antisemitische Internationale aber muß aufgenommen werden, in der Hoffnung, möglichst viele mögen sich aus welchen Gründen auch immer beteiligen. Jede Kritik in kommunistischer Absicht muß in die gesellschaftlichen Verläufe politisch eingreifen und zwar genau dort, wo das gesellschaftliche Unheil am unmittelbarsten bedrohlich erscheint; und im antiisraelischen und antiamerikanischen Haß rückt diese Gesellschaft auch dann zusammen, wenn die soziale Frage verhandelt wird oder die Kürzungen der Universitätsetats. Den Ort der kritischen Intervention kann man sich nicht aussuchen, er wird dem Kritiker zugewiesen. Ihn nicht zu betreten, ihn übersehen zu wollen und während die antiisraelischen Antisemiten überall aufmarschieren, konstruktive Beiträge zum Antisemitismusdiskurs beizusteuern, ist genausowenig kommunistisch wie rote Fahnen durch die Gegend zu tragen in einer Zeit, wo die Nazis sich daran erinnern, daß ihre doch auch immer schon rot war und sich auch ohne Hakenkreuz recht schmuck ausnimmt.
VI. Adorno und Horkheimer schrieben die „Dialektik der Aufklärung“ in einem Land, das ohnehin das Richtige tat. Niemand mußte überzeugt werden, daß dieser Krieg notwendig war – das hatten Franklin D. Roosevelt und viele andere längst durchgesetzt. Sie brauchten also nicht über Einmischung oder Entscheidung zu verhandeln, als sie sich die Frage stellten, wie das Unfaßbare hatte passieren können und warum es, so sehr es die deutsche Tat war, in der warenproduzierenden Gesellschaft selbst angelegt ist. Thomas Mann, dem Adorno und Horkheimer in seiner Parteilichkeit für die westlichen Allierten und den amerikanischen Präsidenten alles andere als fern standen, hatte sich eine andere, aber keineswegs alternative Aufgabe gestellt. Er führte unter dem Schutz der USA seinen direkten Kampf gegen die Deutschen, als er Dutzende von Ansprachen für den BBC aufnahm, die wirklich für die „deutschen Hörer“ gesprochen und gesendet wurden. Als Versuch der Anstachelung zum Aufstand zunächst, als Vorwegnahme eine Reeducation Programms in den letzten eineinhalb Jahren des Krieges. Thomas Mann also wandte sich an die Deutschen mit der unerbittlichen Hinweis, daß sie sich zu entscheiden hätten, angesichts der von ihnen angerichteten Untaten für eine so grundsätzliche Selbstkritik, daß ihnen dereinst einmal Politik in einer Welt aus freien Nationen möglich werden würde. Seine Hoffnung in die Deutschen hat sich blamiert, ebenso sein proamerikanischer Optimismus in den Jahren nach Roosevelts Tod, als in den USA ein politisches Klima der Unduldsamkeit und der allgemeinen Verdächtigung einzog, das auch ihn nicht verschonte. Antideutsche Kritiker, die heute die Außenpolitik der USA unterstützen, werden sich dabei nicht nur an der „Dialektik der Aufklärung“ orientieren, sondern auch an den Konsequenzen, die ihre Autoren aus den dort formulierten Erkenntnissen im Alter gezogen haben. Sie ahnten bereits, welch regressives Potential in der scheinbaren Restaurierung der bürgerlichen Welt sowohl im Zentrum Europas als auch in den sich entkolonisierenden Peripherien angelegt war. An ihrer Parteilichkeit ließen sie schon damals keinen Zweifel – umso mehr verbietet es sich heute, einen Standpunkt einzunehmen, der trotzig von sich behauptet, frei genug zu sein, sich nicht zwischen zwei schlechten Alternativen entscheiden zu müssen. Weil die globale Fronde gegen die Zivilisation in erster Linie die Juden und ihren Staat meint, weil bisher entgegen der üblichen Denunziationen aus der Hamburger Ruhrstraße bisher nur die USA und einige wenige Verbündete sich mit womöglich unzureichenden Mitteln und Methoden dem entgegenstellen, weil also die Entscheidung für Israel und gegen die Feinde der Zivilisation einem nicht von Antideutschen, sondern von den Verhältnissen abverlangt wird, wäre es Verrat an der kritischen Theorie, Verrat an der kommunistischen Zuversicht, Verrat aber auch an der Pflicht, wegen Auschwitz sich politisch gegen die europäisch-islamische Koalition zu wenden, wenn man sich weigerte, parteilich in diesen Streit einzugreifen. Solche Politik hat auf öffentlichen Kundgebungen aktuell nur ein Accessoire, das dem Mißbrauch durch schöne Seelen und noch schlimmere Freunde der Revolution sich entzieht, ein äußerst Politisches und doch auch schon wieder die Politik und den Staat transzendierendes, der es entstammt: die blau weiße Landesfahne des Staates Israel.
Redaktion Bahamas (Bahamas 43 / 2003)
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