Traditionelle antifaschistische Linke beschwören alte Zeiten, in denen sich, anders als in der unübersichtlich gewordenen Gegenwart, die Welt in „wir vom Widerstand“ und „die Herrschenden“ aufteilte. Das von den Herrschenden ausgehende Böse, so behaupten sie trotzig, habe sich im Grunde bis heute nicht geändert. Übersichtlich nach Sparten wie Militarismus, Chauvinismus, Revanchismus und was man an -Ismen sonst noch nicht mag katalogisiert, lagert das von Generationen des Widerstands angehäufte Wissen über die Herrschaft und braucht nur auf deren jüngste Schweinerei angewandt zu werden. Es verwundert also nicht, wenn sogenannten linksradikalen Kreisen zu dem breit und ausgiebig diskutierten Vorschlag des Bundes der Vertriebenen (BdV), ein „Zentrum gegen Vertreibungen“ zu errichten, nichts weiter einfällt, als den antifaschistischen Aktenschrank nach R wie Revanchismus abzusuchen, das entsprechende Schublädchen herauszuziehen und mit der darin aufbewahrten gut abgehangenen Kritik trotzig aufzuwarten. „Ein solches Zentrum bleibt (...) Ausdruck der revanchistischen Politik der Vertriebenen“, ist sich die Göttinger Redaktionsgruppe von Phase 2 (Hervh. S.P.)sicher, und hat damit ihrer Selbsteinschätzung, eine „Zeitung gegen die Realität“ zu sein, alle Ehre gemacht. Die Leipziger Redaktion des gleichen Blattes vermutet, daß Deutschland auf seiner Bergtour zur Weltmacht vielleicht nicht den Gipfel, sondern nur die Wolken daneben erreicht haben könnte und so immerhin „in die Nähe des chauvinistischen Großmachtprojektes von einst aufgestiegen“ sei. (09/03) Das Berliner Bündnis gegen Antisemitismus und Antizionismus gar ist sich in einem Redebeitrag für eine Demonstration am 3. Oktober in Berlin völlig sicher, daß „das, was alle Holocaustleugner und Revanchisten der letzten fünfzig Jahre nicht geschafft“ hätten, nun von der rot-grünen Bundesregierung „vollbracht“ würde: „die Entsorgung der deutschen Vergangenheit“. Auch die Autonome Antifa Frankfurt am Main gibt sich in einem Demoaufruf gegen die BdV-Chefin Erika Steinbach davon überzeugt, diese betreibe nichts anderes als „die Verharmlosung des Holocaust durch die Verkehrung von Ursache und Wirkung “. (Hervh. S.P.)
Hat Frau Steinbach aber wirklich gemeint, die Vertreibungen deutscher Volksgenossen hätten zum Holocaust geführt? Ist es wirklich nur das Klappern, das zum Geschäft gehört, wenn Frau Steinbach immer wieder beteuert, „mit größtem Recht [sei] daran zu erinnern, daß es wegen des NS-Regimes zu den Vertreibungen kam“? (Welt, 29.9.03) Ist auch der Sozialdemokrat Peter Glotz, neben Erika Steinbach gleichberechtigter Stiftungsvorsitzender für die Errichtung eines „Zentrums gegen Vertreibungen“, ein ewiggestriger Revanchist? Man sollte sich weniger in Kaffeesatzleserei versuchen, um herauszufinden, was Glotz und Steinbach „wirklich“ meinten, und zunächst einfach einmal zur Kenntnis nehmen, was tatsächlich gesprochen und geschrieben wird. Bei solcher, zugegeben etwas unorthodoxen Recherchemethode, fiele ohne Probleme auf, was für ein Klotz am Bein wirklicher Revanchisten einer wie der Peter Glotz ist: „Ich bin überzeugt, daß es in den Vertriebenenverbänden immer noch Leute gibt, die Entschädigung fordern und alles mögliche behaupten, was ich nicht für richtig halte. Die haben aber keinerlei Einfluß auf die Stiftung. Ich identifiziere mich in keiner Weise mit irgendwelchen Rückgabe- oder Restitutionsforderungen der Sudetendeutschen oder irgendeiner sonstigen Landsmannschaft.“ (Aufbau, 7.8.03) Der Sozialdemokrat Peter Glotz, „den sein obsessiver Anti-Nationalismus selbst in der eigenen Partei manchmal zum Außenseiter machte“, wie die patriotische Welt (4.10.03) den Vorwurf der vaterlandslosen Geselligkeit umschreibt, kann fürwahr als „ein glaubwürdiger Garant dafür gelten, daß mit dem Projekt [des Vertreibungszentrums] auch ein Beitrag gegen Intoleranz, Rechtspopulismus und Rechtsradikalismus geleistet wird“, wie es in demselben Blatt nur fünf Tage früher hieß. Und das nicht etwa nach dem beliebten altbundesrepublikanischen CDU-Spielchen, den Revanchismus nicht den Revanchisten zu überlassen und ihn deshalb lieber gleich in die eigene Hand zu nehmen. Peter Glotz ist Antinationalist aus so tiefer Überzeugung, daß er gerade deshalb ganz bestimmt kein Freund Israels sein kann. Über seinen Bestseller „Die Vertreibung – Böhmen als Lehrstück“ führte er aus: „Es ist ein Buch gegen den Nationalismus, diese Perversion von Loyalitäts- und Zugehörigkeitsgefühlen, (...) ein Buch gegen die Nationalstaatler“. (S.11 u. 13) Denn: „(...) Man sollte es mit der Identität nicht übertreiben. Man sollte auf die Menschen einwirken, mit ein bißchen weniger Identität auszukommen.“ (ebd. S. 263) Ein bißchen mehr Frieden durch ein bißchen weniger Identität, so ließe sich das Leitmotiv von Glotz zusammenfassen, das mehr ist als sein privates Hobby, nämlich Symptom eines deutschen Erfolgsmodells, das nicht trotz, sondern wegen Auschwitz möglich geworden ist und an dem eine Erika Steinbach und ihr BdV nur zu dem Preis beteiligt sein dürfen, daß sie die Realitäten der Berliner Republik anerkennen. Ihnen wird abverlangt, daß sie sich nicht wie bisher dem Ewiggestrigen, sondern der Weltordnung von morgen zuwenden, die nach dem Diktum, daß nicht etwa Breslau oder Königsberg, sondern Auschwitz gefälligst deutsch zu bleiben habe, von den Deutschen als Weltunkulturerbe der Menschheit als konkrete Utopie zugänglich gemacht wird. Um den Irrtum auf den Punkt zu bringen: Nicht der deutsche Staat wird zum großen Bund der Vertriebenen, sondern der Bund der Vertriebenen wird verstaatlicht und gibt damit sein Eigenleben auf. Nicht unähnlich der autonomen Antifa im Jahre 2000 übrigens, die seither als Gauklertruppe einer Aufstandsbewegung anständiger Deutscher ganz vorne mitlaufen darf. In den Worten Joseph Fischers in einem Interview mit der Zeit zum Thema Vertriebenenzentrum klingt das so: „Der BdV taugt nicht als Museumsdirektor.“(28.08.03)
Wenn eine wie die Steinbach zwar im Detail immer noch mit Rot-Grün über Kreuz liegt, ob das Zentrum nun in Berlin, Breslau oder sonstwo stehen sollte, und in der taz (19.9.03) entsprechend Stimmung gemacht wird, weil mit ihr „ein Versöhnung stiftendes Zentrum gegen Vertreibung nicht zu realisieren“ sei, so ist das keineswegs ein Streit über den Charakter des Zentrums. Denn dieser ist ausreichend und konsensfähig mit den Aufgaben und Zielen der im September 2000 ins Leben gerufenen gemeinnützigen Stiftung „Zentrum gegen Vertreibungen“ gemeinsam von Glotz und Steinbach bestimmt worden: „Eine Dokumentations- und Begegnungsstätte, (...) die, ausgehend vom national erfahrbaren Schicksal der deutschen Vertriebenen, den Blick auch auf das Vertreibungsschicksal anderer Völker lenkt, um international die Ächtung solch menschenverachtender Politik zu erreichen.“ Darüber hinaus wolle man „mithelfen, eine europäische Erfahrung zu formulieren (und) in konstruktivem Dialog mit den Nachbarvölkern die gemeinsame Vergangenheit aufarbeiten, um daraus Friedenspotential für die Zukunft zu schaffen. Über Trennendes hinaus soll das Verbindende herausgearbeitet werden.“
Faßt man konsequent zusammen, daß das Verbindende ausgehend vom national erfahrbaren Schicksal der deutschen Vertriebenen herausgearbeitet werden soll, dann ist die Maxime, die mit dem Zentrum weltweit durchgesetzt werden soll, benannt: Am deutschen Wesen nach Auschwitz soll die Welt genesen. Das aber ist nicht etwa die simple Wiederkehr des immergleichen german problem als eines taktisch ausgeklügelten und programmatisch verkündeten dritten Griffs zur Weltmacht, sondern Ausdruck einer internalisierten, wahnhaften moralischen Überlegenheit, die nach Eike Geisel nicht darin gründet, daß die Deutschen unheilbar krank seien, sondern im Gegenteil: unheilbar gesund. In einer bei Suhrkamp von Wolfgang Thierse herausgegebenen „Denkschrift der Grundwertekommission der SPD zur internationalen Politik“, in der die „Grundwerte für eine gerechte Weltordnung“ niedergeschrieben wurden, die für die SPD-Politik der nächsten Jahre handlungsweisend sein sollen, ist dieser deutsche common sense gebündelt nachzulesen. Es ginge allen Ernstes um „freiwilligen Macht- und Souveränitätsverzicht“, der trotzdem nicht bedeute, „daß für eine wirksame Rolle Deutschlands in der internationalen Politik keine Freiräume vorhanden wären“. Dieser Weg sei „historisch und entsprechend (der) verfassungsmäßigen außenpolitischen Grundsätze evident und im Vergleich mit anderen europäischen Staaten ohne Prestigeverlust leichter gangbar. Es kommt deshalb auf Deutschland an, in der europäischen Politik im Sinne dieser Ziele voranzugehen.“
Man kann es mit der politischen Ökonomie oder der Marxschen Kritik an ihr versuchen, man kann als Positivist oder Dialektiker diese Vorstellungen vom Staat, die sozialdemokratische Strategen da aufgeschrieben haben, zu ergründen versuchen, es geht nicht. Und doch läßt einen der Verdacht nicht los, daß solch freischwebender Unsinn wie die Behauptung, freiwilliger Macht- und Souveränitätsverzicht verschaffe dem Staat neue Handlungsspielräume, doch mit Vorbedacht zusammengestoppelt worden ist. Der Jargon, in dem Wolfgang Thierse das Vorwort für besagte Denkschrift geschrieben hat, steigert das Mißtrauen: „Die aktuell immer größer werdende Bedeutung des interkulturellen Dialogs besteht nicht allein in der Kenntnisnahme und Anerkennung der Unterschiede, sondern in der Kommunikation selbst (...) Aus diesem Gespräch, aus einer den eigenen nationalen und kulturellen Horizont überschreitenden Wahrnehmung der Welt zurück zur Neubestimmung der eigenen Identität, die eigene Verantwortung neu zu sehen und zu bestimmen (...).Die Abkehr von machtpolitischen Rivalitäten, die Überwindung so genannter ,Erbfeindschaften‘ und nationalistischen Eifers sind inzwischen gemeinsame Güter und Werte an sich.“ (Hervh. S.P.) Seit Marx seine Kritiken an den Junghegelianern geschrieben hat, könnte man wissen, daß, wer von Werten an sich schwafelt, und behauptet, etwas begründe sich aus sich selbst heraus, nicht nur deutsch spricht, sondern auch so denkt. Thierses Tautologien, die jede für sich vollständig sinnfrei sind und auch zusammen zunächst nicht viel mehr als einen Sprech ergeben, entspringen einem Denken nach Auschwitz, das nicht mehr die Last der Geschichte zum Ausdruck bringt, sondern eine neue Lust auf Geschichte, die sich zum Missionarseifer auswächst, der Welt den deutschen Weg zu einer von instrumenteller Vernunft entkoppelten, scheinbar interesselosen Moral aufzuzeigen. Daß solche Moral sprachlich irgendwann beim Original ankommen muß, verrät die SPD-Denkschrift, wenn sie anrät, die „Chance“ zu nutzen, „daß sich in den einzelnen Völkern, Nationen und Kulturen das Bewußtsein einer globalen Schicksalsgemeinschaft herausbildet“, einer „globalen Zivilgesellschaft.“
Spätestens mit Rot-Grün geht tatsächlich ein Ruck durch Deutschland, ein anderer jedoch, als ihn sich Bundespräsident a.D. Roman Herzog je erträumt hätte: ein Linksruck. Diese Veränderung hat nicht nur in Bezug auf die politische Lufthoheit Deutschland „aus den Bezügen des Kalten Krieges und der Entspannungspolitik weitgehend herausgelöst“ (Welt, 4.10.03); sie konnte auch nur unter Rot-Grün vonstatten gehen, weil diese Regierung die noch verbliebenen Bremsklötze aus der Zeit einer auf Interessenausgleich gründenden staatlichen Politik beiseite geräumt und damit auch noch die letzten schlechten Simulationen von Partikularinteressen neutralisiert hat, die nicht notwendig im artikulierten Willen zur Volksgemeinschaft münden. Daß dieser Linksruck irreversibel zu sein scheint, dafür steht exemplarisch der Vorgang um den CDU-Politiker Martin Hohmann. An seinem Ausschluß aus der Partei ist abzulesen, unter welchem gesellschaftlichen Druck die CDU/CSU als traditionelle Lobby der Vertriebenverbände sich nach links bewegt, sich also notwendig anti-faschisieren muß, will sie nicht den Anschluß an das neue deutsche Selbstbewußtsein verlieren und sich damit der Gefahr aussetzen, als politischer Anachronismus zu gelten. Mit dem Ausschluß des Abgeordneten Hohmann hat die CDU nichts geringeres als die endgültige Entsorgung ihres traditionellen Revanchistenflügels begonnen und damit zugleich die These belegt, daß der nationalistische Antisemitismus, wie man ihn bisher von rechts kannte, sich in Deutschland unwiderruflich auf dem absteigenden Ast befindet, um dem tendenziell antinationalen und antirassistischen von links die Zukunft zu überlassen.
Besagter Wandel läßt sich auch gut an dem Beispiel der Besetzung des Lehrstuhls für Neuere Geschichte an der Universität Erlangen verdeutlichen. Einst besetzt vom ehemaligen einflußreichen Kohlberater Michael Stürmer, der mittlerweile den ausrangierten transatlantischen deutschen Patriotismus nur noch in der Welt propagieren kann, hat dessen Stelle zwischenzeitlich ein ausgewiesener Linker inne: Professor Gregor Schöllgen, Autor des kürzlich erschienen Buches „Der Auftritt – Deutschlands Rückkehr auf die Weltbühne“, in dem er seine Hauptthese, daß die Berliner Republik mit ihrer konsequenten Gegnerschaft gegen die Befreiung des Irak „zu sich selbst fand“, unter anderem so begründet: „Deutschland [sei] wegen seines politischen Gewichts (...), wegen seiner historisch begründeten Reputation in der Dritten Welt und wegen der Erfahrung, welche die Bundesrepublik (...) mit Souveränitätsverzichten gesammelt hat (...), wie kein zweites Land der Europäischen Union gefordert, (...) federführend“ zu sein. Nur folgerichtig ist Schöllgens Traum, Deutschland dürfe den Jihadisten nicht die Kritik an Amerika überlassen und sollte lieber selbst in den heiligen Krieg ziehen: „Jedenfalls sollte man es nicht Terroristen oder gefährlichen Irrläufern der internationalen Politik überlassen, einer global scheinbar unbeschränkt handlungsfähigen, aber eben deshalb auch verwundbaren Supermacht ihre Grenzen aufzuzeigen.“ (S.167 u. S.162; Hervh. S.P.) Daß man sich dafür nur deshalb qualifiziert glaubt, weil Auschwitz als Weltrekord unter den Menschheitsverbrechen gilt, ist mittlerweile in UN- und anderen No-Global-Kreisen weitgehend unbestritten. Die daraus abgeleitete moralische Verantwortung für die Welt gründet auf der Anmaßung des Status des Moralapostels unter den Staaten, der einen berechtige, sich seinem Schicksal nach Auschwitz hinzugeben, einem Schicksal, dem man nicht entfliehen könne. Dieses Schicksal ist zugleich der Auftrag, aus dem internationalen Copyright auf systematische Vernichtung moralischen Profit zu schlagen, sich selbst die Lizenz auf globale Gerechtigkeit auszustellen und mit den Lehren aus Auschwitz als geschützte Markenprodukte made in germany weltweit hausieren zu gehen. Genau dahin führen notwendig alle Versuche, das Gedenken an die Shoah zu universalisieren, und genau das ist der Grund, warum einer wie beispielsweise Moshe Zuckermann gar nicht anders konnte, als den deutschen Weg zu beschreiten.(1) Im Gegensatz zu den USA, in denen das Gedenken an den Holocaust schon seit Jahren das nationale Geschichtsverständnis entscheidend mitprägt, und selbstredend Israel wird weltweit eine federführend von Deutschland ausgehende Entnationalisierung der Lehren aus Auschwitz begrüßt. Es ist alles andere als zufällig, daß die Fürsprecher dieser Universalisierung von Auschwitz von Walser über Finkelstein zu all den islamischen Revisionisten und Holocaustleugnern den Vorwurf erheben, die Shoah werde instrumentalisiert und einerseits von Israel „vereinnahmt“, anderseits von den USA „amerikanisiert“, was einem Affront gegen das „eigentliche“ Gedenken gleich käme.
Die entnationalisierten Vorstellungen von einem deutschen Modell für die Welt wegen Auschwitz lesen sich in der o. e. SPD-Denkschrift unter dem Stichwort „positive Globalisierung“ so: „Entscheidend wird sein, ob die Weltgesellschaft in einem freien Dialog der Kulturen zu einem gemeinsamen Begriff globaler Gerechtigkeit und zu einer darauf aufbauenden verbindlichen Politik des Ausgleichs der Freiheits-, Lebens- und Entwicklungschancen finden wird“. Dazu bedürfe es der „Stärkung eines anderen Typus der Machtbildung (...), um den entscheidenden Schritt von einer unipolaren zu einer multipolaren Struktur des internationalen Systems zu tun, in dem (andere Weltregionen und Staaten) eine gleichberechtigte Rolle spielen können.“ Man braucht nicht lange zu analysieren, um die infantilen Züge der SPD-Grundwerte freizulegen: ein anderer Typus von Machtbildung, basierend auf einem gemeinsamen Begriff von globaler Gerechtigkeit, auf dessen Grundlage alle eine gleichberechtigte Rolle spielen können, das entspricht in etwa der Vorstellung von internationaler Politik, wie es ein vorpubertäres Kind hat: alle sind lieb zueinander, fassen sich bei den Händen und veranstalten Ringelreihen. Von Joseph Fischer ausgesprochen klingt das deutsche Glaubensbekenntnis wie eine Zeile aus dem Grönemeyer-Song „Kinder an die Macht“: „Wir müssen eine neue Weltordnung schaffen, die nicht von denen definiert wird, die die Macht haben.“ (taz 1.11.03) Die Welt ein Kinderdorf, und in der Mitte dieses globalen NGO-Tummelplatzes liegt der Nichtregierungsstaat Deutschland. Die gezielte Unterminierung staatlicher Souveränität zugunsten einer in Partikel zerfallenden Welt dient dem hehren Ziel der „konsequenten Verrechtlichung der internationalen Beziehungen“, wie die Berufspredigerin Antje Vollmer es ausdrückt. Das und nicht der Ausgleich zwischen konkurrierenden staatlichen Interessen sei „die richtige politische Lehre aus der dunklen Vergangenheit Europas“ (vgl. Pressemitteilung der Bundestagsfraktion Bündnis 90/Die Grünen v. 8.7.03) Daß dieses Gerechtigkeitsgeschwafel haargenau dem Jargon der no globals und der Islamisten entspricht, sollte nicht verwundern, die Genannten sprechen und denken längst so deutsch, wie man es seit Jahren den Verlautbarungen von A wie Al Quaida bis Z wie Zapatisten entnehmen kann. Gerade deshalb aber ist jene Folgerichtigkeit deutscher Moral global konsensfähig, die der Ex-Greenpeace-Chef Thilo Bode in seinem aktuellen Buch „Die Demokratie verrät ihre Kinder“ auf den Punkt bringt. Zum Abschluß des Kapitels „Palästina ist überall“ heißt es dort, Deutschland hätte „die Pflicht (...) dazu beizutragen, daß Israel eine Lektion lernt, die Deutschland selber erfolgreich gelernt hat: nämlich wie immens die historischen Lasten der Unterwerfung anderer sein können.“ (S.121).
Die kindliche Naivität entkoppelter Moral, die Deutschland zu einer einzigen großen Destruktivkraft werden läßt, basiert auf einem Realitätsverlust, der innen- wie außenpolitisch darin seinen Ausdruck findet, daß man in einer Art Reflexionsausfall den Leuten Wein predigt, sie aber Wasser saufen läßt: „Die Politik der Bundesregierung wie der Opposition strotzt vor Widersprüchen (...). Aber diese Gerissenheit und diese Schizophrenie werden offensichtlich toleriert“, staunt Chefkommentator Heribert Prantl, der in der Süddeutschen regelmäßig so etwas wie die ideelle linksdeutsche Gesamtmeinung zum Besten gibt. (10.12.03) Daß sich besagte Widersprüche nur durch die allseits anerkannte Form eines Ressentiments glätten lassen, das alles überlagert, erkannte Eike Geisel schon vor Jahren: „Dieses Ressentiment hat alle praktischen und politischen Beweggründe abgestreift. (Es ist) die Moralität von Debilen [und] entspringt den reinsten menschlichen Bedürfnissen, es kommt aus der Friedenssehnsucht. Es ist daher absolut unschuldig, es ist so universell wie moralisch (...), die Vollendung der Inhumanität.“(2) Dieser völlige Reflexionsausfall der Subjekte verleitet sie zu einem unendlichen Schicksalsgefasel, das selbst sprachlogischen Kriterien zuwiderläuft und wahrscheinlich gerade deshalb im Spiegel stehen kann, ohne daß es einem Redakteur auffiele: „Der Schrecken des Krieges (...) hat durchaus ein eigenes Recht auf unsere Gefühle und Erinnerungen.“ (44/03) Daß in Deutschland eine Sache ein Recht haben könne wie ein Subjekt, noch dazu die Sache des Schreckens, darüber muß sich nicht wundern, wer um das ontologische Bedürfnis weiß, das zwanghaft Begriffe wie Krieg, Recht, Gefühle oder Erinnerungen aneinander reihen muß. Von jeher versucht deutsche Ideologie mit absoluten, zu Existentialen zusammengeschrumpften Kategorien die Besonderheiten des Gegenstandes durchzustreichen und an deren Stelle pseudo-universelle Kategorien einer als natürlich begriffenen Ordnung jenseits der Subjekt-Objekt-Relation zu setzen, in der die Menschheit nicht mehr aus unfreien Stücken ihre eigene Geschichte macht, sondern sich dem reinen Sein, also der ewigen Unfreiheit unterwirft.
Ursache und Wirkung, geschichtliche Verläufe, die Unterscheidung zwischen schuldig und unschuldig, jede Differenz wird in der großen deutschen Ontologie aufgehoben. Es bleibt ein universelles in die Welt Geworfensein, also vor allem menschliches Leid, wo man hinsieht. In der Debatte um ein „Zentrum gegen Vertreibungen“ trifft man fast durchgängig auf den Versuch, alle Unterschiede durchzustreichen. Es ist nicht nur die rot-grüne Regierungslinie, die beispielsweise der Bundestagsabgeordnete Markus Meckel vertritt, wenn er der polnischen Zeitung Rzeczpospolita erklärt, Vertreibungen beruhten generell „auf der Kollektivschuldthese und sind nach unserem Verständnis heute immer Unrecht“. Die „jeweiligen Hintergründe und Zusammenhänge von Vertreibungen und zwangsweisen Umsiedlungen“ seien zwar „recht verschieden – das Leid der Menschen dagegen ähnelt sich sehr.“ (7.3.03) Eine gemeinsame Erklärung von Bundespräsident Rau und dem polnischen Präsidenten Kwasniewski „zu einer europäischen Aufarbeitung von Flucht und Vertreibung“ von Ende Oktober 2003 weist in genau diese Richtung: Es dürfe „heute keinen Raum mehr geben (...) für gegenseitige Schuldzuweisungen und für das Aufrechnen der Verbrechen und Verluste.“ (FAZ, 30.10.03)
Das menschliche Leid, das alles und alle gleich macht, läßt neben sich nichts gelten. Daß dieser Relativismus das antijüdische Ressentiment gegen die Aufrechner impliziert, bringt Peter Glotz in seinem Vertreibungsbuch ganz offen auf den Punkt: „Zynisch und dumm ist die Argumentationsfigur: ,Die anderen haben angefangen´. (...) Die Rechtfertigung von Gewalttaten durch vorangegangene Gewalttaten ist die Übertragung des Blutracheprinzips auf moderne Gesellschaften. Es handelt sich um eine unmenschliche Argumentationsfigur.“(S.261f.) Wer aus dieser erklärten Feindschaft gegen das alttestamentarische Prinzip die simple Umkehrung von Opfer- und Täterschaft herausliest, liegt jedoch falsch. Es geht nicht darum, den Verlauf der Geschichte in Frage zu stellen und auch nicht darum zu leugnen, wer angefangen hat und wer nicht. Diskreditiert wird vielmehr das Intersse an dergleichen Unterscheidungen als ein ewiggestriger Anachronismus in einer vom deutschen Versöhnungsgedanken erfüllten Welt. In der soll es nämlich keine „einfache“ Unterscheidung von Opfer und Täter mehr geben, weil alle Opfer und Täter zugleich seien. Diese pseudo-universelle Utopie von einer infantilen Welt, in der niemand mehr die Verantwortung für sein Tun tragen muß, erkennt jedoch in jenen wirklich Täter, die sich ihr widersetzen. Daß dies wie von selbst die Juden sind, erklärt sich aus dem Umstand, daß insbesondere die Verteidiger des jüdischen Staates, die am historischen Wahrheitsgehalt des Zionismus existentiell festhalten müssen, schon lange nicht mehr in erster Linie als kosmopolitische Zersetzer der Welt gelten, sondern vorrangig als nationalistische Partikularisten, die immer noch dem archaischem Vergeltungsgedanken anhingen und damit keineswegs zufällig einer großen Mehrheit der EU-Bevölkerung als die größte Gefahr für den Weltfrieden gelten. „Während man einst über die Juden herzog, weil sie keinen Nationalstaat hatten, werden sie jetzt kritisiert, weil sie einen haben“, schreibt Mark Lilla in der New Republic. (23.6.03) Es klingt paradox, aber der Vorwurf des Nationalismus wird heute gegen die erhoben, die sich nicht dem postmodernen Diktat unterwerfen, das die „großen Erzählungen“ (Lyotard) für beendet erklärt, und sich dem antinational konnotierten Wahrheitsverzicht nicht fügen wollen. Der linken Süddeutschen Zeitung etwa fällt zum Thema Vertreibung ein, daß „das simple nationale Schema, das den Vertreibungen zugrunde lag und auch heutigen Diskussionen zugrunde liegt, (...) an der historischen Realität“ vorbeiginge, weil “sie (...) aus unzähligen Geschichten, die sich nicht auf eine große Erzählung reduzieren lassen“, bestehe. (13.11.03; Hervh. S.P.)
Die vorgebliche Universalisierung von Erinnerung ist gerade ihre Partikularisierung. Was einst als kosmopolitischer Anspruch auf die ganze Wahrheit galt, ist heute als Partikularismus verpönt, weil es die ganze Wahrheit als objektive beanspruche und die vielen kleinen subjektiven Erzählungen ignorieren würde. Was dagegen einst als Partikularismus galt, weil es den Verzicht auf objektive Wahrheit beinhaltete, gilt heute als universell, weil es den vielen subjektiven Erzählungen zubilligt, ihre je eigene Wahrheit zu transportieren. In Deutschland streitet man sich auch längst nicht mehr darüber, ob Vertreibungen ein europäisches Problem sind, sondern welches. „Wenn man beim Aspekt ,gegen die Vertreibung‘ ansetzen will, dann muß das in einem europäischen Kontext stehen, darf es also kein nationales Projekt sein“, so Joseph Fischer gegenüber der Zeit (a.a.O.), der damit einen weit über Rot-Grün hinausgehenden Konsens beschreibt. Ein derartiges antinationales Bewußtsein ist einem Blatt wie der FAZ nicht geheuer, fast schon nostalgisch hechelt man dort der Realität hinterher: „Kein Wort davon, daß dies zuerst eine innerdeutsche Angelegenheit sei und daß die Deutschen wie jede andere Nation das Bedürfnis und Recht hätten, sich aller Teile ihrer Geschichte zu vergewissern, vor allem nachdem das dunkelste Kapitel ausgeleuchtet worden ist“, beklagt man sich angesichts der Bundestagsentscheidung, ein „Zentrum gegen Vertreibungen“ müsse unbedingt „europäischen Charakters“ sein. (24.9.03)
Nicht nur ein europäischer Vertreibungsbegriff soll es sein, sondern letztlich ein globaler, einer, der eine nationale Perspektive ausschlösse und eine weltweite Ächtung von Vertreibung als Mittel der Politik vollzöge. Im Grunde sind sich darüber alle an der Diskussion Beteiligten einig, von Frau Steinbach und Herrn Glotz über Schily, Fischer, Schröder bis zum Vertriebenenexperten Samuel Salzborn. Auf Initiative von letzterem wurde ein unter anderem von Micha Brumlik und Christian Semler (taz) unterzeichneter Aufruf „Für einen kritischen und aufgeklärten Vergangenheitsdiskurs“ initiiert, in dem der Befürchtung Ausdruck verliehen wird, mit einem „Zentrum gegen Vertreibung“ stünde eine „Torpedierung eines auf europäischen Dialog angelegten gesellschaftlichen und politischen Diskurses“ zu befürchten, die „eine europäische Aufarbeitung der Vergangenheit (,gründend) auf einem pluralen, kritischen und aufgeklärten Diskurs“, verunmöglichen könnte. So etwas nennt man ein Eigentor, denn plural, kritisch, aufgeklärt, ob man es nun wahrhaben will oder nicht, sind die Chiffren für die populäre, konsensheischende Forderung, sich auf eine allgemeine Definition für Vertreibungen weltweit zu einigen, deren Stichwortgeber die Deutschen sind und die notwendig in der heutigen Weltkonstellation nur einen Verlierer kennen wird: Israel. Und einen Gewinner: die zu den Sudetendeutschen des Nahen Ostens aufgenordeten Palästinenser.
Die einzig konstruktive Idee für die Errichtung eines „Zentrums gegen Vertreibung“ verbreitete im übrigen das polnische Magazin Wprost: „Von den zahlreichen Vorschlägen, das Zentrum gegen Vertreibungen einzurichten (...), ist der beste, dies im Paradies zu tun – von dort hat der gute Gott bekanntlich Adam und Eva vertrieben.“ (z. n. junge Welt, 24.9.03) Komme jedoch niemand auf den Einfall, die Deutschen wüßten nicht, daß die Vertreibung aus dem Paradies nicht der Sündenfall ist, sondern die Folge des Sündenfalls, sie also nicht schon längst begriffen hätten, daß Auschwitz die allseits anerkannte globale Erbsünde ist, die ordentlich Mehrwert für ein rot-grünes Antifa-Deutschland abwirft.
Sören Pünjer (Bahamas 43 / 2003)
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