Krise – dieser Begriff hatte bis zum letzten Herbst viel von seiner dunklen Anziehungskraft eingebüßt, die er in den ersten Jahren nach dem Zusammenbruch des real existierenden Sozialismus besessen hatte. Die Angst, die der Sachbuch lesenden Klasse in die Glieder gefahren war, dass die ihr vom Volksstaat verbürgten Pfründen oder wenigstens Sicherheiten auch im Westen bald ebenso dahin sein könnten, legte sich, als man sah, dass es dieses Mal in erster Linie die hoffnungslosen Jugendlichen der Vorstädte und der Zone treffen würde. Robert Kurz’ Krisen-Eschatologie, die es in die Spiegel-Charts gebracht hatte, verschwand umso tiefer in der Versenkung, je mehr die Leser merkten, dass sie das dauerhafte Kränkeln des deutschen Modells mit dem Weltuntergang verwechselt hatten, und dass man die Erosion dieses Modells ganz gut noch würde in die Länge ziehen können: Mindestens so lange nämlich, wie ein florierender Export die schwache Binnenkaufkraft kompensieren wird, die einem immer umfassenderen Ausschluss ganzer Bevölkerungssegmente geschuldet ist. Es handelt sich dabei um eine chronische Kaufkraftschwäche, der genau deshalb nicht mit Lohnerhöhungen beizukommen ist, weil sie in erster Linie aus den immensen toten Kosten, die auf den Netto-Löhnen liegen, resultiert; mit der daraus wiederum zwingend folgenden Konsequenz eines Millionenheeres von aus der regulären Erwerbsarbeit Ausgebooteten.
Diese sehr spezifische Krise des deutschen und auch des französischen Modells – also die Krise eines etatistischen Modells der Krisenprävention – spielt in den jetzt wieder entflammten „marxistischen“ Krisendebatten übrigens genauso wenig eine Rolle wie in der letzten Krisen-Konjunktur.
Die deutsche Ideologie der allumfassenden staatsmittelbaren Regulierung durch Arbeitsfront, beziehungsweise Tarifparteien – Stichwort „Selbstverwaltung der Renten-, Kranken- und Sozialversicherungen – ist gerade bei denen, die mit der „Krise“ jetzt politisch punkten wollen, sakrosankt, sodass selbst die Fundamentalkritiker nicht auf die Idee kommen, diese Regulierung zu thematisieren, wenn sie eben von „Krise“ reden. Die alte linksdeutsche Krankheit, dort prinzipiell zu werden, wo es auf den Unterschied ankäme, und umgekehrt dort, wo es ums Prinzip geht, differenzieren zu wollen, grassiert auch hier. Statt den „besonderen Umständen“, auf die hinzuweisen Marx gerade im „Kapital“ nicht müde wurde, analytisch Rechnung zu tragen, bemühte man damals wie heute sofort das Äußerste: Die „abschmelzende Wertsubstanz“ oder die „endgültige Verwertungsblockade“ lassen nach wie vor von „mittel- bis langfristigen Überwindungsperspektiven“ träumen. Um sich diese Illusion zu erhalten, darf man schon gar nicht genau hinsehen – und statt die permanente Krise (und ihre Zuspitzungen) des Racket-Staates permanenter Krisenprävention zu analysieren, wird lieber von einer ökologistisch angegrünten „Menschheitskrise“ daher schwadroniert, wie es ein gewisser Julian Bierwirth für die Krisis tat: „Eine Systemkrise in diesem Sinn ließe sich daher durchaus als ‚fundamentale Krise‘ beschreiben: nicht nur im Bereich der Ökonomie, sondern weit darüber hinaus wären gesellschaftliche Institutionen und Vorstellungen von ihr betroffen. Den Ausweg aus dieser Krise würde dann auch nicht eine sorgfältig geplante Form von Politik darstellen, mit der sich das Ganze dann ein wenig effizienter und ein wenig sozialer organisieren ließe. Stattdessen steht die Menschheit vor der Wahl zwischen Emanzipation und Barbarei. In diesem Sinne birgt die Systemkrise auch durchaus die Gefahr, zu einer noch tiefgreifenderen Menschheitskrise zu mutieren.“ (1) Dass die Wahl zwischen Emanzipation und Barbarei in der Form des Volksstaates schon seit langem entschieden ist und dass jede daraus erwachsende Vorstellung von Krisen-Überwindung notwendig ebenso panisch wie autoritär sein wird, gerät dort nicht ins Blickfeld, wo die entscheidende Tatsache geleugnet wird, dass das, was als Emanzipation verkauft wird, die noch schlimmere Barbarei bereithält.
Und das grenzt schon ans Verwerfliche: Denn der Wunsch, den die Krise aktualisiert, ist nicht der nach Veränderung. Es ist vielmehr der nach Harmonie, nach klarer Ordnung und endgültiger Abschaffung der Freiheit, beziehungsweise deren immerhin noch vorhandenen Surrogaten, die gerade deshalb so nötig wie die Luft zum Atmen sind. Die autoritär gestrickte Sehnsucht nach Krisenabschaffung ist dagegen ein grundlegend eliminatorischer Wunsch. Dieser Wunsch sucht seine Erfüllung schließlich nur im Rahmen einer an sich selbst verrückt werdenden Apparatur der Krisenprävention.
Die Permanenz der Krise des autoritären Staates ist genau darin nämlich das Gegenteil der zyklischen Krise der hochbürgerlichen Ära. Verstörte diese zyklische Krise ein liberales Individuum, das an das freie Spiel der Kräfte und das daraus resultierende Gemeinwohl glaubte, lässt die permanente Krise das Kollektiv anti-liberaler Staatsanbeter nach den Störern fahnden. Sie suchen den Geist, der stets verneint, und wollen ihn unschädlich machen. Das ist der Grundzug des Krisenbewusstseins, das man weder nutzen noch überhaupt fordern, bzw. fördern darf, das vielmehr Gegenstand der Kritik sein muss. Und das nicht nur in Venezuela, wo man deutlich sehen kann, dass die Krise des autoritären Staates schließlich immer zur Verwüstung von Synagogen führt und die Juden in letzter Konsequenz – das heißt, wenn die Begriffshüllen wie Spekulant, Heuschrecke, Imperialist durchsichtig geworden sind – immer noch den Gegenspieler des Volksstaates verkörpern müssen, ob sie es wollen oder nicht.
Dieser notwendige Zusammenhang zwischen dem real existierenden Krisenbewusstsein und dem Antisemitismus scheint für die einflusslosen Linksradikalen, die ihre sauer erworbenen Erkenntnisse unter normalen Umständen kaum mehr an den Mann bringen, nicht nachvollziehbar zu sein (wenn ihn auch die Krisis nicht gänzlich leugnet, sondern nur verharmlost). Jede Tirade gegen die Heuschrecken und jeder Lobgesang auf die Staatsintervention lässt die Revolutionäre auf dem Abstellgleis immer gleich die wundersame Wiederauferstehung des revolutionären Proletariats erwarten – oder zumindest das Auftreten eines geeigneten Nachfolgers. Diese Linksradikalen hoffen auf die Krise immer noch so, wie viele Deutsche einst auf die Wunderwaffen des Führers hofften: Mit einer Mischung aus Rachsucht gegen eine Welt, die sich nicht nach den eigenen Vorstellungen modeln lassen möchte, und dem Credo quia absurdum, dass eine apokalyptische Läuterung die Massen ergreifen und einen selber im Gefolge nach oben spülen könnte.
Man spürt die gespannte Erwartungshaltung und hektische Betriebsamkeit, wenn man liest, wie eine Großdemonstration unter dem Motto „Wir zahlen nicht für eure Krise“ vorbereitet wird. Eine „,Gruppe soziale Kämpfe‘, die das Bündnis aus Gewerkschaften, Attac, der Interventionistischen Linken und diversen anderen Gruppen initiiert hat“, drückt – laut Jungle World vom 22. Januar 2009 – auf die Tube. Am 28. März sollte sie nämlich stehen, die Großdemo mit dem genannten schwachsinnigen Motto. Das „Interventionsfenster“ stehe nämlich nicht mehr lange so offen, deshalb benötige man rasch eine „medial vermittelbare Krisendefinition“, ließen die Veranstalter wissen. Die etwas Schlaueren unter denen, die hoffen mit der Krise wieder ins Politgeschäft zu kommen, warten mit der „Überakkumulationsthese“ auf, die etwas Ehrlicheren setzen gleich auf den dritten Weg und das schaffende Kapital, also auf einen „maßvollen Kapitalismus mit gerechten Löhnen“. (2)
Natürlich sind die von der Überproduktionsfront schlauer und haben im Kapital-Kurs besser aufgepasst. Sie sind gerade dadurch aber auch realitätsferner als ihre „maßvollen“ Kontrahenten: Die Freunde eines starren und gehemmten „Kapitalismus“ produzieren zwar deutsche Ideologie von Rang, die darin zum Ausdruck kommende Dummheit aber hat ihr gutes Recht an einer dummen Wirklichkeit.
Denn längst haben wir es nicht mehr mit dem einstmals maßlos über jede Grenze hinauseilenden Kapitalismus zu tun, der genau darin seine historische Berechtigung besaß, als diese Maßlosigkeit einem Verein freier Menschen den Boden hätte bereiten können. Wo aber nur das Kapital selbst noch seine eigene Grenze darstellt und in diesem Zustand seit zirka 1870 verharrt, ist das Kapital statt eines gesellschaftlichen Verhältnisses das reelle Gemeinwesen geworden, die faktische gesellschaftliche Natur also.
Diesen politisch willkürlichen und sozialstationären Charakter des Spätkapitalismus haben die Freunde des rechten Maßes ganz affirmativ immerhin bemerkt. Sie offenbaren mit dieser Parole, dass sie eine ganz praktische Ahnung haben, von der Weise, wie Löhne, besser: Tarife zustande kommen, seit der zunehmend fixe Charakter des Kapitals das Wertgesetz (wohlgemerkt: nicht seinen Wertcharakter) durch den Primat der Politik ersetzte und damit der Krise eine ganz andere Bedeutung gab. Genau diese ignorieren aber jene, die zwar mal die Nase ins „Kapital“ gesteckt haben, darüber aber gern vergessen, dass es sich bei diesem Werk um eine Kritik der Politischen Ökonomie handelt.
Und wie der Weg ins Verderben üblicherweise mit guten Vorsätzen gepflastert ist, so verhält es sich in einem stellvertretend herangezogenen Conne-Island-Text zur „Finalen Krise“ (3) mit Marx-Zitaten: Die Autoren kommen rasch zu dem Schluss, dass die Mikroelektronik endlich die Produktivkraft sei, die dem Kapitalismus die letzte Grenze setze: „Eine den heutigen Verhältnissen angemessene Krisentheorie“ – lesen wir da – „hat das Abschmelzen der Wertsubstanz infolge mikroelektronischer Rationalisierungsprozesse zum Schwerpunkt zu haben.“ Für den daraus folgenden „Zusammenbruch“ habe man doch Marx als Zeugen. Der habe doch selbst gesagt, dass „sobald die Arbeit in unmittelbarer Form aufgehört hat, die große Quelle des Reichtums zu sein, hört und muss aufhören die Arbeitszeit Maß zu sein und daher der Tauschwert [das Maß] des Gebrauchswertes. Die Surplusarbeit der Masse hat aufgehört die Bedingung des allgemeinen Reichtums zu sein... Damit bricht die auf dem Tauschwert ruhnde Produktion zusammen.“ Vom jüngsten Tag soll nicht sprechen, wer den letzten Schuss nicht gehört hat, möchte man bei solch kurzschlüssigem Marxrekurs sagen. Denn prinzipiell unmöglich ist es, unmittelbare Politikableitungen aus der Wertform beziehen zu wollen, ein Unterfangen, das fast so unsinnig ist, wie aus Eingeweiden die Zukunft lesen zu wollen. Desweiteren lässt diese krude Krisenerwartung bedeutsame „besondere Umstände“ – wie Marx sie immer nennt – außer Acht:
Wie beispielsweise die Tatsache, dass die Ausdehnung des Wertanteils des konstanten Kapitals in den letzten Jahrzehnten durch seine ungeahnte „Verwohlfeilerung“ kompensiert worden ist. Denn der mittlerweile effektivere mechatronische Produktionsprozess ist obendrein auch noch relativ billiger als der ehemals mechanische. Auch bleibt bislang die Tatsache unreflektiert, dass ein exorbitant gewachsenes Transportwesen mittlerweile dafür sorgt, dass regionale und umso mehr globale Niveauunterschiede im Lebensstandard und den Produktionskosten dazu genutzt wurden und werden, die Kosten der – sogar einigermaßen anständigen – Erhaltung des Kollektivs der Überflüssigen, als das wir uns alle illusionslos betrachten können, gesunken sind und weiter sinken werden. Anders gesagt: es ist ebenfalls eine „Verwohlfeilerung“ der Erhaltungskosten des variablen Kapitals eingetreten. Beides sind mächtige Faktoren, die dem tendenziellen Fall der Profitrate entgegen wirken.
Das sind aber gar nicht meine Haupteinwände, denn auch sie sagen nichts über das Wichtigste zum Thema „Krise“, zum Epochenwandel, den der Kapitalismus beim Übergang von der bürgerlichen in die etatistische Phase vollzogen hat. Dieser Übergang beschreibt den Wandel der Krise als eines zunächst zyklisch auftretenden Einspruchs des Wertgesetzes, als despotischem Statthalter einer historischen Vernunft, zu einem permanenten Zustand politischer Unvernunft potentiell mörderischen Zuschnitts.
Davon kann man sich gerade in Deutschlands Osten täglich überzeugen, doch der Krisentheoretiker meint sich mit Marx beruhigen zu können und zitiert aus dem „Kapital“: „Das Kapitalverhältnis bricht also durch innere Widersprüche zusammen: ‚Die wahre Schranke der kapitalistischen Produktion ist das Kapital selbst, ist dies: dass das Kapital und seine Selbstverwertung als Ausgangspunkt und Endpunkt, als Motiv und Zweck der Produktion erscheint.’“ (4)
Dieser Zeitpunkt, an dem das Kapital und seine Selbstverwertung sich selbst Zweck und Motiv, Alpha und Omega sind, ist aber keineswegs der Moment des finalen Zusammenbruchs, sondern die für den Spätkapitalismus seit fast 140 Jahren gültige Definition. Indem das Kapital nämlich ab einem gewissen Punkt die Krise als Einspruch der Vernunft nicht mehr tolerieren mag, das ökonomisch auch gar nicht mehr kann und zugleich politisch nicht mehr muss, in dem Augenblick, in dem wir in die Ära des Interventionsstaates eintreten – dem nicht umsonst das höchste Streben der Arbeiterbewegung gilt –, emanzipiert sich das Kapital von sich selber, wird tautologisch bis zum organisierten Antikapitalismus: „Der Wert, der sich unter Preisgabe seiner selbst“ – also der Funktion der abstrakten Vermittlung und des Abgleichs jenseits der individuellen Willkür – „zum reellen Gemeinwesen konstituiert hat, setzt tautologisch als seinen Gebrauchswert alles, was seiner posthumen Selbsterhaltung nützt“. (5)
Der Kapitalismus erhält sich posthum, also nach seinem logischen Tod, und das heißt, als ein anderer, als der er vorher war, wenn auch nach wie vor mit Geld und Gesetz. Er hat zwar nicht seine Widersprüche suspendiert, dafür aber ihre aufklärende Wirkung. Das Kapital erscheint nicht mehr als fragmentarisches Ringen der Einzelnen, sondern als „reelles Gemeinwesen“ und damit als ein umfassendes, scheinsachliches Prinzip der Regulierung, verkörpert in den Institutionen des Volksstaates. Krisenerscheinungen können jetzt nur noch Sabotage sein und ab und an schrumpfende Margen kitzeln die Lust, die Saboteure zu jagen, die nicht umsonst Karikaturen der liberalen Ära des Kapitalismus gleichen: Erst ein deutscher Sozialstaat modernen Zuschnitts konnte so auf die Idee einer Endlösung verfallen.
Diesen Funktionswandel von Krise zu konstatieren, sollte zwei Weltkriege und eine Shoa später selbstverständlich sein. Ist es aber, wie gesehen, nicht. Manche haben die entsprechende Einsicht nämlich dahingehend umgedeutet, dass das Ende des liberalen Kapitalismus autoritäre Harmonie bedeuten würde. Kritische Theorie weist vielmehr darauf hin, dass die Krisen ihren Charakter als Einspruch der Vernunft verloren haben. So hatte Marx 1873 im Vorwort zum Kapital noch auf die Krise gehofft: Dass nämlich die kommende Gründerkrise „durch die Allseitigkeit ihres Schauplatzes, wie die Intensität ihrer Wirkung, selbst den Glückspilzen des neuen heiligen, preußisch-deutschen Reichs Dialektik einpauken (wird)“. (6) Eine schon damals vergebliche Hoffnung. Die Krise überkommt seither Herrscher und Beherrschte wie Dürre oder andere Naturereignisse die Altvorderen, aber mit dem Unterschied, dass sie nach dem Stand der Dinge im Gegensatz zu jenen wirklich ohne jede Notwendigkeit auftreten, aber ebenso panische Beschwörungs- und Bannungsrituale hervorrufen. Das Blühen der Esoterik durch das ganze 20. Jahrhundert hindurch dürfte solcher Selbstentmündigung geschuldet sein. Sie ist die notwendige Begleiterscheinung dessen, was man gern als „Entideologisierung“ bezeichnet. Die setzt genau da ein, wo das Kapital, wie in Marx’ bereits zitierter Prognose, jeden überschießenden Zweck kassiert und sich selbst als End- und Zielpunkt gesetzt hat – oder philosophisch gesagt, wo das Partikulare total wird, das Unwahre zum Ganzen oder einfacher: das Schwachsinnige zum Fraglosen.
Das Fortbestehen des Kapitals über seinen logischen Tod hinaus, entzieht der Arbeit nämlich jeden transzendierenden Sinn: sie ist genauso überflüssig wie das politisch organisierte Kapital als „reelles Gemeinwesen“ und genauso zwingend. Pohrt notierte treffend: „In den modernen Arbeitsbeschaffungs- und Krisensteuerungsprogrammen, durch welche sich die kapitalistische Ökonomie vom Wertgesetz, an dem sie zugrunde gehen würde, emanzipiert, wird aber die Arbeit auf ihren trivialen Gebrauchswert reduziert. Die Willkür der Machthaber, die sie anordnen, macht sie zur Sklavenarbeit.“ (7)
Krise ist nicht mehr der Moment, an dem man erkennen könnte, dass dem Kapital ein anderer, nicht intendierter Zweck innewohnen könnte, nämlich die Entfaltung der Gattungskräfte, die mit der Beschränktheit ihrer kapitalen Existenzform in Konflikt treten. Krise ist vielmehr der Dauerzustand des Kapitals, wenn es sich zum System sachlich scheinender Selbstzweckhaftigkeit entfaltet hat. Dessen innere, logische Widersprüche sind zwar keineswegs behoben, aber sie degenerieren, wie gesagt, auf eine Art Naturprozess, dessen Bändigungsversuche in einem ebenso naturhaft wuchernden „bürokratischen Naturzustand“ stattfinden.
Dieser Naturzustand, zu dem hin sich der Krisenpräventionsstaat mit seiner schier uferlosen Bürokratisierung unweigerlich entwickelte, war es, dem Horkheimers Überlegungen zum Autoritären Staat galten. Nicht die Abschaffung der Krise durch den Staat – wie manche Kritiker vorwurfsvoll unterstellten – ist demnach das Thema der Kritischen Theorie: Sondern ihre Verewigung durch den Staat der Rackets. Krisentheorie hätte demzufolge ganz grundlegend Staatskritik zu sein, und zwar Kritik eines ganz bestimmten Staates: dem des sozialen Auftrages, dem des Ausgleichs der Interessengruppen, eine Kritik des besonders wohlmeinenden Staates, des Staates der permanenten Krisenprävention – denn er ist der Gegensouverän, wie ihn Manfred Dahlmann bezeichnet hat, oder mit gleicher Intention Gerhard Scheit als modernen Behemoth.
Max Horkheimer beschrieb diesen Gegensouverän als „Autoritären Staat“, der die Entwicklung der Produktivkräfte nach Möglichkeit reglementiert und die vom Versorger der herrschenden Klassen zum Versorgungsobjekt der herrschenden Cliquen herabgesunkenen Arbeitskraftbesitzer entsprechend segregiert. Diesen Staat, der aus dem „dunklen Bündnis von Bismarck und Lasalle“ ebenso entsteht wie aus der Kontinuität von Robespierre auf Louis Bonaparte, definiert Horkheimer so: „Der Zustand bleibt weiterhin absurd. Freilich wird die Fesselung der Produktivkräfte von nun an als Bedingung von Herrschaft verstanden und mit Bewusstsein ausgeübt. Dass er zwischen den Schichten der Beherrschten, sei es zwischen Gemeinen und Facharbeitern oder den Geschlechtern oder den Rassen ökonomisch differenziert … gehört zum Katechismus der autoritären Regierungskunst.“ (8)
Im Kern besteht diese dubiose Kunst darin, das, was einst der Markt mehr oder weniger blind besorgte, nun ins politische Kalkül eines Staates zu verlegen, der fern von Max Webers Vorstellung eines puritanisch-strengen Vollzugsapparates preussischer Prägung vielmehr Integration von und Ausgleich zwischen Interessengruppen betreibt – zumindest soweit es auf deren Unterstützung ankommt und deren Funktionäre wie Klientel er deshalb versorgen muss. Bismarck selbst gab die überaus instruktive Begründung für die 1883 erfolgte Einführung der gesetzlichen Krankenversicherung – die ihr Wesen allerdings erst so recht entfalten konnte, als sie vor allem nach dem Ersten Weltkrieg im Zuge der so genannten „Selbstverwaltung“ zum Apparat der Cliquenversorgung von Staats wegen für in erster Linie Gewerkschafts-, aber auch anderer Verbandsfunktionäre wurde. Bismarck jedenfalls sagte rückblickend: „Mein Gedanke war, die arbeitenden Klassen zu gewinnen, oder soll ich sagen zu bestechen, den Staat als soziale Einrichtung anzusehen, die ihretwegen besteht und für ihr Wohl sorgen möchte“ (9)
Diejenigen, die aus diesen arbeitenden Klassen ausgeschlossen sind, bezahlen die Zeche. Heute ist nämlich der segregierende Charakter der Krisenprävention im Racket-Staat so deutlich wie nicht mehr seit 1945 zu sehen: Durch den Ausschluss derer, die nicht rechtzeitig oder durch den Verzicht auf ihre Jugend und quälende Job-Castings (Praktika) in die Brutto- (nicht: Netto!) Hochlohn-Maschinerie hineingekommen sind. Der absurde Widerspruch der Finanzierung der Kassensysteme durch so genannte Lohnnebenkosten prozessiert dynamisch und unaufhaltsam: Je weniger solcher Arbeitsplätze noch finanziert werden können, desto teurer werden die verbliebenen. Je teurer diese werden, desto weniger gibt es in der Folge, desto teurer werden die verbliebenen und so weiter und so fort.
Unaufhaltsam ist dieser Teufelskreis also nicht etwa, weil Werbsubstanzen abschmelzen, sondern weil die bisherige Form der „posthumen Selbsterhaltung“ des Kapitalismus genau auf die Kooperation der halbstaatlichen Rackets wie Gewerkschaften und Unternehmerverbände baut. Die wiederum finanzieren sich und das heißt: ihre Apparate genau durch das System, in dem staatlicherseits erzwungene Beiträge in die „Selbstverwaltung“ der Kassen fließen. Die Folgen sind deutlich sichtbar und berühren, zumindest vermittelt, nahezu jeden.
Über die Jahre stieg der Umfang flexibler Zeit- und Leiharbeit in den an sich noch am Export prosperierenden Regionen – und damit die einzige Arbeitskraft, die tatsächlich noch v, also: variabel ist. Womöglich noch steiler stieg die Zahl ökonomisch tot geborener Jugendlicher in den abgehängten Regionen, Jugendlicher, die nie die Chance bekommen, sich aus der Alimentierung durch die staatlichen, familiären und ethnischen Rackets zu lösen, und die entweder im inszenierten zweiten und dritten Arbeitsmarkt hängen bleiben und/oder gleich in der Ghetto- und Onkel-Ökonomie versinken. In einigen Bezirken des mittlerweile de-industrialisierten Berlin ist jeder zweite Unter-Dreißigjährige zu einem solchen Zombie-Dasein verurteilt.
Das aber ist kein Thema für die Krisentheorie, obwohl der Alltag doch von dieser Form der Krisenverwaltung bestimmt wird. Alle jugendsoziologischen Forschungen der letzten Jahre haben ergeben, dass zwei vollkommen auseinanderstrebende Tendenzen dominieren: Da sind die Langweiler, also der besser gestellte Teil der Nachwachsenden, die deswegen so fad sind, weil sie verzweifelt darum ringen, die Quasi-Verbeamtung nach altdeutschen Arbeitsvertragsrecht zu erreichen und zu diesem Zweck von einem Verein in den nächsten Kurs und in den Ferien in die Praktika stolpert. Und sind andererseits die Vergessenen, die den Alltag der Gymnasiasten nur in TV-Casting-Träumen nachspielen können und ansonsten einfach aus der geltenden Welt herausfallen und im wahrsten Sinne des Wortes im Herz der Finsternis verwahrlosen, aber selbst in ihren Banden und Gangs noch die Rezepte der Herrschenden nachahmen – ohne es zu merken.
Denn es sind auch Cliquen, die dies absurde, hoch krisenhafte System der Krisenprävention in Gang setzen und an ihm ihre Beute haben. Cliquen sind überhaupt die genuine Organisationsform des „bürokratischen Naturzustandes“. Sie entsprechen in etwa den Rudeln der ersten Natur und stehen in ausgeprägtem Gegensatz zum Individuum in der aufstrebenden Phase des Kapitalismus. Nicht zufällig sah Horkheimer in der „Clique den zentralen soziologischen Begriff für die heutige Gesellschaft“; ein Begriff, der im Wesentlichen mit dem früher verwendeten „Racket“ übereinstimmt. (10) An anderer Stelle seiner nachgelassenen Schriften begründete er auch, warum: Weil das System des organisierten Kapitalismus, dem es ja gerade darum geht, sich nicht mehr dem objektiven Regulativ des Tausches zwischen Einzelnen unterzuordnen, um seinen Profit nicht mehr realisieren zu müssen, sondern ihn vielmehr organisierenzu können, weil dieses System also die feudalen Strukturen von Gebietskontrolle, Zugangsbeschränkung; Gewalt und Gewohnheitsrecht auf neuer Stufenleiter reproduziert.
Moderne Verbände unterscheiden sich in ihren Mitteln, nicht aber in ihren Strukturen von der althergebrachten Camorra: „Der ökonomische Prozess bewirkte die Zusammenziehung der Macht in den Händen von Monopolen, heute in eine Anzahl von Rackets in den verschiedenen industriellen, fachmännischen, politischen Schichten“, konstatiert Horkheimer trocken. (11) In der heutigen deutschen Krisenverwaltung, die in einem System von Kassen, in erster Linie im Renten- und Sozialversicherungsfonds organisiert ist, verbergen sich diese Rackets hinter dem unscheinbaren Wörtchen „Selbstverwaltung“. Seit langem verwalten die jährlich zirka 200 Milliarden Euro Rentenbeiträge „gewählte Vertreter der Versicherten (überwiegend Gewerkschafter)“, wie die Homepage der Deutschen Rentenversicherung verrät: „Sie ‚regieren‘ ihren Rentenversicherungsträger“, heißt es dort weiter. Mittlerweile fließen in diesen Apparat ein knappes Drittel Steuermittel, nur damit die Racket-Strukturen, die sich ja allein aus der Lohnbeitragsfinanzierung legitimieren, nicht angetastet werden müssen. Nicht anders verhält es sich mit der Bundesanstalt für Arbeit: 98.000 Bedienstete verwalten ein Haushaltsvolumen von 43,7 Milliarden Euro (im Jahr 2007); Verwaltungsrat und Verwaltungsausschüsse werden in erster Linie mit Gewerkschaftern und in zweiter Linie mit Arbeitgeber-Verbandsvertretern besetzt.
Warum das Katastrophensystem der Beitragsfinanzierung nicht öffentlich – und schon gar nicht von links – in Frage gestellt wird, ist also ziemlich klar. Aber dass es die Kritiker so wenig interessiert, wie es sich mit Zähnen und Klauen auf dem Arbeitsmarkt abschottet, ist schon bemerkenswert: Von allen westliche Ländern hat Frankreich die höchste Jugendarbeitslosigkeit und Deutschland die höchste bei Geringqualifizierten.
Unter diesen total kartellierten Bedingungen zu leben, aber sie zugleich komplett zu ignorieren und obendrein so zu tun, als sei man nicht auf dem Terrain Politischer Ökonomie, sondern im Felde reiner Rechenoperationen ohne störende Randbedingungen, ist ebenso verfehlt wie feige. Denn die Krise, wie wir sie erleben, ist eine Krise der Krisenprävention. Anzugreifen wären die Rackets, die dieses System hervorgebracht hat und die natürlich ihre Rolle nach Kräften verschleiern und verteidigen und dabei wie selbstverständlich auf den antisemitischen Affekt der Massen rechnen, denen ein paar „Heuschrecken“ vorgehalten werden.
Zum Verzweifeln ist aber besonders, dass auch und gerade die Leidtragenden dieses Systems keine praktische Staatskritik üben und bei den so genannten Selbstverwaltungen der Renten- und Sozialversicherungen anfangen, die für Millionen auf den menschlichen Müllhaufen Geworfener verantwortlich zeichnen müssen. Stattdessen blöken nicht wenige von ihnen in deutschen Innenstädten „All Judd muss tod“ und wählen, wenn sie es denn tun, wie die blöden Kälber ihre Schlächter selber: Sozialdemokratie und Linkspartei. Die sich selbst als „arisch“ empfindenden Verlierer setzen hingegen gleich auf die, die wieder einmal den Übergang von Krisenprävention zur Elimination wenigstens andeuten. Die österreichischen Jungwähler haben in dieser Hinsicht wohl nur wenige Fragen offen gelassen. Darin besteht Krise zuallererst – die Krise, die jetzt schon 140 Jahre andauert: dass die, die sie so fürchten, sich nur eine Alternative vorstellen und wollen: die zwischen sozialdemokratischen Krisenprävention oder gleich radikalfaschistischer Krisenelimination. Ein Drittes gibt es in Deutschland nicht.
Uli Krug (Bahamas 57 / 2009)
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