Die Struktur der deutschen Universitäten als System von Rackets zu analysieren, ist nicht neu, mag aber so erscheinen, weil es in Erinnerung ruft, was umso gründlicher verdrängt wird, je offenbarer es zutage tritt – dass die als so selbstverständlich angesehenen bürokratischen Institutionen, sozialen „Felder“ und „Subsysteme“ der „Moderne“ kein Produkt einer transparenten Rationalität sind, auf die vernünftige Menschen sich im freien kommunikativen Austausch immer wieder aufs Neue einigen können, sondern Ergebnis von Willkürakten und Manifestationen von Herrschaft, die im Nachhinein als rational legitimierter „Konsens“ ausgegeben werden, auf den sich jeder, der dabei sein möchte, zu beziehen habe. Gesellschaftliche Institutionen als Rackets zu verstehen, zielt insofern nicht einfach darauf, „undemokratische“ Residuen formaler Demokratien als solche zu brandmarken, sondern soll im Gegenteil die gewaltförmigen Grundlagen einer bürgerlichen Demokratie zu kritisieren helfen, die ihren eigenen Anspruch permanent verrät. Rackets sind demnach kein feudaler oder bandenförmiger Überrest innerhalb formaler Demokratien, sondern stecken als deren verleugnete Voraussetzung und ständig aktualisierbare Möglichkeit in diesen selbst und drohen sich umso brutaler durchzusetzen, je deutlicher die Fassadenhaftigkeit gesellschaftlicher „Rationalität“ ins Bewusstsein der, sich als auf sich selbst zurückgeworfenen, Opfer fühlenden Individuen tritt. Deshalb vermögen Rackets sich weitgehend widerstandslos und „von unten“ zu etablieren: Sie knüpfen an das vom preisgegebenen bürgerlichen Emanzipationsversprechen losgelassene regressive Bedürfnis der atomisierten Einzelnen an, Herrschaft nicht aufzuheben, sondern als Patronage des kleinen Mannes, der ohne sie vollends ohnmächtig sei, zu bejahen.
Um das Desaster des gegenwärtigen Bildungswesens zumindest halbwegs angemessen in den Blick zu bekommen, genügt es daher nicht, die sich abschottenden universitären Eliten an den Pranger zu stellen, den Abbau sozialer Chancengleichheit zu kritisieren, abstrakt eine kostenlose „Bildung für alle“ zu fordern usw., wobei dann regelmäßig die entmündigten und ausgebeuteten Studenten den autoritären, ökonomisch abgesicherten und ignoranten Repräsentanten des Universitätssystems gegenübergestellt werden. Statt dessen wäre zu fragen, was für ein Studium sich diejenigen, die öffentlichen Protest äußern, überhaupt wünschen, wieso die redselig beklagte universitätspolitische Apathie nicht durchbrochen wird – und, in letzter Konsequenz, mit welcher Art von Subjekten zu rechnen hat, wer sich heute für ein „selbstbestimmtes Studium“ engagiert. Vor dem zu diesem Zweck notwendigen Abstieg in die Niederungen der Empirie sind einige Vorüberlegungen zum Begriff der Autorität, dem Lieblingsfeind aller Studentenproteste, angebracht. Autorität ist sowohl als politische wie als sozialpsychologische Kategorie zunächst ein analytischer, kein von vornherein pejorativer Begriff. Eine Gesellschaft, die den Einzelnen nicht nur als Exemplar einer ethnisch, geschlechtlich oder kulturell homogen definierten Gruppe, also letztlich als bloßes Gattungswesen bestimmt, wird ihm gerade um der Möglichkeit zur Entfaltung seiner Individualität willen die Begegnung mit Autoritäten kaum ersparen können. In Auseinandersetzung mit Autorität erwirbt der Einzelne allererst jenes Wissen um die Dialektik von Autonomie und Anerkennung, durch die hindurch sich Individualität im empathischen Sinn, wie prekär und labil auch immer, vielleicht einmalgewinnen läßt. Insofern besteht eine Affinität zwischen der Notwendigkeit der Anerkennung von Autorität und dem bürgerlichen Ideal freier Konkurrenz, das dem Individuum als Leistungsträger zumindest idealiter die Möglichkeit bietet, dem Sog des Ursprungs zu entkommen, nach Maßgabe eigener Wünsche neu anzufangen, sich neu zu entscheiden und neu zu bestimmen. Bei alldem geht es nicht um Unterwerfung unter Autorität, sondern um ihre Anerkennung und Reflexion. Auf das Bildungswesen übertragen hieße dies: Lehrer sind notwendig sowohl als Sachautorität, ohne die doch Lernprozesse welcher Art auch immer unmöglich wären, wie auch als Repräsentanten einer pädagogischen Autorität, Träger eines Ich-Ideals der Schüler, das nicht blind introjiziert, aber eben auch nicht blind abgelehnt werden darf, sondern in einem wahrscheinlich immer schmerzhaften Lernprozess von jedem Individuum auf eigene Weise in seiner Fragwürdigkeit zu erkennen und aufzuheben wäre. Insofern ist die Begegnung mit Autorität als Moment sozialer Individuation unumgänglich; wer sich ihr von vornherein verweigert, Hierarchien, Normen usw. unabhängig von ihrer jeweiligen Funktion und Begründung immer schon als repressiv, wenn nicht gar gleich als faschistisch abwehrt, der formt sein eigenes Selbst im Kampf gegen den Popanz kapitalistischer Unterdrückung bewusstlos nach dem Modell ebenjenes autoritären Charakters, gegen den verbal Sturm gelaufen wird.
In den aktuell noch vorhandenen Formen studentischen Protests ist das Wissen um diese Zusammenhänge jedoch kaum vorhanden. Statt dessen dominiert der Eindruck, dass Autorität im hier skizzierten Sinne überhaupt nicht kritisiert oder aufgehoben werden soll, sondern im Gegenteil als paternalistische Schutzmacht der sich als hilflos und prekarisierungsbedroht vorstellenden, oft in einer Haltung aggressiven Beleidigtseins verharrenden Studenten geradezu eingefordert wird. Das studentische „Alternative Veranstaltungsverzeichnis für Berlin und Potsdam“ vom Sommer 2008 (AVV), das für jedes Semester verschiedene „autonome“ Seminare und studentische Workshops der Region zusammenstellt und insofern als halbwegs repräsentativ gelten kann, gibt schon im Titelbild die Stimmung vor, aus der solcher Protest sich speist (1): Endlos viele kindlich gezeichnete Studenten sitzen an Schultischen wie an einem Fließband, um sinnlose Arbeiten zu verrichten. Damit mag die Standardisierung der geisteswissenschaftlichen Studiengänge kritisiert werden, vor allem aber wird das Angstbild einer anonymen Massenuniversität entworfen, die ausschließlich atomisierte, auf sich zurückgeworfene Einzelkämpfer produziert, deren fremdbestimmte Arbeit mit ihrem individuellen Interesse a priori unvereinbar zu sein scheint. Die angeprangerte Fremdbestimmtheit bezieht sich dabei indessen zunehmend auf eine vergangene Epoche, denn das damit assoziierte Modell der Massenuniversität gehört im Zeitalter florierender Privat- und Fachhochschulen nicht mehr zum angestrebten Hochschulideal. Dennoch wird dieses Schreckbild in der Broschüre vielfach variiert. Ihm stehen die „Projekte“, „Kulturzentren“ und „offenen Unis“ gegenüber, die offenbar allesamt in schönen, alten Gebäuden mit überschaubarer Innenarchitektur, ruhigem Umfeld und reichem Baumbestand untergebracht sind: Bei Heidegger im Hotzenwald studiert zu haben, muss wirklich gemütlicher gewesen sein als bei Szondi in Berlin. Dass eine Massenuniversität, in der man wahrscheinlich herzlos verwaltet, aber eben auch nicht, wie im hortus conclusus des Geistes, tagtäglich wiedererkannt und persönlich beaufsichtigt wird, auch ihre Vorteile haben könnte, ist gründlich verdrängt. Dem entspricht, was sich die Protestierenden unter universitärer „Offenheit“ vorzustellen scheinen. Über die „Offene Uni BerlinS“ (OUBS) etwa schreiben die Organisatoren: „Allen Menschen ohne Beschränkungen [!] soll ermöglicht werden, Lehrstoff zu hinterfragen und Wissen fernab von Leistungsdruck selbstbestimmt und kostenlos anzueignen und weiterzugeben […] – aber auch bei gemütlichen VoKü-, Film- und Musikabenden oder beim Kickern anderen begegnen [!] und sich zu vernetzen […] Die OUBS erstrebt es auch, Schutzraum zu sein vor Diskriminierung jeder Art. Vorurteile, Rücksichtslosigkeit, Hierarchien und Ignoranz sind hier unerwünscht. Vielmehr wollen wir nicht nur von- und miteinander lernen, sondern auch im alltäglichen Umgang miteinander soziale Grenzen in Frage stellen. Unter Bildung werden hier nicht nur sachliche Kenntnisse verstanden, sondern genauso auch Bildung des Selbst im praktischen Erproben gleichberechtigter und horizontaler [!] Begegnung […] sowie in der kritischen Auseinandersetzung mit dem, was uns umgibt“ [alle Hervorhebungen hier und im Folgenden von mir]. Umgeben ist man an der OUBS von „allerlei Ausstattung: […] ein Bewegungsraum, ein Fotolabor, ein Beamer-Kino, PC-Pool mit Internetanschluss, Küche und eine Bibliothek“; die OUBS, so heißt es, sei „weder Dienstleistungsbetrieb noch Erlebnisgastronomie“, es gebe dort weder „Hausleitung“ noch „Angestellte“ oder ein „zentrales Plenum“, sondern nur „AGs“, die sich „einbringen“, jedoch „keinen Zustand der Vollendung“ anstreben. Dieses Schreckbild eines Altersheims für Jugendliche bestimmt die „offene Uni“ ohne Duldung grundsätzlichen Widerspruchs als Ort, an dem man sich nicht etwa eigenständig geistig entwickeln können soll – was ganz ohne „Leistungsdruck“, ohne Curriculum und Selbstdisziplin kaum funktionieren dürfte –, an dem man aber auch nicht nach Herzenslust genießen und sich erholen können darf, sondern als ein „Schutzraum“ vor einer begrifflich nicht näher bestimmten und daher auch nicht kritisch negierbaren diskriminierenden Außenwelt fungiert. Die Sprache beweist, dass schon das Ansinnen, einen kohärenten Gedanken zu entfalten oder einen grammatisch korrekten Satz zu formulieren, im Grunde als Zumutung, als irgendwie hierarchische Rücksichtslosigkeit abgewiesen wird. Das Ideal der kostenlosen und selbstbestimmten „Aneignung“ und „Weitergabe“ von Wissen folgt selbst der Logik des Racket, wonach niemand aufgrund seiner Leistungen und individuellen Fähigkeiten legitimerweise Anspruch auf intellektuelle Superiorität auf bestimmten Gebieten des Geistes erheben darf, sondern jedem unabhängig von Interesse und Kompetenz qua Naturrecht ein Anteil am universitären Raum zusteht, den er notfalls eben gewaltsam zu besetzen hat. Leistungsnachweise, Bildungsstandards und thematische Festlegungen werden lediglich als Einengungen einer „Freiheit“ empfunden, die inhaltlich völlig leer bleibt.
Das Ressentiment gegen die Forderung, der Einzelne müsse sich auf die Realität, die er kritisieren will, zunächst einmal sachlich einlassen und womöglich gewisse Kenntnisse und Erfahrungen erwerben, bevor er sich über sie erhaben fühlen kann, bestimmt auch die inzwischen wieder auf die Tagesordnung gekommene „linke“ Schulkritik. Ein Seminar der Berliner Gruppe [paeris] zum Thema „Setzen, Sechs! – Kritik der Schule“ wird mit folgendem Jingle beworben: „Früh morgens aufstehen – Angebrüllt werden oder verständnisvolle Lehrerinnen ertragen – Klausuren und Noten – Auswendig lernen – Sich auf Kommando sportlich betätigen – ‚pubertär‘ oder ‚engagiert‘ genannt werden – Aufsätze über blödsinnige Fragestellungen schreiben – Ex-linke Lehrerinnen – Bleierne Langeweile […] Und dann sind da auch noch die Mitschüler, die ihre Kreativität ausspielen, um dem ganzen Horror des Schulalltags noch die besondere Note zu geben. Wir wollen in der Diskussion und anhand von Texten und Lehrplänen klären, […] warum die Schülerinnen untereinander nicht zufällig die Ellenbogen ausfahren, nicht abschreiben lassen, wild stolz auf ihre Noten sind und entlang dieser genau wissen, wer die ‚Streberin‘ und wer der ‚Doofe‘ der Klasse ist.“ Was vermutlich witzig klingen soll, definiert Kritik und Protest gegen schulische Autorität in Wahrheit schlicht als Verweigerung jeder Lern- und Erfahrungsfähigkeit: Autoritäre Lehrer sind dieser Optik gemäß ebenso scheiße wie verständnisvolle, „Fragestellungen“ sind von vornherein, ganz einfach weil sie der Lehrer stellt, „blödsinnig“, jede Bewertung schulischen Sozialverhaltens durch die Institution ist ungerecht und einengend, Stolz auf gute Noten ist ebenso grundsätzlich abzulehnen wie frühes Aufstehen. Lehrer und Mitschüler erscheinen gleichermaßen als Charaktermasken eines zwar überhaupt nicht näher bestimmten, aber eben darum pauschal perhorreszierten Schweinesystems, bei dem jeder irgendwie mitmacht, zugleich aber jeder irgendwie Opfer ist. Dass die reale Katastrophe im gegenwärtigen Schulwesen eher damit zu tun haben könnte, dass grundlegende zivilisatorische Techniken wie Lesen und Schreiben, die Fähigkeit zur angemessenen Artikulation, Rücksichtnahme, Achtung von Kompetenz und „Engagement“, sowie die Bereitschaft, das Bedürfnis nach pubertärer Triebentladung aufzuschieben, um die eigene Reflexionsfähigkeit im Umgang mit zwar vorgegebenen, deshalb aber nicht gleich „blödsinnigen“ Gegenständen zu schärfen, längst erodiert sind; dass die größte Gefahr für Schüler heute nicht von rohrstockbewehrten Lehrern ausgeht, die „Setzen, Sechs“ brüllen, sondern von messerbewaffneten Mitschülern, die „Jude“ oder „Schwule Sau“ skandieren; dass die wahre Hausmacht auf vielen Schulgeländen gar nicht mehr von der Institution, sondern von pubertären Banden ausgeübt wird – all das kommt „Linken“, die seit Jahren keine Schule von innen gesehen haben, sich aber gerade deshalb als unverkrampfte Sozialhelfer der Jugend empfehlen, nicht in den Sinn. Idealer Adressat dieses Antiautoritarismus, der im Stil autonomer Flugblattprosa zwar alles in den Dreck zieht, aber nirgends konkrete Kritik übt, um im imaginären Kampf gegen die als Anmaßung empfundene Wirklichkeit möglichst viele Opfer ins Boot zu holen, ist nicht das um seine Autonomie fürchtende Individuum, sondern der um seine volksgemeinschaftliche Sicherheit fürchtende autoritäre Charakter: der Typus des aggressiv Braven, der sich schon vor seiner Volljährigkeit als schutzbedürftig versteht und weder wirklich aus seinen Lebensverhältnissen ausbrechen noch sich durch Intelligenz oder Leistungen hervortun, sondern für seinen als notwendigen Zwang empfundenen Dienst nach Vorschrift mit einem Stück vom Kuchen der Obrigkeit belohnt werden will. Autorität will er nicht aufheben, sondern dort unsichtbar machen, wo sie als maßregelnde oder urteilende sich möglicherweise gegen ihn selbst wenden könnte. Zementiert werden soll sie als Protektion, als Schutzmacht, die allen, die sie blind bejahen, das Lebensrecht garantiert, das, wie jeder heimlich weiß, kein Menschenrecht ist, sondern verdient werden will. Dieses Bedürfnis, Herrschaft in ihrer paternalen Erscheinungsform um jeden Preis zu erhalten, von ihren notwendig damit verbundenen gewaltförmigen Momenten aber nichts wissen zu wollen, ist selbst konstitutiv für die Etablierung von Rackets. Demgegenüber endlich laut einzufordern, dass das Lebensrecht weder an Leistung noch an Unterwerfung gebunden sein darf, wird objektiv unmöglich, wo die Aufhebung jeder Konkurrenz, also auch jeder Vergleichung untereinander, als vermeintlicher Königsweg zur Freiheit postuliert wird. Denn außer dem erbarmungslosen, aber ideologisch strikt dementierten Kampf aller gegen alle, der den Anpassungsfähigsten zum Sieg verhilft, wäre dabei nichts gewonnen.
Wie das Repressions- und Diskriminierungssystem konkret vorgestellt wird, vor dem die „offene Universität“ als „Schutzraum“ die Studierenden bewahren soll, läßt sich allenfalls indirekt aus den „alternativen“ Veranstaltungen erschließen. So finden sich jedenfalls keine Seminare, in denen es um den Versuch geht, die Geschichte des Bildungsbegriffs, die Formen universitätspolitischer Demokratisierung seit den sechziger Jahren, das Verhältnis von körperlicher und geistiger Arbeit, die Vereinbarung von Studium und Erwerbsarbeit, den Elitebegriff oder sonstige Fragen zum Gegenstand zu machen, die mit dem Ideal der Studienfreiheit, für das man kämpft, ganz unmittelbar zu tun haben. Statt dessen tritt die schlechte Wirklichkeit in folgenden Erscheinungsformen auf: als „Heteronormativität“ (Seminar „Queere Einbrüche in die Politikwissenschaft“), die mit dem rackettauglichen Slogan „We are here, we are queer, get fucking used to it“ beantwortet wird; als „postkoloniale Positionierung“, die in „Zusammenarbeit von Schwarzen deutschen, […] migrantischen und weißen deutschen Positionen“ zu bearbeiten sei; als „Ganzheitsparadigma“, dem man sich durch „Rhizom machen“ entziehen solle, um „klar definierbare Fachbereichsgrenzen“ zugunsten eines „übergreifenden, produktiv vermittelnden Denkens“ zu verabschieden; vor allem aber als globalisiertes „Lager“, in das jeder Einzelne spätestens nach Auszug bei den Eltern deportiert zu werden droht („Mensch und Lager“): „Das 20. Jahrhundert gilt als das ‚Jahrhundert der Lager‘, da es sich über die verschiedenen Lagersysteme (angefangen bei den Internierungslagern der Kolonialmächte bis hin zu Abschiebelagern und außerordentlichen Gefangenenlagern) definiere. [Untersucht wurden bereits] die Funktion und Bedeutung der Lagersysteme in den jeweiligen Herrschaftssystemen, die Dynamiken, die sich dort entwickelte [!], die Wahrnehmung des Lageralltags durch die Insassinnen und das ‚Personal‘ […] Diese Fragen sollen nun […] für Lagersysteme nach 1945 weitergeführt werden […] Hierzu gehören auch Ansätze, die im Lager bzw. im Ausnahmezustand ein Paradigma der Moderne sehen.“ Ganz im Sinn Agambens gilt die Existenz von NS-Vernichtungslagern als zu selbstverständlich, um überhaupt noch erwähnt zu werden angesichts eines Zustands, in dem „das Lager“ als „Paradigma der Moderne“ in jedem Asylantenheim, auf jedem Arbeitsamt und natürlich auch in jeder Bildungseinrichtung vom qua Globalisierung kolonisierten postmodernen Subjekt nachgeschmeckt werden kann. Anders als selbst noch bei Agamben wird der „Ausnahmezustand“ dabei offensichtlich aber nicht mehr als Entkoppelung der Herrschaft von jeder Zweckbindung, als Umschlag repressiver Formen gesellschaftlicher Organisation in Desorganisation, Regression und Barbarei begriffen, sondern einseitig als Zustand von „Unsicherheit“. Im Präsentationstext des Seminars „Entsichert – Widerstände gegen den alltäglichen Ausnahmezustand“ geht es nicht um die sehr reale Gefahr, dass immer mehr Normalbürgern die zivilisatorischen Sicherungen durchbrennen, vielmehr wird im Geiste Norbert Blüms festgestellt: „Immer mehr Bereiche unseres Lebens werden entsichert; prekäre Arbeitsverhältnisse, Grundrechtsabbau oder Entdemokratisierung – zunehmend sehen wir uns mit dem Verlust […] gewohnter Garantien in unserer Gesellschaft konfrontiert.“ „Ausnahmezustand“, so diagnostiziert man mit wohligem Schaudern, sei „ein Wort, bei dem wir an Gegenden wie Afghanistan oder Irak“ dächten: „Wenn jedoch die Tornados nicht nur in Afghanistan, sondern auch über Mecklenburger Zeltlagern fliegen, wenn mithilfe des Sonderparagraphen 129a die gesamte linke Szene zum terroristischen Umfeld erklärt [wird], dann ist auch bei uns im Alltag der Ausnahmezustand ganz nah. […] Anhand von […] Beispielen wie etwa dem ‚War on Terror‘ in den USA, Sondergesetzen für Ausländer in Deutschland sowie Exkursen in die deutsche Geschichte wollen wir das Thema vertiefen“. Der Ausnahmezustand wird hier nicht als etwas gedacht, das „unserem Alltag“ als ständige Möglichkeit innewohnt und damit den Begriff des Alltags selbst diskreditiert, sondern lediglich als dessen Bedrohung, vor der es sich durch Einforderung der „gewohnten Garantien“ zu schützen gilt, die, auf ihren eigenen Zwangscharakter hin nicht befragt werden. Dieser gemeinsame Kampf für Alltag und Gewohnheit und gegen „das Lager“ in uns allen wird dann mit dem Begriff der Solidarität belegt. Von der politischen Ökonomie bleibt dabei konsequent folgendes übrig („Einführung in die solidarische Ökonomie“): „Jeder Euro, der in die Fonds der globalisierten Finanzmärkte gelangt, steht dort als Heuschreckenkapital zur Verfügung, das gegen uns eingesetzt werden kann. Die vielen Poren, durch die diese Diffusion des Geldes aus der Realwirtschaft erfolgen kann, müssen ermittelt und verschlossen werden. Erwerbstätige wie Verbraucher müssen unbedingt verhindern, dass der Wert ihrer Arbeit ihrem Verfügungsbereich entzogen wird.“ Von vornherein versteht man sich affirmativ als „Erwerbstätiger“ und als „Verbraucher“, der diese Rolle nicht etwa überschreiten, sondern den „Wert“ seiner „Arbeit“ vor den Diffusionen des Finanzkapitals schützen und die Verfügungsmacht über die Produkte des eigenen Schaffens behalten soll. Dass solche „Solidarität“ unter Berufung auf Marx begründet wird, läßt vollends daran zweifeln, ob es einen qualitativen Unterschied zwischen der politisch erwünschten „reformierten“ Universität der Zukunft und der studentisch erwünschten „offenen Uni“ gibt.
Das zentrale Phantasma regressiver universitätspolitischer Kritik ist in der zitierten Heuschreckenmetaphorik präzise zusammengefasst: Es geht darum, eine als „diffus“ qualifizierte Außenwelt abzuwehren, indem man alle „Poren“, durch die sie Eingang ins reflektierende Bewusstsein finden könnte, „ermittelt“ und „verschließt“, also in eigener, vermeintlich „autonomer“ Sache betreibt, was man im gleichen Atemzug wahlweise Wolfgang Schäuble oder dem CIA unterstellt. Einerseits wittert man überall (und durchaus ja nicht zu Unrecht) den Überwachungsstaat, andererseits tut man selbst sein Bestes, den für sich genommen heteronomen, erst qua „Selbstermächtigung“ zum freien Ort zu machenden universitären Raum vor „unerwünschten“ Übergriffen aller Art zu schützen. Die ideale Uni wird in einem beigefügten Flugblatt beschrieben als „Raum für freie Gedanken“, wo man „ohne Hemmung“ sagen dürfe, was man denkt, sich „nicht profilieren“ müsse, der aber auch „überschaubar“ sei und an dem man sich „wohl“ fühlen könne. Dass freies Denken, sofern sich überhaupt so allgemein davon sprechen läßt, weniger mit Hemmungslosigkeit oder Wellness als mit Differenziertheit, also eben auch mit „Profilierung“ zu tun haben könnte, will man lieber gar nicht so genau wissen. Wann, wie und weshalb der Zwang zur intellektuellen „Profilierung“ und die „Unübersichtlichkeit“ der Institution die Autonomie der Subjekte zu liquidieren drohen, wäre erst genau zu bestimmen. Wer dagegen hemmungsloses Reden über alles Mögliche abstrakt als Bedingung der Möglichkeit geistiger Freiheit behauptet, zementiert objektiv einen Zustand, in dem die Erosion des intellektuellen Kanons und des universitären Curriculums als deren „transdiziplinäre Überschreitung“ abgefeiert und im Grunde überhaupt nicht gewünscht wird, dass tatsächlich jeder Student ein individuelles geistiges „Profil“ erlangen, mithin zu einem gebildeten Menschen werden kann. Eine solche Profilierung, für die universitärer Protest die Voraussetzungen zu schaffen hätte, wird offenbar von der Mehrheit der Studenten ebensowenig gewollt wie von der universitären Institution, die geistige Menschen auch früher lediglich als, freilich zum Selbsterhalt notwendige, Ausnahme geduldet hat und ansonsten vom leicht gehobenen Mittelmaß zu leben pflegt. Wer die Möglichkeit zur Profilierung in diesem Sinne einforderte, würde von Universitätsleitung und AStA gleichermaßen als universitätspolitisch konservativ und spalterisch abgelehnt. Statt dessen findet man sich nicht aus strategischen Gründen, sondern weil die Sicherheit das eigentliche Herzensanliegen ist, unter Slogans wie „Raum für freie Gedanken“ zusammen, die sich schon rein sprachlich kaum von der Propaganda des jeweiligen Präsidiums unterscheiden. Auch die meisten Themen der „alternativen“ Seminare sind nicht alternativ, sondern konform: Queere Politik, Ausnahmezustand, Lager, Rhizom, Gender und Postkolonialismus sind längst bekannte Stichworte eines im schlimmsten Sinne universitätsfeindlichen Denkens, das vom inneren Zusammenhang zwischen universitärer Ordnung und Denkform, von den materiellen und institutionellen Voraussetzungen der Einheit von Forschung und Lehre usw. nichts wissen möchte und die Universität letztlich nur als Arbeitsagentur für die verschiedenen „Projekte“ und „Baustellen“ in Dienst nehmen will, mit denen man seine jeweilige Klientel in Lohn und Brot zu bringen gedenkt und zu deren Zweck man die universitäre Institution in nebeneinander herarbeitende, nur noch durch paternalistischen Zwang, aber nicht durch die Logik des Gegenstands zusammengehaltene „Cluster“ parzelliert. Insofern zielt studentischer Protest in vielen seiner Erscheinungsformen „von unten“ letztlich auf dasselbe, was die Universität mit unerwünschten sozialen Nebenwirkungen „von oben“ betreibt: auf den Rückbau der Universität in ein Bündel chaotischer, aber durch „Freundschaft“ und „Teamgeist“ zusammengeschweißter Cliquen, denen es nicht um Erkenntnis, sondern ums Überleben geht und die aus dieser Lebensnotwendigkeit heraus eine Form von Basisdemokratie entwickeln sollen, die es auch den Studenten, etwa durch Evaluation, erlaubt, potentielle Dissidenten frühzeitig zu identifizieren und abzuwatschen.
Die Lehrevaluation, wie sie als Element verstärkter „Leistungskontrolle“ immer wichtiger werden wird, soll für den Studenten sein, was die Volksbefragung für den Kleinbürger ist – eine Möglichkeit, die reale eigene Ohnmacht vor dem großen Ganzen zu kompensieren, indem man von seinem partikularen Recht Gebrauch macht, unter den Repräsentanten des Systems, als dessen Opfer man sich fühlt, die leutseligen Kumpane von den spröden Autoritären zu scheiden und diejenigen, die einem zu viel geistige Autonomie zumuten, im Namen der statistischen studentischen Durchschnittsintelligenz zumindest per Fragebogen abzustrafen. Evaluationen nehmen die Studierenden unter dem Alibi studentischer Mitbestimmung als Agenten ebenjener Ordnung in Dienst, die mittels studentischer Evaluationen angeblich „liberalisiert“ werden soll. Tatsächlich schneiden bei solchen Lehrevaluationen in der Mehrzahl diejenigen am besten ab, die zugleich am besten dem universitätspolitisch und medial präformierten Bild des eloquenten und entertainmentbewussten Elitejuniors entsprechen, während akademische Außenseiter und „Alte“, etwa traditionell konservative Philologen, statistisch noch einmal marginalisiert werden. Im Einzelfall mögen die Ergebnisse optimistischer stimmen; der Tendenz nach aber „korrigiert“ die studentische Evaluation das institutionelle akademische Wunschprofil nicht, sondern bestätigt es und liefert ihm die „basisdemokratische“ Legitimation. Dass Studenten solcherart bewusstlos und gegen ihr erklärtes bildungspolitisches Interesse sanktionieren, was abzuschaffen wäre, hat nicht zuletzt mit dem skizzierten Zerrbild von „Autorität“ zu tun: Die universitäre Autorität, gegen die man sich im Namen geistiger Freiheit glaubt wehren zu müssen, wird nach einem Modell feudaler bzw. klerikaler Herrschaft gedacht, die als archaisch abzuweisen sei. Konsequent karikiert die erwähnte Broschüre die Präsidenten der FU und HU Berlin als „Dita v. Lenzen, Alleinherrscherin der Freien Universität“ und „Abt Christof Marksius“, denen das „Ende der Demokratie“, die „Willkürherrschaft“ sowie der „Abbau kritischer Fächer“ als erklärte Intentionen zugeschrieben werden. Insofern sich im Racket gewisse feudale Elemente sozialer Ordnung wie etwa der persönliche, nicht über Institutionen vermittelte Zwang oder die Bedeutung von „Freundschaft“ und Klientelbewusstsein, auf veränderte Weise aktualisieren, trifft dieser Spott etwas Richtiges. Falsch wird er, weil er zuvorderst gar nicht die „Refeudalisierung“ der Universität kritisiert, sondern das Ressentiment gegen Privilegien bedient, die in der Figur der Adligen und des Abtes als anachronistischer Firlefanz verworfen werden, und damit einen Zustand verfehlt, der, wie Adorno es formuliert hat, kein Privileg mehr duldet und doch ganz in dessen Bann steht. Statt im Namen einer Verallgemeinerung des Privilegs gegen die Liquidation der wenigen verbliebenen Vorteile zu protestieren, die „nutzlosen“ Fächern wie den traditionellen Philologien bisher zwecks Garantie ihres Fortbestands gewährt wurden, imaginiert man die Agenten des Clustersystems als „Privilegierte“, als Verkörperungen jener feudalen Anmaßung, deren konkrete Artikulation umso weniger geduldet wird, je mehr sie im Modus des Rackets als universales Herrschaftsprinzip zu sich selbst kommt.
So wundert es nicht, dass die Vorschläge, die das AVV unter dem Motto „Bildung schadet nicht“, das einiges über die psychische Disposition der Adressaten aussagt, am Ende zur Vorbereitung „autonomer“ Seminare unterbreitet, sich wie die schlichtere Variante dessen lesen, was Bachelor-Studenten an Rhetorik-Schulungen längst ertragen müssen: „Werdet euch […] klar, welche unterschiedlichen Wissensstände es in eurer Gruppe gibt; das macht denen mit größerem Vorwissen bewusst, dass sie sprachlich Rücksicht nehmen müssen […] und gibt allen das Gefühl das [!] Nachfragen erlaubt sind. […] Es ist wichtig, dass ihr eure Ziele und eure Arbeitsweise häufiger diskutiert, v.a. dann wenn sich einzelne unwohl fühlen […] Ganz gleich, ob sich jemensch diskriminiert, über- oder unterfordert fühlt, […] wenn über all das auch offen gesprochen werden kann […] – dann schreibt uns bitte, bitte wie ihr das gemacht habt, damit wir euer Wissen weiterreichen können.“ Im gleichen Ton wird erläutert, wie „kreative und produktive Diskussionen“ in Arbeitsgruppen aussehen mögen, wie man „Situationen, in denen Redelisten nötig werden“, vermeiden könne (Hierarchie!), wie man „Ergebnisse sichern“ und „in einem Wiki anderen zugänglich“ machen könne usf.: „Plant immer genug Pausen ein!“, „Reflektiert regelmäßig über eure Ziele und eure Zufriedenheit“, „Heißt neue Leute immer erstmal willkommen“, „Achtet auf stille Leute […] und versucht diese mit einzubeziehen“. Wenn auch sonst nichts, so wird mit solchen Rezepten in jedem Fall erreicht, dass sich niemand außer den „stillen Leuten“ unwohl fühlt, dass „Rücksicht“ auf den niedrigsten Wissensstand genommen, dass dieser Wissensstand „gesichert“ und „weitergereicht“ wird und sich jeder Einzelne ohne Notwendigkeit als Objekt sozialtherapeutischer Behandlung erfährt, einfach weil man eine Familie, eine Clique, ein „Netzwerk“ – alles mögliche, nur keine Versammlung denkender Individuen ist. Hauptsache, keiner spricht auch nur einen Augenblick lang über die Köpfe anderer hinweg oder heftet seiner intellektuellen Physiognomie einen Adelstitel an. Hauptsache, jeder kommt mit, dann verwindet man ganz leicht die Enttäuschung darüber, dass es im Grunde um gar nichts geht. Nicht als Versammlung individuierter Philosophenkönige wird die ersehnte Gemeinschaft von Lehrenden und Lernenden denn auch in einem beigeordneten Cartoon gezeichnet – dabei würde sich „jemensch“ diskriminiert fühlen –, sondern als Bande, die den fetten Chef entthront, um sich an seiner statt, jeder Einzelne sein eigener „Rädelsführer“, auf dem Boden breit zu machen. Die gesichtslose Masse, als die die studentischen Rackets hier vorgestellt sind, unterscheidet sich vom zuvor gezeichneten Schreckbild der anonymen Masse, deren Mitglieder durch die Institution gepeitscht würden, lediglich darin, dass sie eher einer amorphen Menge als einem militärisch geordneten Komplex gleicht: dasselbe wie vorher, nur ohne Ordnung. Es bleibt zu hoffen, dass sich die studentische Vision einer „anderen Universität“ nicht in diesem Alptraum erschöpft.
Magnus Klaue (Bahamas 57 / 2009)
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