Der Frühsommer 2009 hat Deutschlands tolerantester und ökologischster Stadt doppeltes Ungemach beschert. Im Juni wurde im historischen Zentrum von Freiburg im Breisgau, wo sich jedes Wochenende Tausende junger Leute aus den Vororten und Umlandgemeinden zumeist mit Bierflaschen bewaffnet herumtreiben und lärmend feiern, eine Säule der Toleranz errichtet, die bis 23:00 in wechselnden leuchtenden Farben eine Art anything goes proklamiert und um Punkt 11 auf knallrot, sprich zero tolerance umschaltet. Es hat wenig genützt. Noch ärger wurde die Bedrohung draußen vor der Stadt, wo Lehrer- und Sozialpädagogenfamilien, ergänzt um Freischaffende und Alleinerziehende sich ihr ökologisches Nest eingerichtet haben, dem Vauban-Viertel. Hier war direkt an der zentralen Straßenbahnhaltestelle düsteres Treiben aus den sozial schwachen Vorstädten zu beobachten. Jugendliche, die dem direkten Zugriff der Eltern nicht ausgesetzt sein wollten, haben sich das scheinbar tolerante und vor allem vom eigenen Wohnquartier am weitesten entfernte Vauban als Ort verstärkten Alkohol-, Nikotin- und Haschisch-Konsums auserkoren und begannen nicht nur Kippen und zerborstene Flaschen zurückzulassen, sondern auch akustische und atmosphärische Störungen zu verursachen. Was im Stadtzentrum trotz des Einsatzes studentischer Hilfskräfte, die durch Überzeugungsarbeit das Grölen und Flaschenbiertrinken unterbinden sollten, misslang, erwies sich im Vauban als voller Erfolg. Wochenende für Wochenende gingen besorgte Väter mit pädagogischer Ausbildung hinaus und ekelten die ortsfremde Jugend ganz gewaltfrei unter Einsatz ihrer geballten Berufskompetenz weg. Wie viele der Wegkomplimentierten Türken waren, ist nicht bekannt. Überhaupt war in der Freiburger Lokaldiskussion über die Grenzen der Toleranz gegenüber Türken scheinbar gar nicht die Rede.
Das wird in der Hauptstadt allmählich anders. In der Debatte über die Unterschichten wird dort gebündelt, was man in Freiburg so noch nicht ausdrücken würde – obwohl man so weit nicht auseinander ist. Denn über Leistung und ihre Gestehungsbedingungen reden Freiburger und Berliner Standortexperten genauso wie von schädlichen Potentialen, die einzudämmen seien.
Die öffentliche Meinung in diesem Land bestimmt jedenfalls nicht Joseph Ackermann von der Deutschen Bank, und auch die vielgepriesenen Leistungsträger, als die gemeinhin Ingenieure, Produktentwickler oder EDV-Spezialisten vorgestellt werden, halten sich eher bedeckt, wenn es darum geht zu bestimmen, wer gebraucht wird und wer nicht. Das Hohelied auf die Elite, ihre unvergleichliche Leistungsbereitschaft und Innovationspotentiale stimmen andere an, die in den Worten eines ausgewiesenen Experten ganz richtig so beginnen: „Doch es ist ein Unterschied, ob man sich am Markt durchkämpft oder in einem geschützten Bereich angesiedelt ist, wo man komfortabel von staatlichen Mitteln lebt“, um dann messerscharf zu konstatieren: „Die Stadt [gemeint ist Berlin, J.W.] hat einen produktiven Kreislauf von Menschen, die Arbeit haben und gebraucht werden, ob es Verwaltungsbeamte sind oder Ministerialbeamte.“ Von den Beamten, die im Stadtkörper zirkulieren wie das Blut in den Adern, unterscheiden sich andere, die auch von staatlichen Mitteln leben, dann doch sehr unangenehm. Deren Überhandnehmen könnte zum Stadt-Infarkt führen: „Daneben hat sie einen Teil von Menschen, etwa zwanzig Prozent der Bevölkerung, die nicht ökonomisch gebraucht werden, zwanzig Prozent leben von Hartz IV und Transfereinkommen; bundesweit sind es nur acht bis zehn Prozent. Dieser Teil muss sich auswachsen.“ Auszuwachsen pflegt sich der nach einer Prellung schwärzlich verfärbte Zehennagel, der vom unter ihm nachwachsenden gesunden irgendeinmal abgestoßen wird, um dann als Abfall entsorgt zu werden. Der Hinweis im unklaren Imperativ bekräftigt nicht nur die ohnehin schon furchtbare Unterscheidung zwischen solchen, die man braucht, und den Überflüssigen, sondern verweist darüber hinaus auf eine in ihr längst logisch angelegte Handlungsperspektive über die dann andere räsonieren werden. Der Experte weiß eine besondere Gruppe aus der Mitte derer, die im produktiven Kreislauf versagt haben, auszumachen, die sich nicht nur nicht auswachsen will, sondern größer wird: „Eine große Zahl an Arabern und Türken in dieser Stadt, deren Anzahl durch falsche Politik zugenommen hat, hat keine produktive Funktion, außer für den Obst- und Gemüsehandel, und es wird sich vermutlich auch keine Perspektive entwickeln“. Wo schon die Beschäftigung mit dem Grünzeughandel als Eigenschaft einer Gemeinschaft von Unproduktiven erscheint, dürfen andere, nunmehr endgültig unschöne Gebräuche nicht fehlen: „Ich erinnere an ein Dossier der Zeit dazu. Es berichtet von den zwanzig Tonnen Hammelresten der türkischen Grillfeste, die die Stadtreinigung jeden Montagmorgen aus dem Tiergarten beseitigt – das ist keine Satire.“ Nein, eine Satire ist das alles nicht. Der hier über Leute spricht, die schon deshalb produktiv sein wollen, weil ihr Gebraucht-Werden und ihr Bleiben-Dürfen in Deutschland sich vielfach immer noch bedingen und nicht wenigen die mögliche Nicht-Verlängerung ihrer Aufenthaltserlaubnis wegen Abhängigkeit von Sozialleistungen Alpträume bereitet, weiß über sich selbst zu berichten: „Die Medien lieben es, wenn Krach ist. Das finden sie toll, und wenn es unterhaltsam ist, auch. Wenn man beides bietet und den Eindruck erweckt, dass man seine Sache versteht, bekommt man mit der Zeit auch für kontroverse Stellungnahmen eine relativ hohe mediale Zustimmung.“ Es ist ihm gelungen.
Dabei hat der unterhaltsame Krachmacher niemals produktiv sein müssen und war doch immer obenauf in Ministerien, bei der Bundesbahn, als Finanzsenator und inzwischen bei der Bundesbank: Thilo Sarrazin (1), deutscher Beamter seit 1975. Über die Hauptstadt eines veritablen Beamtenstaats weiß er nicht ohne wohliges Schaudern zu berichten: „Es war das Zentrum der DDR. In Berlin lebten Hunderttausende, die dem Regime zugetan waren und für es arbeiteten, wie man heute noch an den Wahlergebnissen bestimmter Stadtviertel ablesen kann. Eine politisierte Bürokratie, Militärs, Parteiangehörige, Verwaltungsleiter, leitende Kader.“ Die korrekte Distanzierung von den politischen Verhältnissen in Bezirken wie Berlin-Mitte oder Prenzlauer Berg, versucht lediglich zu verwischen, dass zum Beispiel in Kreuzberg heute noch die unmittelbare Staatsnähe von Angehörigen der Grünen, aber auch der SPD und seit der Fusion mit Friedrichshain der Linkspartei die Bürokratie politisiert und ein ganzes Heer von staatsabhängigen Angehörigen der sozialen Berufe, ergänzt um ausgehaltene Vereins- und Verbandsangehörige, Pädagogen und Verwalter des zweiten Arbeitsmarktes hervorgebracht hat, die einem Regime zugetan sind, das Sarrazin scheinbar ganz entgegengesetzt Zeter und Mordio schreit, wenn einer die ökonomische Bedingung für die Zugehörigkeitsberechtigung zur Gesellschaft auch nur ausplaudert. Der unfreiwillige Hinweis, dass mit der Messlatte der Produktivität auch an jenen Maß genommen werden könnte, die ein Gehalt beziehen, ohne auch nur je einen Blumenkohl verkauft zu haben, lässt Sarrazin als Spielverderber erscheinen, der als Stimmungskanone gegen die Türken etwas über einheimische Alimentierte verraten hat, die vom Hartz IV-Empfänger gar nicht so viel trennt.
In Sarrazins Berlin kommt die freie und produktive Wirtschaft nur ganz am Rande vor. Seine gelegentlichen Verbeugungen vor innovativer Produktion erfolgt reflexhaft, er weiß, dass es sie staatsunabhängig in Berlin kaum gibt. So beschreibt er teilweise auch die Realität, wenn er die Prioritäten so setzt: „Für die Entwicklung von Berlin als Stadt kommen Medien, Unternehmen, Wissenschaft usw. hinzu. Daneben spielt die Stadtverwaltung selbst eine begrenzte Rolle, am meisten in der Bildungs- und Wissenschaftspolitik. Der Rest sind Dienstleistungsfunktionen, Innenverwaltung, Finanzverwaltung, Justizverwaltung, Sozialämter – alles, was man braucht, um die Stadt zu verwalten.“ Der Dreiklang Medien, Unternehmen, Wissenschaft täuscht Staatsferne und Produktivität lediglich vor. Zwar ist unter Medien auch ein in Berlin expandierender Werbesektor zu verstehen, in der Regel aber sind Zeitungs-, Fernseh- und Rundfunkredaktionen mit ihren Hauptstadtbüros gemeint, deren ideologische und zunehmend auch tatsächliche Staatsabhängigkeit eher zu- als abnimmt. Unter Wissenschaft sind verbeamtete Wissenschaftler an den Universitäten genauso zu begreifen, wie private Institute und Betriebe, die zu einem großen Teil mit Staatsmitteln arbeiten oder nur auf der Grundlage staatlicher Privilegierung bestehen, wie der gesamte um den „Erhalt“ des Weltklimas sich mühende Sektor. So verrückt verhält es sich scheinbar auch mit der Integration der Türken, deren Weg vom Gemüsehandel in die deutsche Beamtenschaft führen müsse: „Die Integration hat Stufen. Die erste Vorstufe ist, dass man Deutsch lernt, die zweite, dass man vernünftig durch die Grundschule kommt, die dritte, dass man aufs Gymnasium geht, dort Examen macht und studiert. Wenn man durch ist, dann braucht man gleiche Chancen im öffentlichen Dienst. So ist die Reihenfolge.“
Aber so war es natürlich nicht gemeint. Sarrazin will, worum der deutsche Mittelstand vom pädagogischen Personal gecoacht, sich müht: Elite. Für Berlin würde das etwa heißen: „Ich würde aus Berlin eine Stadt der Elite machen. Das würde voraussetzen, dass unsere Massenuniversitäten nicht weiterhin massenhaft Betriebs- oder Volkswirte, Germanisten, Soziologen ausbilden, sondern konsequent Qualität anstreben. Die Zahl der Studenten sollte gesenkt werden, und nur noch die Besten sollten aufgenommen werden. Dazu müssen wir die Universitäten von Massenbewältigung auf Qualität umtrimmen, das kostet Geld und Kapazität, aber es würde talentierte und hochmotivierte Studenten in die Stadt bringen.“ Wer da nicht mithalten kann, der trolle sich fort. „Die Schulen müssen von unten nach oben anders gestaltet werden. Dazu gehört, den Nichtleistungsträgern zu vermitteln, dass sie ebenso gerne woanders nichts leisten sollten. Ich würde einen völlig anderen Ton anschlagen und sagen: Jeder, der bei uns etwas kann und anstrebt, ist willkommen; der Rest sollte woanders hingehen.“ Der Durchmarsch beginnt mit nicht ausreichend motivierten Studenten, denen man einmal nachgesagt hat, dass sie im längst verschwundenen alten Westberlin nur das bequeme Leben und Studiengänge ohne berufliche Perspektive gesucht hätten, setzt sich fort mit den Schulen und endet bei den Schulversagern. Der sechsjährige Ali, der im Unterricht nicht richtig mitkommt, erscheint so genauso als Nichtleistungsträger wie seine Eltern, die die Kindergartengebühren für ihn nicht ausgeben wollten, obwohl sie selber kaum Deutsch können. Weil der Rest, der woanders hingehen sollte, die deutschen Unterschichten nicht meinen kann, wird deutlich, dass die richtige Unterscheidung zwischen Leuten, die ökonomisch gebraucht oder nicht gebraucht werden, auf den Ausschluss von nach landsmannschaftlicher Herkunft sortierten Bevölkerungsgruppen zielt, die bei Sarrazin eben die Türken und Araber sind. Sarrazin gibt nur vor, unter Türken besonders verbreitete Defizite anzusprechen, die durch kulturell und religiös begründete Ressentiments genährt, einmal geeignet sein könnten, ein gedeihliches Zusammenleben mit der Mehrheitsgesellschaft zu verunmöglichen. Er weiß nämlich schon, dass die ungute Mischung aus sozialer Deklassierung, Moscheeverein und Agenturen des Türkentums, die immer bedenklicher zu einer Selbstethnisierung führt, gar nicht korrigierbar ist, mithin der sechsjährige Ali den Weg seiner verantwortungslosen Eltern notwendig gehen muss. „Ich habe gesagt: Unsere Bildungspopulation wird von Generation zu Generation dümmer“, verkündet er selbstbewusst. Man könnte das auf das miserable Niveau Berliner Schulen beziehen, den skandalösen Umstand etwa, dass ein Berliner Hauptschulabschluss häufig keine Gewähr für den halbwegs korrekten Gebrauch der deutschen Sprache ist. Man könnte in diesem Ergebnis auch die Geschichte der misslungenen Integration von Ausländern kritisieren, denen man, statt sie zu fördern, Zeugnisse für Leistungen, die sie nicht erbracht haben, hinterherwirft, was wiederum dazu führt, dass immer mehr von ihnen in der Berufsschule versagen und keinen Abschluss erhalten. Aber davon spricht ein Sarrazin nicht. Er ist längst die Stimme der Angehörigen des politisch zumeist links orientierten akademisch gebildeten Mittelstandes, die, wenn die Nachbarschaft es ihnen abfordert, darauf achten, dass ihre Kinder nicht in den entsetzlichen Pseudoschulen ihre Zeit vertrödeln, die fast ausschließlich von Ausländerkindern besucht werden, aber bislang noch lautstark einen Sarrazin für einen Unmenschen erklären, von dem sie angeblich Lichtjahre trennten.
Wenn Sarrazin von Populationen und Generationen redet, ist er längst bei der Intelligenz angekommen, die auch eurythmieerprobte Eltern und ihre Kinder für sich reklamieren. Ein Prozess der Verdummung Berlins setzte Sarrazin zufolge 1933 ein und hält bis heute an: „Westberlin war von dynamischer Wirtschaft weitgehend entleert, es gab Ausnahmen wie Schering und den Siemens-Turbinenbau, doch die Schicht der Spitzenmanager war verschwunden, die Topentwickler der Unternehmen waren weg, es gab vor allem verlängerte Werkbänke, die von üppigen Subventionen lebten.
Das hatte Folgen für die Bevölkerungsstruktur. Auch der immense jüdische Aderlasss konnte nie kompensiert werden. Dreißig Prozent aller Ärzte und Anwälte, achtzig Prozent aller Theaterdirektoren in Berlin waren 1933 jüdischer Herkunft. Auch Einzelhandel und Banken waren großenteils in jüdischem Besitz. Das alles gab es nicht mehr, und das war gleichbedeutend mit einem gewaltigen geistigen Aderlass. Die leistungsorientierten Berliner gingen weg. Das war ein kontinuierlicher Prozeß; wer als Westberliner Schüler ein Ingenieursstudium machte und dann als Elektroingenieur arbeiten wollte, hat das zu achtzig Prozent woanders tun müssen. Es kamen die Achtundsechziger und alle, die Berlin eher als Lebensplattform suchten. Menschen, die gerne beruflich aktiv waren, wurden ersetzt durch solche, die gerne lebten.“ Wüsste man nicht, dass er im gleichen Interview zu den leistungsbereiten Berlinern, die sich 1944 absetzten, ausgerechnet den Bankier Hermann Joseph Abs zählt, dessen Bankimperium an jüdischer Zwangsarbeit und zuvor der Arisierung jüdischen Vermögens prächtig verdient hatte, mithin am Holocaust beteiligt war, seine Geschichte wäre bezüglich der Rolle der Juden immer noch falsch.
Beginnend mit Arnold Zweigs „Bilanz der deutschen Judenheit“ (1933) hat sich eine Sicht auf die zunächst entrechteten und verdrängten und später ermordeten Juden erhalten, die allein deren angeblich beispiellose Produktivität hervorhebt und geflissentlich unterschlägt, dass im Berlin der dreißiger Jahre gerade unter den Einzelhändlern viele Tausend waren, die man ökonomisch genauso wenig brauchte wie einen defizitär arbeitenden türkischen Gemüsehändler heute. Der Blick auf das Judentum nach der deutschen Tat sieht vor lauter Einsteins, Ullsteins, Reinhardts, Tietzes die seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert und verstärkt seit 1919 zahlreich in die Stadt gekommenen Ostjuden nicht, die in kümmerlichen Trödelläden, Wäschereien, Nähstuben etc. ein armes, aber kinderreiches Leben führten. Dieses schamhafte Verschweigen der nicht produktiven Juden, die es für manche schon deshalb nicht geben durfte, weil man sonst den Schlächtern keine Argumente mehr entgegensetzen zu können glaubte, schlug sich lange Zeit in der Nichtbenennung der von den Nazis propagandistisch groß aufgemachten Massenausweisung angeblich illegal aufhältiger, zumeist bitterarmer Juden nach Polen im Jahr 1938 nieder – dem Fanal zu den ganz großen Gräueln, die damals als die Ausweisung Unproduktiver zum allgemeinen Wohlgefallen zelebriert wurde. Heute gibt man sich geläutert und ist sogar bereit, sich ausgerechnet von Ostjuden, von denen man doch weiß, dass und warum es sie nicht mehr gibt, „überfremden“ zu lassen. Das, was man vom jüdischen Wesen bis heute zu wissen glaubt, spaltet sich scheinbar in jüdische und nichtjüdische Eigenschaften auf. Als vorbildlich integriert und so überdurchschnittlich produktiv, dass er eine ganze Wirtschaft auf Erfolgskurs halten könne, erscheint der ganzheitliche Jude, den man sich, da man ihm sein Geheimnis nicht entwinden kann, gewogen halten möchte – das ist eine deutsche Lehre aus der Judenvernichtung und zugleich der fortbestehende Vorbehalt. Als gar nicht jüdisch, wenn auch fremd, werden dagegen Elend, mangelnde Bildung und seltsame Gebräuche erkannt, die heute Verderben über die Deutschen bringen könnten. Der intelligente Ostjude erfüllt seinen Zweck in einer Bevölkerungsschlacht, in der es um Produktivität und Intelligenz gegen den zahlreichen Nachwuchs von Dummköpfen geht. Wenn sich einmal erweist, dass die größtmögliche Akkumulation von Intelligenz unter brutalst möglichem Ausschluss von Nichtproduktiven die Intelligenten vom Absturz ins nicht mehr Gebrauchtwerden nicht schützt, wird die scheinbare Abschweifung Sarrazins über die als jüdisch apostrophierte Intelligenz ein Nachspiel haben, in dem der schlaue Ostjude eine nicht ganz unbekannte Rolle spielen wird. „Die Türken erobern Deutschland genauso, wie die Kosovaren das Kosovo erobert haben: Durch eine höhere Geburtenrate. Das würde mir gefallen, wenn es osteuropäische Juden wären mit einem um 15 Prozent höheren IQ als dem der deutschen Bevölkerung. Ich habe dazu keine Lust bei Bevölkerungsgruppen, die ihre Bringschuld zur Integration nicht akzeptieren, und auch weil es extrem viel Geld kostet und wir in den nächsten Jahrzehnten genügend andere große Herausforderungen zu bewältigen haben.“
Bevölkerungspolitisch ist die höhere Geburtenrate der Türken in einer alternden Gesellschaft doch auch ein Gewinn, sollte man denken. Zwar kommt der sechsjährige Ali in der Schule teilweise deshalb nicht recht mit, weil seine Eltern sich um seine Sprachkompetenz nicht gekümmert haben, was man vielleicht wettmachen könnte – obwohl das viel Geld kostet, das man nicht hat. Aber Ali hat darüber hinaus ein angeborenes Problem: „Man muss davon ausgehen, dass menschliche Begabung zu einem Teil sozial bedingt ist, zu einem anderen Teil jedoch erblich. Der Weg, den wir gehen, führt dazu, dass der Anteil der intelligenten Leistungsträger aus demographischen Gründen kontinuierlich fällt. So kann man keine nachhaltige Gesellschaft bauen, das geht für ein, zwei, drei Generationen gut, dann nicht mehr. Das klingt sehr stammtischnah, aber man kann das empirisch sehr sorgfältig nachzeichnen.“
Empirisch kann man nachzeichnen, dass die Kosovo-Frage unter anderem demographisch entschieden wurde und zwar gewollt. Ob, wie und bei wem Intelligenz erblich ist, kann man nicht nachweisen, auch wenn es seit Jahrhunderten immer wieder versucht wird. Aus Westberlin sind zum Teil aus den Gründen, die Sarrazin benennt, Leute, die noch etwas vorhaben, zu einem erheblichen Teil abgewandert. Darunter waren zahlreiche Handwerker und Facharbeiter und seit den 70er Jahren auch Türken, die gezielt für den Subventionsmoloch Westberlin angeworben wurden, aber dann doch lieber in den richtigen Westen gingen. So gesehen könnte man sagen, dass diejenigen, die geblieben sind, obwohl sie nichts in Aussicht hatten außer schlecht bezahlten Stellungen und schon bald den Sozialhilfebezug, in mancher Hinsicht dümmer waren als die Abgewanderten. Das gilt jedenfalls dann, wenn unterschieden wird zwischen denen, die gebraucht werden, und jenen, die vor allem nach 1990, als die Westberlin-Subventionen gestrichen wurden, ökonomisch endgültig überflüssig geworden sind. Der Ostjude, den Sarrazin die Deutschen überfremden sehen will, ist doch nur Chiffre für den wimmelnden Chinesen, der uns ausbooten wird, wenn es uns nicht gelingt, türkischer Überfremdung der eigenen Mentalität Einhalt zu gebieten. „Wenn 1,3 Milliarden Chinesen genauso intelligent sind wie die Deutschen, aber fleißiger und in absehbarer Zeit besser ausgebildet, während wir Deutschen immer mehr eine türkische Mentalität annehmen, bekommen wir ein größeres Problem.“
Thilo Sarrazin hat das Geheimnis über den deutschen Mittelstand ausgeplaudert und sich scheinbar nur Feinde eingehandelt. Der unselige Stephan Kramer vom Zentralrat der Juden, der an den Türken liebt, was man an ihren selbsternannten Fürsprechern hassen müsste, hat ihn einen Mann im Gefolge Hitlers und Goebbels’ gescholten, andere haben über juristische Schritte wegen Volksverhetzung öffentlich nachgedacht und fast alle haben an seinen Einlassungen verteufelt, was – aus dem Kontext genommen – diskutierenswert ist, wie der Verweis auf Familienplanung entlang sozialhilferechtlicher Ansprüche, die Sentenz „Ich muss niemanden anerkennen, der vom Staat lebt, diesen Staat ablehnt, für die Ausbildung seiner Kinder nicht vernünftig sorgt und ständig neue kleine Kopftuchmädchen produziert“ (2) oder eben seine ihren objektiven Gehalt zynisch affirmierenden Aussagen zur Produktivität.
Diejenigen, die ihm beipflichteten, hatten im besten Fall nicht seine Aussagen, sondern das Gezeter der Gutmenschengemeinde und Türkenpatrons im Ohr, wie Ralph Giordano und Necla Kelek. Der eine hat laut Focus vom 6.10.09 verkündet: „Sarrazin hat mit dem, was er gesagt hat, vollkommen recht. Ich wiederhole es, er hat mit dem, was er gesagt hat, vollkommen recht. […] Wie es aussieht in den Parallelgesellschaften, das hat er genau getroffen.“ Die andere erklärte in Sächsische Zeitung online vom 22.10.09: „Thilo Sarrazin redet Tacheles. Er analysiert die Lage Berlins, benennt Filz, Korruption und Schlamperei, lobt und tadelt Migranten, fragt nach Ursachen und bietet eine Gesamtschau der Berliner Misere, die ich so noch von niemandem gelesen habe. Ich würde mir diesen klaren Blick auch von manchen verantwortlichen Politikern wünschen.“ Gelesen haben sie das Interview beide nicht. Giordano wollte einem zu Unrecht verfemten an die Seite springen und Kelek sprach in ihrem Beitrag von den türkischen Verbänden und ihren Anmaßungen und nicht wie Sarrazin über die von ihm rassifizierten Türken mit ihrem unveräußerlich niedrigen IQ. Beide haben nicht verstanden, dass sie einem beigesprungen sind, der es sehr zu recht zu einem „Support Thilo Sarrazin“ auf dem notorischen Ausländerhasser-Forum Political Incorrect gebracht hat, womit sie ihren eigentlichen Gegnern in die Hände gearbeitet haben, die unter zorniger Verteufelung Sarrazins dessen Geschäfte weit erfolgreicher betreiben als bisher.
Der Einsatz Freiburger Pädagogen gegen den Einbruch einer Parallelgesellschaft an der Endhaltestelle Vauban-Viertel ist aggressiver Ausdruck einer Gemeinschaft, die nach innen mit sich im Reinen zu sein vorgibt. Was sie mit sich und ihren Kindern veranstalten, sehen sie von außen bedroht, und unterschlagen so geflissentlich, dass sie in der feiernden und lärmenden Unterschichtenjugend Eigenschaften erkennen, die es mitten im Vauban leider auch gibt – auch wenn die Zeichen der Asozialität dort mehr daran zu erkennen sind, dass einige wenige die Nachbarn partout nicht in ihre Wohnküche schauen lassen wollen.
In der Krise versucht man mehr denn je dem Nachwuchs zu geben, was über die wirkliche Qualifizierung hinaus ein Fortkommen garantieren soll. Man ermuntert ihn zu sozialem Engagement, am besten im Ausland, wo jährlich Zigtausende junge Deutsche bis zu einem Jahr lang im Angesicht von Elend und Tod bestehen wollen und sich dafür ein schönes Zeugnis ausstellen lassen. Man fördert musische Kenntnisse und damit natürlich nicht die Kunst, sondern ein Sozialverhalten, das die kleinen Mädchen genauso gut auch im Pferdehof einstudieren, während die Jungs das Diskutieren in Debattierclubs üben, und alle zusammen bekommen vorgelesen, kaum dass sie ein paar Worte lallen können. Das Musische, das Bestehen auf dem gesellschaftlichen Parkett, diese Zugaben zum Gewinnstreben, hat schon das traditionelle Bürgertum als gesellschaftliche Zier geschätzt und den Sprösslingen gegeben, wozu es der Gründergeneration an Zeit und Bildungsvoraussetzungen gefehlt hat. Auch war in früheren Zeiten das Motto „gleich und gleich gesellt sich gern“ schon ausgeprägt, wobei ein Schulfreund, der eine Gesellschaftsstufe höher stand, dann doch noch ein wenig willkommener war. Seit der kurze Wiedervereinigungsboom, an dessen Nachhaltigkeit niemand länger als ein paar besoffene Wochen nach dem 9.11.89 geglaubt hat, vorbei ist, hat sich endgültig Ernüchterung breit gemacht. Es gibt nichts mehr zu verschenken, die Investitionen in den Nachwuchs wollen genau kalkuliert sein, um ohne Reibungsverluste zum Ziel zu führen. Das ist einer der Gründe, warum der Freiherr zu Guttenberg Deutschlands beliebtester Politiker wurde. Er ist ein adretter, aber irgendwie domestiziert wirkender Mann, kommt aus besonders gutem Hause, versteht es auch bei laufenden Kameras Kindern Geschichten vorzulesen, hat stets Karriere gemacht (in den Familienbetrieben) und wird auch eine mögliche Ministerschlappe wegpacken. Deshalb ist im jüngsten Bundestagswahlkampf besonders im Süden des Landes eine mit ihm und sich sehr einverstandene Guttenberg-Jugend in Erscheinung getreten, die es sich durch Haltung, Frisur und Kleidung angelegen sein ließ, zu den Arrivierten zu gehören, für die Guttenberg der Vorturner sein soll. Das von den Eltern erworbene Kapital an Bildung und Habitus wird ergänzt um die Aura des Dazugehörens zur Schicht der Leistungsträger. Das wird sich vielfach nicht auf dem Gehaltszettel oder der von Kosten und Steuern bereinigten Honorare rechnen, aber es wird Schule machen.
So sehr man sich um Konkurrenzfähigkeit sorgt, so sehr weiß man auch, dass es für alle nicht reichen wird und hofft ohne Glauben, dass Konkurrenz als das Spiel mit dem lächelnden Verlierer dadurch erträglich wird, dass man wenigstens mit einem Plätzchen nur wenig unterhalb des Siegertreppchens entschädigt wird. Die Guttenberg- und Pisa-Gemeinde ist eine über die Parteipräferenzen hinaus tätige Mittelstandsunion, die alles dafür unternimmt, dass zu Ende geht, was zum Modell rheinischer Kapitalismus, bei allen korporatistischen Zügen der formierten Gesellschaft (Ludwig Erhard), eben auch gehört hat: die zunehmende soziale Durchlässigkeit für Aufsteiger. In den härteren Zeiten, die gerade erst angebrochen sind, gesellt sich zur Leistung, die teilweise sogar messbar ist, die soziale Intelligenz, die als Zugehörigkeit zu einer vorab als Elite erklärten Gruppe bestimmt wird. Intelligenz scheint heute eine Mischung aus der Befähigung, auch schwierigen Unterrichtsstoff aufzunehmen und einem Verhalten zu sein, das man als kreativen Konformismus bezeichnen könnte. Guttenbergs Fans prüfen, inwieweit Klavierspielen den Zugang zur höheren Mathematik erleichtert, oder Engagement in der Schüler-Klima-Gruppe Qualitäten zur Menschenführung befördern hilft. Sie bewundern an sich und den Kindern die Entwicklung eines ganzheitlichen Charakters, der ihnen schon deshalb immer auch ererbt zu sein scheint, weil die Generationen längst das gleiche tun, um sich für den Markt der Konformität zu ertüchtigen. So sind zum Beispiel im Berliner Pergamon-Museum nicht nur Schulklassen anzutreffen, die in Kleingruppen aufgeteilt mit einem Laufzettel in der Hand in Bestzeit verschiedene Ausstellungsstücke suchen, sondern auch die ebenfalls in Kleingruppen agierenden Teilnehmer einer mehrtägigen Tagung des mittleren Managements eines europaweit tätigen Unternehmens der Verpackungsindustrie, die im Museum ganz spielerisch im Angesicht der Kunst miteinander konkurrieren. Dieser Menschenschlag, der so teamfähig ist, dass man schon gar nicht mehr zu bemerken scheint, wer wen ausbootet, der stolz darauf ist, niemals konfrontativ zu sein und seinen Weg nach oben durch den Gruppenprozess des Ausschlusses von nicht teamfähigen Dickköpfen macht, ist so erfüllt vom Erfolg der eigenen Zurichtung in der Gruppe, dass ihm das Ergebnis auf den Nachwuchs zu übertragen bereits als jene höhere Form der Intelligenz vorkommt, die man im Blut hat wie der Baron zu Guttenberg seinen Adel.
Der Menschenschlag, von dem man ererbte Intelligenz antrainiert bekommt und der zugleich dafür sorgt, dass keine Zweifel an diesem Konzept Leistung aufkommen, ist bezeichnenderweise recht weit entfernt von jenem Sektor, in dem Leistung an der Produktivität gemessen wird und damit noch dem herkömmlichen Sinn entspricht. Die Welt der Intelligenten vertraut sich dem Berufsstand der Pädagogen an, der sich keineswegs allein aus den in letzter Zeit so maßlos aufgewerteten Lehrern rekrutiert. Ein ganzes Kartell von Mediatoren, Coaches, Supervisoren, ergänzt um entsprechende Wissenschaftler, Journalisten, Psychologen betreut den Sektor Leistung und weiß ihn als ein Betätigungsfeld von Intelligenten zu definieren, denen alles abgeht, außer dem sicheren Instinkt für das Sich-Einrichten unter ihresgleichen. Es sind bezeichnenderweise Leistungsträger dieser „ökonomisch gesprochen“ ganz besonders unproduktiven Art, die das korporative Modell der Intelligenz als ererbtes Gut einer sich feindlichen Notgemeinschaft gegen solche in Anschlag bringen, die als Gegengemeinschaft schnell ausgemacht ist.
Diese bleiben als roher Menschenschlag zurück, ausgeschlossen oder doch zurückgesetzt beim Erlernen der soft skills, und sie sind doch nicht das, was man über sie zu wissen glaubt: Die Türken. Sie haben mehr denn je zu sein, was der in kulturellen Fragen hochkompetente Alltagsverstand ihnen andichtet: Eindringlinge, die für sich in Anspruch nehmen, was vielfach nur noch das Gesetz ihnen selbstverständlich zugesteht, nämlich bei besserer Eignung jede beliebige Position in Wirtschaft oder Gesellschaft einzunehmen. Die Pisa-Gesellschaft hat sich auf den Weg der vollständigen Abstumpfung begeben und verteidigt gemeinsam zäh, was längst nicht mehr für alle reicht. Die stillgestellte Welt des deutschen Kooperativ-Kapitalismus, in der über Kultur nur noch in scheußlichem Utilitarismus die Bekömmlichkeit von Mozarts Musik für das pränatale Kind oder die Milchmenge, die eine entsprechend beschallte Kuh zusätzlich produzieren könnte, verhandelt wird, wendet sich den Kulturen als dem Fremden außer uns zu, das wir mit der Seele suchen, aber uns nur so weit zueigen machen, wie es als asiatischer Kampf- oder Meditationssport zur körperlichen Fitness beiträgt. Im Übrigen fällt auf den Türken vorwurfsvoll das zurück, was ihm selber am fremdesten ist: seine Kultur. Mit Tayyiip Erdogan, dem Obertürken mit Allah als höchstem Ausdruck unverwechselbaren Türkentums im Marschgepäck ist man sich in Deutschland darin einig, dass Assimilation ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit ist und Integration nur dann gewollt sein kann, wenn die Türken über unveräußerliche Kollektiveigenschaften verfügen, die, gäbe es sie denn, durchaus richtig mit Sarrazin als Dummheit zu benennen wären.
Die Türken, die als Träger einer anderen, aber unverwechselbaren Kultur im Team Deutschland nicht mitspielen sollen, sind – so bedrohlich der von Sarrazin aufgenommene Diskurs über ihre Mentalität sich auch auswirken könnte, – dennoch nur Projektionsfläche für die im Inneren der Gemeinschaft tobende Schlacht. Eine Ökonomie, die in einem wirklichen Beamtenstaat keine Zukunft hätte und vor allem die Arbeitsplatzsicherheit nicht mehr gewähren kann, versucht an einem anderen Ort einzulösen, was eine marktfeindliche Gesellschaft dem schrankenlosen Kapitalismus entgegensetzt. Der Staat als Organisator des Marktgeschehens, das er zwar letztlich nicht bestimmen, ihm aber seine Grenzen und Entwicklungsbedingungen diktieren kann, trägt eifrig dazu bei, dass jede Unterscheidung zwischen Marktsubjekt und dem ihm hilflos entgegengesetzten Freien und Einzelnen auch als bloße Möglichkeit kassiert wird. In dem Maße, wie eine Bildungspolitik nur noch die schrankenlose Konformität anerkennt und im nicht Teamfähigen den Feind ausschließt, trägt sie dazu bei, dass die Ausschlusskriterien entlang kollektiver Charakterzüge – etwas anderes meint soft skill in Wirklichkeit nicht – bestimmt werden und der persönliche Misserfolg auf dem Markt zugleich als einer im Team Deutschland gilt, der den ganzen Menschen verschwinden lässt. So wenig wie der Durchgefallene sein Scheitern dadurch zu verarbeiten in der Lage ist, dass er zwischen Misserfolg und persönlicher Selbstauflösung noch zu unterscheiden wüsste, so wenig weiß die als Staatsbeamtenschaft sich dünkende bürgerliche Mitte das Unheil, das ihre Mitglieder zunächst mit sich selbst und ihren Kindern veranstalten, noch aufzuhalten. Wo jeder kritische Einwurf entweder zur geschätzten Diskurseigenschaft des Teamfähigen transformiert oder als Spielverderberei, die auf mangelnde soziale Intelligenz zurückzuführen sei, ausgesondert wird, entsteht ein Einheitscharakter, dessen einzige Bezugsgröße nicht etwa die feindliche Gemeinschaft ist, in der er entsteht, sondern der abstrakte Staat, dem er sich auch dann ausliefern muss, wenn es nichts mehr zu verteilen gibt. Die Produktivität, das Gebrauchtwerden des Einzelnen, das der Markt nicht mehr gewährt, kann der Staat ökonomisch nicht ersetzen. Er ist aber vom Team Deutschland aufgerufen, das Surrogat für Produktivität, die Dazugehörigkeit durch Wohlverhalten, dadurch zu bestätigen, dass er dem Kollektiv gelegentliche Schlachtopfer anbietet, was ihm zum Glück durch eine Fülle internationaler Verträge verwehrt ist, die man nicht zerreißen kann, weil von denen der Vize-Exportweltmeister abhängt.
Während in Deutschland lebende Türken nichts „ererbt“ haben als gesellschaftliche Gepflogenheiten aus ihrer aufgegebenen Heimat, die ihnen zunehmend als Last und nicht als kultureller Gewinn erscheinen, entdecken die autochthonen Deutschen ihr Erbe in der Krise neu. Ihre hemmungslose Neidbeißerei, hebt sich weder in der freien Konkurrenz angelsächsischen Zuschnitts auf, noch in einer Solidarität, die sich als Bündnis unterschiedlicher privater Interessen auf einen vorübergehenden gemeinsamen ökonomischen Zweck einigt. Stattdessen gerinnt ihnen ihre kollektive Asozialität zu einer eifersüchtig verteidigten Gemeinschaftseigenschaft, die sie vorläufig als Intelligente gegen Türken zelebrieren, die sie zwar nicht hinauswerfen können, aber als Stellvertreter dessen, was sich mit ihnen selber ereignet, disqualifizieren.
Justus Wertmüller (Bahamas 59 / 2010)
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