Am Morgen des 18. September 2017 ermordete ein 18-jähriger Afghane in Wien seine 14-jährige Schwester, die auf dem Weg zur Schule war. 28 Mal stach Hikmatullah S. mit einem Rambo-Messer auf Bakhti ein. Danach stellte er sich der Polizei: „Nehmen Sie mich fest. Ich habe meine Schwester umgebracht. Und ja, es ist gut, dass sie tot ist. Denn sie hat die Ehre meiner Familie beschmutzt.“ Bakhti hatte sich eine Woche zuvor selbst an eine Kriseneinrichtung der Jugendhilfe gewandt und war dort untergebracht worden. Sie beklagte sich über die Repressionen durch die Familie und wollte ein eigenständiges Leben führen. Sie verblutete am Tatort, dem Hof eines Gemeindebaus in Favoriten. Ein Ehrenmord? Nein, so schnell sollte man nicht urteilen, meinte der Standard, und in den folgenden Tagen lieferte das linksliberale Spektrum zahllose Rechtfertigungen des auf seine Tat stolzen Täters nach. Wenige Tage später wurde die Berichterstattung der Kronenzeitung überlassen, weil sich Hikmatullah allzu eindeutig zu seinem Verbrechen bekannte. Schon zwei Wahlverteidiger hatten ihr Mandat innerhalb weniger Tage zurückgegeben und immer neue Ermittlungsergebnisse ließen keine Relativierung mehr zu: Es war ein politisches Verbrechen, es war ideologisch durch den islamischen Begriff der Familienehre motiviert, und wahrscheinlich war der Vater der Drahtzieher. Bakhti war schon zwei Mal vor ihrer Familie geflohen, sie hatte sogar schon eine Strafanzeige gestellt, die wegen eines Formfehlers nicht weiterverfolgt worden war.
Wie immer in solchen Fällen befasste man sich anschließend mit den männlichen Familienmitgliedern, die die Tat geplant und ausgeführt hatten. Aber was ist mit Mutti? Die gängige Vorstellung vom islamischen Patriarchat kennt Frauen nur als passiv Erduldende oder Opfer. Dass Mädchen und Frauen aus moslemischen Familien nur dann wahrgenommen werden, wenn sie sich ermächtigen, ein eigenes Leben zu führen, also in rudimentären Formen sich aneignen, was für andere selbstverständlich ist, lässt jene Frauen, die das nicht tun, als Objekte eines patriarchalen Herrschaftsanspruchs erscheinen, aus dem sie befreit werden müssen, wenn sie selbst es nicht vermögen. Über Bakhtis Mutter Maimona S. war indessen zu erfahren, dass sie bereits zwei Wochen nach der Tat sagte, die Familie habe die Tochter schon vergessen und wolle nicht mehr an sie erinnert werden. Bakhti hatte der Polizei mitgeteilt, dass sie oft von ihrem Vater und ihren Brüdern verprügelt worden sei – und die Mutter dabei lachend zugesehen habe. Bakhti hatte Angst: Zwei Töchter waren bereits nach Pakistan zwangsverheiratet worden. Maimona S. war also nicht nur passiv erduldendes Opfer, sondern Mittäterin, die ebenso um die Familienehre besorgt war wie der Vater und die Söhne. Es war wohl kein Zufall, dass der Jüngste die Tat ausgeführt hatte, er kann nach Jugendrecht verurteilt werden – sofern er erst 18 Jahre alt ist, was mittlerweile in Zweifel steht. Die Rolle der Mutter ist dabei offenbar die der Gewährenden und Leidenden: Hikmatullah sagte aus, die Mutter habe unter ihrer Tochter gelitten, sie habe oft geweint. Mit dem Mord an seiner Schwester hat er die Mutter gerächt. Sie musste ihn nicht zu der Tat ermuntern, sie brauchte lediglich nichts zu sagen. So wie sie auch zu den kriminellen Aktivitäten ihrer Söhne nichts sagte; unvorstellbar, dass sie darauf gedrängt hätte, die Söhne zur Schule zu schicken. Hikmatullah nutzte all jene Freiheiten, die er seiner Schwester nicht zugestand, und wusste seine Mutter immer an seiner Seite. Es ist nicht unwahrscheinlich, dass er von seinem Vater ebenfalls geschlagen wurde, wenn er etwas getan hatte, was diesem nicht passte, aber ein Nein des Vaters, verbunden mit dem Eintreten in die Generationenfolge, dem Namen des Vaters, kann es dort nicht geben, wo das Gesetz der Mutter herrscht.
Jacques Lacan hat mit dem Nom-du-père, was dem Klang nach sowohl Name wie Nein des Vaters bedeutet, das väterliche Gesetz beschrieben, das das Inzesttabu errichtet und damit das kindliche Begehren nach Mutter und Vater überhaupt erst zum Konflikt werden lässt. Lacan hat dieses Prinzip zur Voraussetzung jeder kindlichen Entwicklung erklärt, obwohl das Gesetz des Vaters, aus dem sich das Über-Ich herausbildet, selbst nicht voraussetzungslos ist. Es kann sich nur etablieren, wenn wiederum die Mutter dieses Gesetz etabliert. Die Mutter ist nach Freud der erste Andere, deren Sprache dem Kind unverständlich ist. Sie führt den Namen des Vaters und damit die Welt der Symbole ein. Das Gesetz der Mutter ist ein archaisches, es ist das Gesetz der Abhängigkeit und der verbotenen Lust. Erst wenn das Kind sich im ödipalen Dreieck als Ausgeschlossener fühlen kann, der das elterliche Paar beobachtet, entsteht das Bewusstsein von Getrenntheit, das notwendige Voraussetzung für Individuation ist. Dieses Bewusstsein konnten die Söhne von Maimona S. – im Gegensatz zu ihren Töchtern – nicht entwickeln, weil ihre Mutter die Trennung verhindern musste, schließlich sind ihre Söhne der Ersatz für ihre phallischen Wünsche, wie Natascha Wilting gezeigt hat: „Eigene ‚phallische‘ Wünsche, die Befriedigung des eigenen Triebes, hat die Frau aufgegeben und erfährt sie nur als männliche Domäne, etwas, dem man im Falle des eigenen Mannes sich eben beugen muss. Ihr Verlangen kann schwerlich gereizt und sie somit nicht erneut enttäuscht werden. Separiert von der öffentlichen Welt der Männer […] lebt sie fortan in einer Welt voll Frauen und Kindern, die frei ist von den Zumutungen der adulten, manifesten Sexualität […]. Verharrt sie weiter in Anspruchslosigkeit, ist ihr ein zumindest materielles Auskommen sicher, gebiert sie ausreichend Söhne, die als ihre Ersatz-Phalli gewissermaßen neben dem ehelichen Leben die einzige Verbindung zur Welt der Männer darstellen, kann sie ihr Leben als geachtetes, wenn auch zweitrangiges Mitglied der Gesellschaft beschließen.“ (1)
In diesem Sinne ließe sich für Hikmatullah S. schlussfolgern, dass der Sohn in Stellvertretung seiner Mutter die eigene Schwester ermordete. Die Unfähigkeit vieler moslemischer Männer, in die Erwachsenenwelt einzutreten, ist der nie gelösten Abhängigkeit von der Mutter geschuldet, die auch selbst kein Interesse an einer Ablösung haben kann. Sie ist diejenige, die ihren Söhnen Allmacht und ein Leben ohne Verantwortung verspricht, und dieses Versprechen wird beim Eintritt in die Männerwelt ebenso unvermittelt wie ungebrochen aufrechterhalten. Die höhere Zahl sexueller und sogenannter Ehren-Gewalttaten durch moslemische Jungmänner in den vergangenen Jahren ist keineswegs in der plötzlichen Freiheit von patriarchalen Familienstrukturen begründet, denen diese Männer auf dem Weg nach Europa entkommen seien, wie gängige Erklärungsmuster behaupten. Demnach müssten sie sich lediglich den hiesigen Usancen im Umgang der Geschlechter anpassen und alles wäre gut. Nun ist es aber nicht so, dass ein moslemischer Mann beim Anblick einer freizügig gekleideten Frau die Kontrolle über sich verliert. Auch die scheinbar leichtere Verfügbarkeit westlicher Frauen ist kein hinreichender Grund für solche Taten. Vielmehr meinen diese Männer in Europa die Grenzenlosigkeit des mütterlichen Paradieses wiedergefunden zu haben, und wähnen sich dadurch legitimiert, alle anderen Frauen als Huren zu behandeln.
Die französische Psychoanalytikerin Janine Chasseguet-Smirgel hat diese regressive Bewegung der Vereinigung mit der Mutter als unbewussten Wunsch nach Ungetrenntheit und als Voraussetzung der Barbarei beschrieben: „Es geht darum, mit der Mutter zu verschmelzen (sich im Rausch vom Ich zu befreien), indem man alle Vertreter des Vaters (die Vernunft und das Gesetz) zerstört.“ (2) Unbewusst dürfte die Grenzöffnung von 2015 von vielen moslemischen Männern als Einladung verstanden worden sein, sich mit „Mutti“ gegen Vernunft und Gesetz zu vereinigen. Schon in der familiären Ansprache der Kanzlerin verbinden sich Frauenverachtung und die Unterstellung einer ungeheuren, archaischen Macht der Mutterinstanz. Merkel hat ihren Spitznamen schon vor 2015 gehabt, aber erst mit der Grenzöffnung wurde er zum Programm einer kollektiven unbewussten Wunscherfüllung. In ihrem gewährenden Gestus und in ihrer Omnipräsenz – in der Gleichzeitigkeit von medialer Selfie-Darstellung und Ungreifbarkeit des mütterlichen Prinzips – entspricht sie jener antiödipalen Mutter-Imago, mit der die moslemischen Männer das Gesetz des Vaters außer Kraft setzen. Der Vater ist besiegt, die Mutter gehört den Söhnen und die Söhne der Mutter: Diese unbewusste Phantasie ist der Urgrund der Islamisierung. Das islamische Patriarchat kann nur mittels der Geschlechterapartheid existieren, und selbst diese Trennung kann kaum verbergen, dass dieses Patriarchat ein kastriertes ist. In Deutschland trifft diese Disposition auf das, was der Psychoanalytiker Hermann Beland „Defektnationalismus“ genannt hat: „Dieser Defektnationalismus besteht in einem illusionären Verschmelzungsgefühl mit einem idealisierten Großkörper ‚Deutschland‘, eigentlich einem abgespaltenen Aspekt einer frühen Mutterimago, deren narzisstische Idealität die eigene Verletztheit und Kastration zum Verschwinden bringt, weil man in dem Größengefühl einer Identifizierung verschwinden kann.“ (3)
Die Herrschaft der Bruderhorde bringt aber kein neues Gesetz als Konsequenz des schlechten Gewissens über den Vatermord hervor; im Bündnis mit der Mutter herrscht vielmehr lediglich das Gesetz der Abhängigkeit. Insofern ist es auch falsch, vom „politischen Islam“ zu sprechen, ist doch die islamische Bewegung darauf ausgerichtet, das Politische als Vermittlung von Bürger und Gesetz zu vernichten und die Umma als allseitige Abhängigkeit zu etablieren, in der die durch das Gesetz vorgenommenen Trennungen beseitigt werden: Das Wort Umma leitet sich von Oum (Mutter) ab, worauf Fethi Benslama hinweist, der tunesisch-französische Kinderanalytiker, dessen Psychoanalyse des Islam nach vielen Jahren nun endlich auf Deutsch erschienen ist. In seinem Buch Der Übermuslim legt er dar, „dass der Islamismus eine von Muslimen auf der Basis des Islams erfundene antipolitische Utopie ist, die sich gegen den Westen richtet, nicht ohne sich eines Teils seiner politischen Errungenschaften zu bedienen.“ (4) Der Übermuslim ist ein Massenideal, das sich aus dem Scheitern der Herausbildung eines individuellen Ich-Ideals nährt, eine narzisstische Entindividualisierung. Das Ich-Ideal blieb als begrifflicher Vorläufer des Über-Ichs in der Metapsychologie Freuds erhalten, weil es die individuelle Seite des Über-Ichs beschreibt, nach der das Subjekt strebt. Wo aber, weil ödipale Trennung nicht möglich war, ein Über-Ich nur schwach sich ausbilden kann, bleibt das Ich-Ideal als Vorstellung vom Ich allenfalls rudimentär.
In diesem Umstand ist das Scheitern der Bemühungen begründet, Islamisten zu „deradikalisieren“. Was bei Nazi-Aussteigern durchaus möglich ist – die Wiedererrichtung eines individuellen Wertekanons und einer Vorstellung davon, wie „ich“ sein möchte –, ist in den vergangenen Jahren bei Islamisten grandios gescheitert. Ein Grund dafür ist, dass der Islamismus fälschlich als politische Ideologie, dem Faschismus oder Nationalsozialismus vergleichbar, begriffen wird und die Islamisten entsprechend als politische Überzeugungstäter. Eine Überzeugung im eigentlichen Sinne aber haben die meisten von ihnen nicht vorzuweisen, wie Benslama zeigt, eigentlich haben sie nichts außer ihrem destruktiven Narzissmus, der nach Entindividualisierung strebt. Gerade in der grundlegenden Ablehnung von Vernunft und Gesetz liegt ihre Unerreichbarkeit für pädagogische Maßnahmen begründet, denn diese beziehen sich immer auf eine äußere Autorität, die ein inneres Äquivalent anzusprechen vermag.
Der evangelische Kirchentag, der am Himmelfahrtswochenende 2017 in Berlin stattfand, war eines jener Ereignisse, die zugleich völlig gehaltlos und sehr bedeutend sind. Im Luther-Jahr fuhr die EKD besonders groß auf — „Mutti“ kam zusammen mit Obama und kaum ein Minister fehlte bei den Großveranstaltungen. Während Atheisten und Antifas meinten darauf hinweisen zu müssen, was für ein „mieses Stück Scheiße“ dieser Luther gewesen sei, ein Antisemit und Frauenverächter, kümmerte sich der Kirchentag um die wirklich wichtigen Themen. Aufschlussreich war die Gleichzeitigkeit der Affirmation von multikultureller und multireligiöser Gemeinschaft als Tatsache in einer Welt der sich auflösenden Grenzen – geographisch, psychisch, physisch, in erster Linie aber: ideologisch – und einer Kritik am Islam, die zum Teil als Selbstkritik von moslemischen Intellektuellen formuliert wurde, zum Teil als Forderungen ans „Miteinander der Kulturen“.
Es war dem Freiburger Islamwissenschaftler Abdel-Hakim Ourghi zu verdanken, dass zumindest einigen der Kirchentagsbesucher so etwas wie ein Erweckungserlebnis zuteil wurde. Er hatte in seinem Vortrag „das radikal Böse“ im heutigen Islam auf dessen weitverbreitete „Herrschsucht und Zerstörungslust“ zurückgeführt und gesagt, „zu behaupten der Islam habe nichts mit Gewalt zu tun“, sei Ausdruck eines „kollektiven Verdrängens“. Die „Pädagogik der Unterwerfung“, die in zahlreichen Moscheen propagiert werde, diene der „Vorradikalisierung“ der Kinder und Jugendlichen. Ourghi, der mit Necla Kelek und anderen im Herbst 2016 eine „Gemeinsame Erklärung säkularer Muslime für einen modernen und aufgeklärten Islam“ veröffentlichte, (5) wurde von seinem christlichen Publikum empört auf die Verbrechen der Christenheit hingewiesen. Er konterte, dass allenfalls der heutige Umgang mit dieser Gewaltgeschichte für den Islam von Bedeutung sein könne: Eben diese Selbstkritik nämlich würde im Islam fehlen. Deshalb hätten „Reformmuslime überhaupt nichts davon, wenn dem islamischen Schrecken immer der christliche an die Seite gestellt werde. ‚Sie helfen uns nicht mit diesem Vergleich‘, rief Ourghi ins Publikum – und erhielt großen Beifall“. (Welt, 26.5.2017) Der Ditib-Generalsekretär Bekir Alboga sah sich in der Defensive, denn seine üblichen Floskeln – eine solche Kritik sei „unwissenschaftlich“, den Islam „schlecht darzustellen“ sei gefährlich und leiste der „Islamophobie“ Vorschub – verfingen nicht mehr: „Hinzu kamen so sachliche wie beharrliche Nachfragen des kundigen Moderators Friedmann Eißler von der Evangelischen Zentralstelle für Weltanschauungsfragen. So beschrieb Eißler, nachdem Alboga die Propagierung der Scharia als zivilrechtlicher Verhaltensvorschrift weit von sich gewiesen hatte, ein Büchlein, das auf Ditib-Büchertischen ausliege. Detailliert, so Eißler, würden darin Scharia-Regeln dargestellt, nach denen muslimische Frauen über ihre Heirat keineswegs selbst bestimmen dürften, sondern dazu erst die Erlaubnis einiger Verwandter einholen müssten. Alboga antwortete, es sei nicht verboten, alte Texte neu zu drucken, schließlich werde ‚auch die Bibel mit ihrer Gewaltverherrlichung nachgedruckt‘. Was Eißler anspreche, seien Klischees. ‚Weg mit diesen Schablonen‘, rief Alboga. Darauf Eißler: ‚Schablonen habe ich jetzt bei Ihnen gehört.‘ Starker Beifall für Eißler.“ (ebd.)
Zu Beginn des Kirchentages hatte Innenminister Thomas de Maizière die Kirchen für das Kirchenasyl für von Abschiebung bedrohte Flüchtlinge kritisiert und gemeint, die Kirchen würden das „Thema Islam“ zu sehr dem Staat überlassen. Allerdings sprach de Maizière weder mit Ourghi noch mit Hamad Abdel-Samad, der auch auf dem Kirchentag auftrat, sondern mit dem Großscheich der Kairoer Al-Azhar-Universität, dem theologischen Zentrum des sunnitischen Islam, der die gleichen Floskeln von sich gab wie Alboga, dem aber vom Innenminister nicht widersprochen wurde. Dass allerdings beim Kirchentag Islamkritiker unterschiedlicher Couleur überhaupt auftreten konnten und auch noch ein gewogenes Publikum fanden, ist nach der jahrelangen Tabuisierung auch nur der leisesten Kritik des öffentlichen Mantras „Das hat nichts mit dem Islam zu tun“ eine auffällige Veränderung, ebenso wie öffentlicher Widerspruch gegen die Funktionäre von Ditib und vom Zentralrat der Muslime (ZMD). Vielleicht waren viele der Kirchentagsbesucher im nationalen Taumel der Willkommenskultur selbst besoffen von ihrer Wiedergutmachungsleistung gewesen und stellen nun ernüchtert fest, dass die realen Flüchtlinge so gar nichts mit den ersehnten Objekten ihrer Begierde zu tun haben. Vielleicht ist diese Veränderung aber auch nur aus der Sicht der deutschen Linken überhaupt erklärungsbedürftig: Der Furor, mit dem in den vergangenen Monaten gegen vermeintliche und wirkliche Islamkritik von linksradikalen und queerfeministischen Kreisen vorgegangen wird – und mehr noch das Ausmaß, in dem der linke Rest sich in Unterwerfungsgesten übt –, korreliert mit der Übernahme einer bestimmten, selektiven Form der Islamkritik durch die deutsche Öffentlichkeit.
Die in ihrem Ausmaß und der Planung an den „Röhm-Putsch“ von 1934 erinnernde Massenverfolgung von homosexuellen Männern in Tschetschenien wurde in der bundesdeutschen Öffentlichkeit zwar wahrgenommen, aber im Unterschied zur Berichterstattung in Frankreich und Großbritannien wurde die islamische Grundierung der Verfolgungswelle ignoriert, während über die Rolle eines reformierten Islam in Deutschland offener diskutiert wird als in den beiden anderen Staaten, kreist die Diskussion über den Islam in Frankreich und Großbritannien um die Bindung des politischen Souveräns an das väterliche Gesetz – mithin um die einhegenden, begrenzenden und versagenden Funktionen des Staates –, werden in Deutschland unter dem Vorzeichen kulturellen Miteinanders die gewährenden und entgrenzenden Eigenschaften der Mutternation gepriesen, die sich in eben dieser Tendenz zur Selbstentgrenzung immer schon von westlichen Nationalstaaten unterschied. So werden die Konzentrationslager für Homosexuelle in Tschetschenien in Deutschland als Ausdruck einer patriarchalen Stammeskultur missverstanden: „Die vormodern-patriarchalische Gesellschaft wertet bereits die Verbalisierung nicht-heterosexueller Orientierung als moralischen Verstoß.“ (Taz, 1.5.2017) Selbst der Hinweis, dass „während der De-facto-Unabhängigkeit Tschetscheniens in den Jahren 1996 bis 1999 die Scharia in der selbsternannten ‚Islamischen Republik Itschkeria’“ galt, kann nicht in einen angemessenen Zusammenhang gestellt werden: „Damals galt für Homosexuelle die Todesstrafe. Heute ist Homosexualität in Russland und damit offiziell auch in Tschetschenien nicht verboten. Doch die ungeschriebenen Gesetze der tschetschenischen Gesellschaft dominieren über das offizielle Recht. Viele Tschetschenen sind der Meinung, dass ein Homosexueller kein Lebensrecht hat.“ (FAZ, 17.4.2017) Die Scharia ist aber kein „ungeschriebenes Gesetz“, und es ist wohl mehr als eine „Meinung“ vonnöten, wenn man binnen weniger Tage sechs Konzentrationslager errichtet und hunderte Männer einsperrt und foltert, nicht selten mit Todesfolge.
Über vormoderne Gesellschaften, ungeschriebene Gesetze und bizarre Meinungen wird gesprochen, wobei der Islam en passant erwähnt werden darf, er darf aber nicht ins Zentrum der Aufmerksamkeit rücken; die Frage, ob der Islam zu einer Religion reformierbar ist, stünde dann zur Debatte. Umgekehrt wäre die islamische Kultur abzugrenzen von christlicher Religion, säkularer Gesellschaft und laizistischem Staat. Doch indem der Kulturbegriff blind affirmiert wird, werden diese drei Errungenschaften der Zivilisation, die jeweils der Religion, der Gesellschaft und dem Staat Grenzen gegenüber dem Individuum setzen, kassiert und zu einer „westlichen Kultur“ verschmolzen, die der islamischen gegenübergestellt, ihr damit aber zugleich in relativistischer Manier als lediglich weitere bloß beigeordnet wird. Damit wird aus der „westlichen Kultur“ das gemacht, was die westliche Zivilisation gerade nicht ist: eine unhintergehbare Identität, aus der es kein Entkommen gibt, weder in der Intimität privater Beziehungen noch in öffentlicher Debatte und Kritik, die also tendenziell mit dem umfassenden Machtanspruch der Umma in eins fällt.
Als einer der Überlebenden des Londoner Attentats vom 4. Juni 2017 in seiner Erregung „muslim cunts“ brüllte, wurde er ganz im Sinne solcher Relativierung sofort zurechtgewiesen, das alles habe nichts mit dem Islam zu tun, und das nur wenige Minuten, nachdem mehrere Menschen wie Vieh abgestochen worden waren. In der Fernsehberichterstattung entschuldigten sich die Moderatoren im Namen der aufgebrachten Menge für deren Schmährufe, weil diese politisch unkorrekt gewesen seien. Anstatt sich darüber zu freuen, dass viele Leute an diesem Abend dank des Alkoholkonsums mutiger waren als sonst und deswegen wahrscheinlich sogar weniger Menschen zu Tode gekommen waren, geriet die dem unmittelbaren Affekt entsprungene Wahrheit – dass die Mörder widerliche Typen und ihre Taten unentschuldbar sind – zu einem Tabubruch wie das Rauchen und Eis-Essen während des Ramadan, das einem 33-jährigen syrischen Flüchtling in Oldenburg das Leben kostete. Das Londoner Attentat und der Mord von Oldenburg werden so zu einem „religiösen Konflikt“, wie die Oldenburger Polizei den Mord nannte und damit das Opfer zum Mittäter und die Täter zu Opfern erklärte. Durch solche Selbstkulturalisierung des Westens werden Meinungsfreiheit und Gleichberechtigung ebensolche Fetische wie Burka und Ramadan, und solchermaßen zur Verhandlungsmasse einer neu zu stiftenden Kulturgemeinschaft. Dann heißt es wie auf dem Kirchentag: „Ihre Werte – unsere Werte“, und unter diesem Motto ist dann auch Kritik möglich. Voraussetzung der Kritik ist aber die strukturelle Angleichung des Westens an die islamische Kultur, wodurch die Kritik von vornherein entmachtet wird. Genau das findet statt, wenn de Maizière sagt, die Burka gehöre nicht zu Deutschland, zu unserer Kultur gehöre es, das Gesicht, oder schlimmer: Gesicht zu zeigen.
Dass Flüchtlinge, die nach Europa gekommen sind, um hier während des Ramadan tagsüber essen und rauchen zu können, ihres Lebens nicht sicher sind – sofern sie von anderen für Moslems gehalten werden –, während entsprechende interkulturelle Handreichungen dazu auffordern, sich mit dem Essen und Trinken im Angesicht fastender Moslems zurückzuhalten, entspricht dieser, mit einer als Kritik camouflierten Aushandlungsmoral verbundenen Angleichung an den Islam, die jede Wut, jede Äußerung von Hass und Rachewünschen verbieten muss, um sich überlegen fühlen zu können. Diese implizit fremdenfeindliche Geste – ihr könnt anstellen, was ihr wollt: wir setzen unser Selbstgespräch unbeirrt fort – provoziert geradezu immer grausamere Taten. Die sich häufenden Anschläge werden mittlerweile in routinierter Weise abgearbeitet; erst das Erschrecken, dann die Warnung, nicht zu pauschalisieren, dann erst die Kondolenz an die Angehörigen der Opfer, dann die Frage nach der Radikalisierung der Täter.
Salman Abedi, der in Manchester 22 Menschen ermordete, viele von ihnen sehr jung und weiblich, war wie viele andere Attentäter den Sicherheitsbehörden bekannt. Aber da er, wie viele andere Massenmörder vor ihm, sich nicht immer strikt an den islamischen Lebensstil gehalten hatte, wurde er nicht als gefährlich eingestuft. Dieser ritualisierte Ablauf entspricht einer manischen Abwehr im Bann des Wiederholungszwangs. Die Vermeidung von Trauer geht einher mit der Verweigerung des Eingeständnisses, im Angesicht der Bedrohung gescheitert zu sein, und wird verwandelt in ritualisierte Wiederholung, mit der die Gewöhnung einhergeht. Die Gewöhnung wird nicht allein propagiert, sie ist Realität. Erst wenn die Gewöhnung durchbrochen wird, etwa in dem Moment, in dem die Mörder auf feiernde und angetrunkene Briten treffen, die sich zur Wehr setzen, wird offenbar, wie ubiquitär die Gewöhnung schon geworden ist.
Von der Gewöhnung können sich die Kritiker nicht ausnehmen, die zwar treffend immer wieder auf die Unterwerfung hinweisen, aber dennoch ebenso wie alle anderen dem Geschehen ausgesetzt sind – allein die Einzelnen, die nach solchen Anschlägen zu den entsprechenden Botschaften gehen, um Blumen niederzulegen und einen Moment in Trauer und Wut innezuhalten, artikulieren unter gegebenen Umständen die Erinnerung an ein Gestern, als dieses Tun noch nicht zum Alltagsgeschäft gehörte. Ein Eingedenken an Ermordete, zu denen jeder mehr oder weniger zufällig gehören kann; eine Solidarität mit Angehörigen, zu denen ebenfalls jeder mehr oder weniger zufällig gehören kann, und die mehr ist als ein Lippenbekenntnis, besteht in dem Willen, nicht mitzumachen und sich selbst immer wieder dem Bannkreis der Wiederholung zu entziehen. Dabei handelt es sich nicht allein um eine politische Geste, wie notwendig sie immer sein mag, es ist ein innerpsychischer Prozess, die Gewöhnung als Zumutung zu begreifen.
Die Gewöhnung ist dem Ich so viel näher: Geübt darin, den Ausgleich zwischen inneren Anforderungen und äußeren Zwängen, zwischen Über-Ich und Es, zwischen Lust- und Realitätsprinzip, zwischen libidinösen und destruktiven Impulsen herzustellen, d.h. mittels Kompromisslösungen ein Gleichgewicht zu schaffen, ist das Ich alles andere als ein Agens der Veränderung. Es sind die inneren, die internalisierten Objekte, mit Triebansprüchen besetzt, die widerstehen können und sich nicht abfinden wollen. Die Fähigkeit zu solchem Empfinden ist aber an das Bewusstsein der Getrenntheit gebunden, das den Verlust der Mutter-Kind-Symbiose anzuerkennen und zu betrauern in der Lage ist. Die Fähigkeit, diese Restbestände eines überkommenen Subjektivierungsprozesses gegen die barbarische Sehnsucht nach der Vereinigung mit Mutti zu bewahren, wird entscheidend dafür sein, die symbolische Gleichsetzung von Kultur und Zivilisation weiterhin kritisieren zu können, ohne sich auf Augenhöhe zu begeben oder auch nur den Anschein zu erwecken, es gäbe etwas zu verhandeln.
Tjark Kunstreich (Bahamas 77 / 2017)
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