Titelbild des Hefts Nummer 79
NO PASARÁN!
Heft 79 / Sommer 2018
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Kreativität und Verbrechen

Improvisationslust als deutscher Wahn

Dass die Deutschen ein Volk phantasieloser Bürokraten seien, die der selbstentgrenzenden Begegnung mit dem Fremden bedürften, um sich endlich mal richtig locker zu machen, hat noch nie gestimmt. Im Gegenteil, sich locker zu machen und die weite Welt zu sehen, war ihnen von jeher ein so brennendes Bedürfnis, dass sie spätestens seit dem Ersten Weltkrieg zwischen Massentourismus, Freizeitspaß und Kriegseinsatz allenfalls fließende Übergänge kennen. (1) Die multikulturellen Jungdeutschen, die sich heute im Rahmen diverser Abenteuerpraktika und Freiwilligendienste möglichst noch vor Erreichen der Volljährigkeit für ein paar Monate selber jeweils nach Mittelafrika, Lateinamerika, Indien oder in den Libanon entsenden, um die Arbeit ortsansässiger Entwicklungshelfer mit ihrem pausbackigen Tatendrang zu behindern, haben aus der Geschichte nur gelernt, um sie fortzusetzen. Nachdem es mit dem Sieg der Herrenrasse nicht geklappt hat, ist man in sich gegangen und hat die Hybris eingesehen, die darin lag, das eigene Volk in der freilich schon damals feingliedrigen Hierarchie der Rassen an die Spitze zu stellen und nicht ernsthaft genug in Betracht zu ziehen, dass auch andere Völker als Vorkämpfer bei der Mobilmachung gegen die alleinige Gegenrasse (2) in Betracht kommen.

Seit sie das begriffen haben, praktizieren die Deutschen Weltoffenheit gegenüber den barbarischsten Stämmen des Globus, am liebsten gegenüber Angehörigen der Umma, in der sie die zeitgemäße Erscheinungsform der Volksgemeinschaft erkennen, welche ihnen ihrerseits rückblickend fast wie eine Erfindung von Spießern erscheint – weshalb heute die lautesten Feinde von Spießertum und Biederkeit besonders hemmungsloses Appeasement gegenüber dem Islam betreiben, dessen Zugehörige nicht nur weniger verweichlicht sind als Stammtischdeutsche, sondern von vorneherein transnational agieren und die Grenzen bürgerlicher Staatlichkeit missachten. Einem bürgerlichen Staat anzugehören, heißt Grenzen zu akzeptieren, was mit den Deutschen nie zu machen war, weshalb die Grenzen von den Siegern diktiert werden mussten. Wenn heute Multikulturalisten sich angesichts von Stadtvierteln, die noch nicht zu fünfzig Prozent islamisiert sind, über „Monokulturen“ mokieren, klingt darin der Hass auf dieses Diktat mit – der Hass auf die wenigstens oberflächlich gelungene Verwestlichung des Alltags also. Wobei auch diese Verwestlichung nur gelingen konnte, weil es in Deutschland institutionelle und lebenspraktische Anknüpfungspunkte für eine Abwendung vom Selbstverständnis als Kulturvolk zugunsten des angloamerikanischen Modells von Zivilisation gab, die freilich immer Ausnahmen blieben. Alles, was an solche Residuen von Gesellschaft erinnert und an die alliierte Politik der reeducation nach 1945 anknüpfen konnte, wird heute „Monokultur“ geschimpft, die vor Monokulturalisierung zu schützende Gemeinschaft aber ist multikulturell. Wenn ein islamischer Vater, weil ihm das Sorgerecht verweigert wurde, seine Frau hinrichtet und seinem Baby den Kopf abschneidet, bekommen deshalb in Deutschland diejenigen, die die Grausamkeit der Tat dokumentieren und öffentlich machen, Besuch von der Polizei. (3) Mit der Bestialität ist man per du, sie ist menschlich verständlich, während Gesten der Humanität, die sie skandalisieren, als indezent gelten.

Furor der Entgrenzung

Weil Deutsche mit der Bestialität intimeren Umgang pflegen als mit den eigenen Sexualpartnern, unterschied sich die Folter im Nationalsozialismus von der Folter in anderen politischen Systemen. Sie entledigte sich jeglicher instrumentellen Zwecksetzung und diente nicht mehr der Erreichung eines festgelegten Ziels, etwa der Erpressung von Informationen, sondern wurde zum Selbstzweck. (4) Dadurch gewann sie unmittelbar sexuellen Charakter. Zwar hat jede Folter eine sexuelle Komponente, insofern sie erlaubt, den triebdynamischen Zusammenhang von Lust und Herrschaft am zum Opfer deklarierten Ohnmächtigen auszuagieren. Doch nur in der nationalsozialistischen Folter, der nicht zu Opfern erklärte Feinde, sondern zu Exemplaren einer Gegenrasse erniedrigte Vogelfreie unterzogen wurden, kam dieser Zusammenhang rein zu sich selbst. Eben dadurch folgte die Folter im Nationalsozialismus keiner Regel mehr, die der in ihr ausgeübten barbarischen Grenzüberschreitung ihrerseits Grenzen gesetzt hätte, sondern wurde zum Feld freier Improvisation. Weil die Opfer nicht mehr zu einem bestimmten Zweck gequält wurden, konnte mit ihnen nach Belieben umgesprungen werden.

Der Einbildungskraft der Schänder war dabei keine Grenze gesetzt, und einer der Gründe dafür, dass die Opfer in den Lagern die Ausweglosigkeit ihrer Situation lange Zeit unterschätzten, lag – vielfach beschrieben – ganz einfach darin, dass kaum jemand sich vorzustellen vermochte, was die Deutschen kollektiv nicht etwa träumten, sondern taten, und zwar freudig, launig und mit anpackender Lust an einer Pflichterfüllung, die jeden Begriff von Pflicht, selbst den soldatischen, gesprengt hatte. Der Nationalsozialismus war keine Riesenmaschinerie, in der Menschen wie Rädchen funktionierten und noch der Massenmord an Effizienzkriterien gemessen wurde, (5) sondern eine Mobilmachung von lauter barbarisierten narzisstischen Erfindern, Improvisatoren und Selbstverwirklichern, deren jeder Einzelne von der eigenen Unersetzlichkeit überzeugt gewesen ist. Die Volksgemeinschaft, zu der sie sich sammelten, folgte nicht mehr einfach der Logik von Homogenisierung und Formierung, mit der sich die Massenmobilisierung des Ersten Weltkriegs mit einigen Mühen noch fassen lässt, sondern einer totalen Freisetzung losgelassener Bandensubjekte, die sich den bösen Kindertraum erfüllten, alles totschlagen zu dürfen, was sich als Wirklichkeits- und Erfahrungsrest der eigenen Willkür noch irgend in den Weg stellt.

Dass die Subjekte, die solch improvisatorischen Sadismus an den als Juden Preisgegebenen exekutierten, nicht vom Typus des ordnungsliebenden Staatsdieners waren, der nach oben buckelt und nach unten tritt, und der immer das, aber auch nur das ausführt, was ihm befohlen wird, und dass ihre nur provisorisch zum Selbst zusammengeflickte dissoziierte Subjektivität heute am ehesten vom Sozialtypus des islamischen Jungmannes beerbt wird, hat Klaus Theweleit angedeutet, als er sein Buch Das Lachen der Täter über die Soziopathologie des deregulierten Terrors als Nachfolgeband der 1977/78 erschienenen Männerphantasien ausgewiesen hat. (6) Doch wie Das Lachen der Täter die Grenze zwischen islamistischem Terror und Amoklauf verschwimmen lässt, wurde schon in den Männerphantasien der Gegenstand, den das Buch ins Licht rückte, zugleich systematisch verschleiert. Dass Theweleits Studie, in der der Antisemitismus nicht vorkommt und die Vernichtung der europäischen Juden zum Derivat einer chauvinistischen Männlichkeit schrumpft, unverhofft zum Bestseller avancierte, verdankte sich der Mischung aus Erkenntnis und Verleugnung, die in ihr vorlag. Einerseits brach das Buch mit der Vorstellung vom Nazi als Befehlsempfänger und Bürokraten, weil es die Lust der Mörder an der Qual und die intime Beziehung, die sie mit ihren Opfern verband, ins Zentrum rückte. Indem Theweleit die Täter dem Sozialtypus des nicht zu Ende geborenen Mannes zuordnete, der in der Zerstörung der Körpergrenzen des Erniedrigten die ersehnte Auflösung des eigenen Körpers halluziniert und die nie vollendete Geburt, die Ausbildung des Selbst qua Ablösung vom mütterlichen Leib, in der Zerstörung des Opfers wahnhaft glaubt ausgleichen zu können, (7) hielt er fest, dass der Nationalsozialismus triebdynamisch nicht auf Schaffung von Grenzen, sondern auf barbarische Entgrenzung zielte.

Weil das uneingestandene Vorbild seiner Typologie des nationalsozialistischen Mannes aber der Soldat des Kaiserreichs blieb, und weil er in vorauseilender Anbiederung an die Frauenbewegung von der antisemitischen Subjektkonstitution der Frauen im Nationalsozialismus zugunsten der Gleichsetzung von Männlichkeit und Faschismus absah, beförderte Theweleits Buch letztlich die Verleugnung dessen, was es in Auseinandersetzung mit dem Material an den Tag gebracht hatte. Zuerst hat das Moishe Postone gesehen, der den Männerphantasien in einer langen Fußnote seines Aufsatzes „Antisemitismus und Nationalsozialismus“ attestierte, „so unspezifisch“ zu sein, dass „das Problem des nationalsozialistischen Erfolgs in Deutschland in ein Problem von Männern überhaupt“ aufgelöst werde, und der unter Verweis auf Fotodokumente von jungen Nazis, „die sadistisch lächeln, während sie älteren jüdischen Männern die Bärte ausreißen“, sowie auf die nationalsozialistische Familienpolitik, die „keineswegs traditionalistisch“ gewesen sei, die Vermutung äußerte, im Nationalsozialismus habe sich vielmehr „Haß auf das Patriarchat“ Bahn gebrochen: „Die offensichtlich paradoxe Verbindung von Revolte mit dem Wunsch nach Disziplin und Ordnung kann als Revolte gegen einen zu schwachen Vater verstanden werden, das heißt als eine Bewegung, die den Niedergang des Patriarchats ausdrückt (was natürlich von seiner Überwindung sehr verschieden ist).“ (8)

Entgegen der Lesart des Nationalsozialismus als Produkt der „patriarchalisch-bürgerlichen Kleinfamilie“, der Theweleits Buch zuarbeitete und die seitdem vollends zur Hohlformel wurde, war die Neujustierung des Verhältnisses von Disziplin und Entgrenzung im Nationalsozialismus antibürgerlich. In der bürgerlichen Gesellschaft geben Sublimation und Selbstdisziplinierung, das Ziehen und Achten von Grenzen, insbesondere jener zwischen Öffentlichkeit und Privatsphäre, den Rahmen ab, der es den voneinander getrennten Individuen ermöglicht, einander nahezukommen, ohne sich auf die Pelle zu rücken. Im nationalsozialistischen Volksstaat schrumpften Disziplin und Ordnung zum vom Mob selbst nicht mehr geglaubten Alibi der Enthemmung, auf das lediglich gepocht wurde, um den Furor der Entgrenzung zu entfesseln. Theweleit hat in seiner Analyse deutscher Schamlosigkeit in Das Land, das Ausland heißt etwas davon erkannt: „Die allersimpelsten Formen von Zurückhaltung, mit dem politischen Begriff: von Nichteinmischung in das Leben derer, die um einen herum sind, sind in Deutschland nach wie vor nicht verläßlich gegeben. Eltern, Lehrer, Freunde, Geliebte, Kinder, Nachbarn usw. haben derart wenig Hemmungen vor dem umstandslosen Eingriff, vor dem Übergriff ins andere Leben mit Vorschrift, Beschränkung, Meinungsäußerung, Ratschlag, es schlägt nur so um sich. Die Leute sind nicht gut auseinandergewachsen. Sie hängen (so) zusammen im Familien-, im Geschwister-, im Freundschafts-, dann im Liebesknäuel; im Vereins-, im Stammtisch-, im Wohnungsknäuel, daß sie ihre eigene Ausdehnung so wenig kennen wie die Stelle, wo eine andere Person anfängt; sie spüren das nicht als etwas Reales, sie leben zu großen Teilen in einem Gefühl andauernder Irrealität.“ (9)

Weil aber Theweleit diese Analyse deutscher Transgressionssucht eher am Modell des Kegelklubs als der Wohngemeinschaft, eher an der Nachbarschaftshilfe als der linken Gesinnungsmeute ausrichtet, erkennt er nicht, dass diese längst jene als die offenere, flexiblere Variante deutscher Schamlosigkeit beerbt haben. Erst recht nicht sieht er, dass er selber wie der Bauchredner der neuen Schamlosigkeit spricht, wenn er als Körpertherapie gegen das eigene Kartoffeltum Folgendes empfiehlt: „Man muß ein Stück Afrikaner geworden sein, auf dem Weg übers Ohr, über die Augen, über Kenntnisse, um etwas Wirkliches zu haben gegen all den Kolonialismus im eigenen Körper […] ein Körperagent aus Angola, aus Namibia… ein Stück indianischer Sandinist… ein Stück Pole… ein Stück Russe… Amerikaner aus Hollywood (der ist man sowieso)… aus New York… ein Stück ‚Zigeuner‘ […] man muß die Morde an den Juden nicht nur ‚kennen‘ und ‚verurteilen‘, man muß die Position ‚ermordeter Jude‘ in seinem Körper beleben, sich selbst gesehen haben anstelle der Getöteten, ihnen ein Stück Dasein wiedergeben aus dem eigenen, damit etwas von ihnen weiterleben kann und weiterwirken auf diesem verseuchten deutschen Boden, sonst wird man nicht sprechen können, sonst wird keine Wirklichkeit entstehen hier.“ (10) Dass die Juden von den Deutschen nicht einfach in Ruhe zu lassen wären, während ihr Staat ohne Wenn und Aber zu verteidigen ist, sondern es sich gefallen lassen sollen, dass die Nachfahren der Mörder „die Position ‚ermordeter Jude’“ in ihren Körpern beleben, um „auf diesem verseuchten deutschen Boden“ eine neue „Wirklichkeit“ entstehen zu lassen – diese Mischung aus sadistischer Empathie, Moralkitsch und Aufbaupathos, 1989 geschrieben, nimmt ein zivilgesellschaftliches Antideutschtum vorweg, das aus der selbstzufriedenen Selbstbezichtigung als Bewohner verseuchten Bodens neuerdings die Legitimität zieht, einen Außenminister anzuhimmeln, der nach eigenem Bekunden „wegen Auschwitz in die Politik“ gegangen ist.

Vom Staatsbürger zum Kreativbürger

Theweleits Obsession mit dem Kampf gegen den „Kolonialismus im eigenen Körper“, von dem die symbolische Reanimation toter Juden nur ein Teil ist, mutet an wie eine multiethnisch gewendete Antwort auf die Aussage Hitlers: „Rasse müssen wir aber – zumindest im bewußten Sinne – erst werden“. (11) Dieses Diktum bestimmte „Rasse“ nicht mehr, wie noch der Rassismus eines Gobineau, als Kulturschicksal der ihr vermeintlich Zugehörigen, sondern als Projekt: als Telos einer virtuell endlosen Selbsttransformation, die an sich und den anderen Gemeinschaftsangehörigen zu vollziehen einen erst als Verkörperung von „Rasse“ qualifiziert. Ausgerechnet die Deutschen sollen, wenn es nach Theweleit ginge, als Antwort auf ihre Geschichte in einer Art reichianischen Variante von Invasion of the Body Snatchers den Afrikaner, den Juden, den Amerikaner, den Indianer in sich erwecken, als wäre dieses halluzinierte Mutantentum nicht der beste Beweis dafür, dass Linke hierzulande mindestens so schlecht „auseinandergewachsen“ sind wie Rechte. Mit Wolfgang Schäuble, der bislang am ehrlichsten ausgesprochen hat, dass die moslemische Masseneinwanderung die Deutschen vor den Folgen ihrer „Inzucht“ bewahren solle, (12) verbindet Theweleit mehr als er ahnt: Von der Selbstentseuchung des Gemeinschaftskörpers, der kulturklimatischen Bekämpfung der Erblast des eigenen Kartoffeltums unterm Banner einer multikulturellen Zivilgesellschaft, träumen sie beide.

Psychodynamisch war die nationalsozialistische Bewegung für viele ihrer Exponenten weniger Erfüllung einer imaginierten Pflicht oder heroische Vollstreckung eines rassebiologisch festgelegten Schicksals denn schöpferische Arbeit am Projekt Herrenrasse. Den Wunsch, Indianer zu werden, kannte auch Hitler, dessen jugendliche Begeisterung für Karl May die Angehörigen der Wiener, der Münchener und der Berliner Boheme teilten – 1910, als gegen May wegen Anmaßung des Doktortitels Klage geführt wurde, unterschrieben Künstler der ästhetischen Avantgarde, darunter Herwarth Walden und Oskar Kokoschka, eine Solidaritätsadresse, und zu Mays Bewunderern zählten nicht nur deutschnationale Autoren aus dem Umfeld des Naturalismus wie Julius und Heinrich Hart, sondern auch solche jüdischer Zugehörigkeit wie Else Lasker-Schüler und Ernst Bloch, die an Mays Orientbegeisterung anknüpften, weil sie in ihr eine Reflexionsform der eigenen Exterritorialität zu erblicken glaubten. (13) Hitler eiferte May nach, indem er sich nach dem Tod seiner Mutter ab 1908 fünf Jahre lang als Kunststudent ausgab, um sich eine Waisenrente zu erschleichen. Ohnehin ähnelten seine Jugendjahre mit ihren zahlreichen Wohnungs- und Ortswechseln, abgebrochenen Studien, in den Sand gesetzten Arbeitsversuchen als Lehrling oder Künstler, mit der aus einer überheblichen Abneigung gegen den „Brotberuf“ gespeisten Hochstapelei, dem routinierten Dilettantismus (unter anderem hat er sein Geld mit dem Nachzeichnen Wiener Stadtansichten verdient) und der Nähe zum lumpenproletarischen Milieu weniger den Biographien strammer Deutschnationaler als denen vagabundischer Freaks wie dem Niederösterreicher Rudolf Steiner, der sich in seiner Jugend als Dauerhausgast bei besser situierten Familien einmietete und seinen akademischen Misserfolg als letztgültigen Beweis einer höheren Berufung ansah, die er fortan als unermüdlicher Vortragsredner in esoterische und lebensreformerische Zirkel trug. (14) Bei Steiner erhielt die animistische Transfusion von Talentlosigkeit in Genialität, von der Unfähigkeit und dem Unwillen, sich ökonomisch nützliche Fertigkeiten anzueignen, in ein jegliche Konkurrenz souverän missachtendes Schöpfertum – vermittelt über eine trivialisierende Aneignung der Schriften Herders und Schellings (15) – den Namen, den sie in Deutschland bis heute trägt: Kreativität.

Ein kreativer Zug eignete auch den Karrieren solcher führenden Nazis, die anders als Hitler keinen intimen Umgang mit Boheme und lumpenproletarischer Vagabondage pflegten. Nur wenige von ihnen konnten mit ständisch und soldatisch geschliffenen Lebensläufen wie die späteren Mitglieder des Kreisauer Kreises aufwarten, deren Widerstandshandlungen gegen das „Dritte Reich“ sich nicht zuletzt aus der zutreffenden Empfindung speisten, dass der Nationalsozialismus zu wenig faschistisch, zu plebejisch und unterwandert von dissoziierten Asozialen sei. Der ebenfalls dem Kleinbürgertum entstammende, wegen seines Klumpfußes als „Humpelstilzchen“ verspottete Goebbels, der als Jugendlicher ein talentierter Streber war, dessen Wunschtraum von einer Militärkarriere wegen seiner durch eine Knochenmarkserkrankung hervorgerufenen Behinderung aber nicht in Erfüllung gehen konnte, fand im katholischen Studentenverein Unitas und später im atheistisch-heidnischen Zirkel um Oswald Spengler institutionelle Garanten jenes Größenselbst, (16) das für andere Nazis durch Mitgliedschaft in schlagenden Verbindungen oder Freikorps zusammengehalten wurde. Zusammengehalten aber immer nur, um gleich wieder auseinanderzufallen und ideologisch anders begründete, aber der narzisstisch-barbarischen Selbstentgrenzung ebenso dienliche Ankerpunkte in der Wirklichkeit zu finden, die ihrerseits nur noch als Material voluntaristischer Zurichtung in Betracht kam. Aus diesem kreativ-selbstschöpferischen Zug des nationalsozialistischen Charaktertypus erklärt sich die Inkonsistenz der von ihm in Anspruch genommenen „Weltanschauung“, die als Ideologie gar nicht mehr adäquat beschrieben werden kann, ebenso wie die jedem bürgerlichen Begriff von Treue spottende Willkür im Umgang mit den Identifikationsobjekten des eigenen Größenwahns.

Während die politische Ökonomie samt ihrer Kritik sich am Paradigma von Arbeit und Produktion, also einer Transformation des Objekts qua Vermittlung tätiger Subjektivität orientiert, kennt der kreative Sozialcharakter im Grunde weder den Begriff des Objekts noch den der Arbeit, der Produktion oder des Tauschs. Kreativität bezeichnet für ihn nicht einfach eine „natürliche“ im Gegensatz zu einer „künstlichen“ oder „entfremdeten“ Produktion – neuere Varianten der Kreativitätspropaganda heben gerade darauf ab, dass es sich um etwas handele, das den Subjekten erst qua Coaching beigebracht werden müsse (17) –, sondern sie macht aus dem Unwillen und der Unfähigkeit zu Arbeit, zur reflektierten Vermittlung zwischen Subjekt und Objekt, aus der Verachtung zivilisierter Verkehrsformen ein Qualitätssiegel, das sich Vergleichung wie urteilender Vernunft entziehen soll. Die Rede von der Kreativität bringt, wo sie emphatisch wird, nie nur zum Ausdruck, dass Regeln, Maßstäbe und Routinen in manchen Situationen vergessen werden müssen, sondern legt nahe, dass Rechtsbruch, Verstoß gegen das Sittengesetz und Inhumanität nicht nur in Kauf genommen, sondern lustvoll ausgelebt werden, wann immer die Willkür des Subjekts auf Grenzen der Außenwelt stößt. In ihr kündigt sich so die Selbsttransformation des staatsfeindlichen Staatsbürgers zum zivilgesellschaftlichen Kreativbürger an, der Gesetze, Institutionen, bürokratische Verfahren samt deren Internalisierungsformen wie Gewissen, Reue usw. allein als Fesseln des alles zermalmenden Selbstschöpfungsdrangs empfindet.

Wenn im Arbeitsleben heute davon gesprochen wird, es seien kreative Lösungen verlangt, schwingt darin immer eine solche Drohung mit dem Rechtsbruch, virtuell mit Mord und Totschlag mit: die Drohung mit der disruptiven Aufkündigung bürgerlicher Verhältnisse zugunsten unvermittelter, jeglicher institutionellen Einhegung enthobener und im Namen des Rechts der Stärkeren suspendierter Konkurrenz. Dass die Professionalisierung des Kreativitätsbegriffs im Dienste deregulierter, die Individuen aufs Gesetz der Horde zurückverweisender Arbeitsverhältnisse nicht nur ein postmodernes, sondern vor allem ein pränazistisches Phänomen und dass dessen heutige Virulenz die Wiederkehr eines historisch Älteren ist, wird an Steiner evident, dessen Kryptoterminologie nur so lange skurril anmutet, wie man absieht von den ganz und gar praktischen Zusammenhängen – Kommunitarismus, Psychotechnik, Massenpropaganda –, die Steiner als eine Art antisemitische Ich-AG zum Idol werden ließen. Begleitend zu seiner Karriere und Deutschlands Aufstieg zur angriffsbereiten Weltkriegsmacht sekundierend, poppten zwischen dem späten 19. Jahrhundert und dem Ersten Weltkrieg zahllose dem Steiner-Typus entsprechende Mystagogen aus dem Boden, die als Angehörige einer kreativen Lumpenintelligenzia das Komplement zum lumpenproletarischen Milieu des Pränazismus bildeten, (18) darunter neben Spengler, der den ersten Band von Der Untergang des Abendlandes 1918 herausbrachte, Ludwig Klages, dessen Prinzipien der Charakterologie 1910 und dessen Studien zur Graphologie, Handschrift und Charakter, 1917 erschienen, und der evangelische Theologe Rudolf Otto, aus dessen 1917 veröffentlichter Schrift Das Heilige Walter Benjamin seinen Begriff der Aura bezog, was Theodor W. Adornos Skepsis gegen diese Kategorie bestärkte. (19) Mittels ideengeschichtlicher Turnübungen zu belegen, dass das Denken solcher Figuren den Nationalsozialismus „beeinflusst“ habe oder von ihm „angeeignet“ worden sei, ist indessen wenig ergiebig. Interessant sind sie als Repräsentanten eines Typus von Künstler-Denker, der aus der eigenen ökonomischen Nutzlosigkeit, aus der nach Abbau des bildungsbürgerlichen Hokuspokus offenkundig gewordenen Unbrauchbarkeit aller Denker und Künstler, sein Alleinstellungsmerkmal bezieht: Weil er zu nichts zu gebrauchen ist, nichts für die Gegenwart irgendwie Wichtiges gelernt hat, sich aber auch mit niemandem vergleichen und an niemandem messen will, macht er das, was er „an sich“ ist, das Rein-Menschliche, eben allein sich selber, „so wie er ist“, zur Grundlage seines Businessplans. „Charakter“, „Aura“, „Ausstrahlung“, „Charisma“ oder neuerdings „Cuteness“ sind Deckbegriffe für solche in dreisten Stolz überführte Überflüssigkeit.

Fortschritt durch Verkennung

In diversen postmodernen Politchargen Erscheinungsformen dieses Charaktertypus zu erblicken, um auf diese Art Trump, Putin und Sloterdijk gleichermaßen als Symptome eines neu aufkommenden Bedürfnisses nach Charisma auszumachen, unterschlägt die Zugehörigkeit des kreativen Sozialcharakters zum deutschen Pränazismus, der Zeit zwischen dem Zerfall des Kaiserreiches und der Formierung der nationalsozialistischen Massenbewegung. Das auftrumpfende Ressentiment der Kreativen sowohl gegen Unproduktivität wie gegen Produktion, gegen Arbeitslosigkeit wie gegen Lohnarbeit, gegen instrumentelle Vernunft wie gegen die Großzügigkeit und die Zweckfreiheit, die sie transzendieren, ist das Charakteristikum einer eben nicht nur zu spät gekommenen, sondern in diesem Zu-spät-gekommen-Sein vorausschreitenden Nation, die gelernt hat, Regression als Fortschritt, Atavismus als schöpferisches Potential zu leben. Gerade weil ihre politischen Handlungen jenseits alles Diskutablen sind, müssen die Deutschen überall mitreden, gerade weil sie vom bürgerlichen Recht und seinem innerpsychischen Sediment, dem Sittengesetz, buchstäblich unberührt sind und es sich allenfalls als von Philosophen oder Pfaffen auferlegte Norm konkretisieren können, begründen sie jeden ihrer Beiträge zur Asozialisierung der Zivilisation mit hochmoralischen statt mit politischen Argumenten. Weil es für sie der Normalfall menschlichen Zusammenlebens ist, sich wahlweise anzupampen oder empowernd auf die Schulter zu klopfen, diffamieren sie jede Kritik als Übergriff und entschuldigen jede Diffamierung als Kritik. Weil es nie einen Common Sense zwischen ihnen gegeben hat, weil das gesellige Nebeneinander des Unterschiedenen ihnen anders als Bürgern der angloamerikanischen Staaten nie zur individuellen Erfahrung wurde, deren Bedingungen man zu bewahren wünscht, ist ihnen das Zusammenleben etwas, das permanent „ausgehandelt“ werden muss – besonders mit solchen Partnern, die als Verhandlungsergebnis allein die Unterwerfung des anderen unter die eigene Willkür akzeptieren. Nur in denen nämlich, und das heißt heute: nur in den Apologeten des Islam und nicht in dessen Kritikern, erkennt man wieder, was einen selber umtreibt, was einem als historische Erblast auf den Schultern drückt, und was man als Last loszuwerden und zugleich zu affirmieren wünscht, indem man ausgerechnet mit denen das Gespräch sucht, die sich mit niemandem auf der Welt unterhalten wollen, weil die Welt, jegliche Objektivität, ihnen als Ehrverletzung gilt.

Der postnazistische Erbe des kreativen Sozialcharakters unterscheidet sich von seinem pränazistischen Vorgänger durch einen Lernprozess, in dem sich ein historisches Vergessen ausdrückt. Vergessen wurde das improvisatorische, transgressive Moment des Nationalsozialismus, der von denen, die ihn emphatisch lebten, ganz wie Theweleit es nachgezeichnet hat, nicht als allumfassende Repression, nicht als Diktatur, sondern als Befreiungstrip, als kollektive Promiskuität, als vom Souverän, der sich darin suspendierte, gebilligte Grenzüberschreitung erfahren wurde. In den 1960er Jahren vollzog sich, wie die Historikerin Dagmar Herzog in ihrem Buch Sex after Fascism am Wandel der Sexualpolitik gezeigt hat, (20) aus dem durchaus ehrlichen Bemühen heraus, aus dem Nationalsozialismus zu lernen, eine auf einer doppelten Verwechslung beruhende Umdeutung der Vergangenheit. Die postnazistische Realität der 1950er Jahre, mit ihrer Biederkeit und Prüderie, ihrem Affekt gegen Jugendkultur, ihrem Kultus um die Kleinfamilie, ihrem schwerfälligen Beamtenapparat und ihrer Überempfindlichkeit gegen Spontaneität und Improvisation, erschien der gegen die Eltern rebellierenden Jugend als Relikt des Nationalsozialismus, der damit als Verknöcherung, Verhärtung, als statisches Gesellschaftssystem interpretiert wurde, das im „Muff“, in den bürokratischen Institutionen und deren Vertretern, fortlebe. Die bessere Zukunft, von welcher die Achtundsechziger ein Vorschein zu sein meinten, wurde demgegenüber als befreiender Bruch mit der Vergangenheit gedeutet.

Beide Vorstellungen beruhten, wie Herzog zeigt, auf Verkennung und Projektion. Die Spießigkeit der frühen Bundesrepublik, ihre Fetischisierung von Familie und väterlicher Autorität, waren widersprüchliche, aber konsequente Reaktionen auf die Erfahrung, dass der Nationalsozialismus die Institutionen des bürgerlichen Staates zerstört und den Doppelcharakter der Familie als durch den Staat und vor dem Staat geschützte privat-öffentliche Institution vernichtet hatte. Vor allem aber antwortete der als verklemmt wahrgenommene Umgang mit Sexualität auf die Erfahrung der triebenthemmenden Dimension der nationalsozialistischen Bewegung, die keine restaurative Bewegung alter Leute war, die Veränderung fürchteten, sondern eine Aufbruchsbewegung junger Leute, die genug vom Bestehenden hatten. Erst vor dem Hintergrund dieser Verkennung, die in der mittlerweile biologisch zutreffenden, aber deshalb erst recht falschen Rede von den „alten Nazis“ weiterlebt, erklärt sich, dass die Achtundsechziger-Bewegung meist unzugänglich blieb für die Einsicht in die Ähnlichkeiten zwischen ihr selbst und der pränazistischen Jugend, der Ähnlichkeit zwischen Kommunarden und Lebensreformern, der Begeisterung beider Generationen für bündische Kollektive, der Verherrlichung von Natur und Umwelt usw., bis zur Übereinstimmung von esoterischem Antisemitismus und friedensbewegtem Antizionismus. Der sich antifaschistisch wähnende Kampf gegen die Verknöcherungen der Adenauer-Republik war somit auch, und hinter dem Rücken seiner Protagonisten, ein Kampf für die zeitgemäße Entfesselung jener Impulse, welche durch das Bekämpfte hatten gebannt werden sollen.

Der von Herzog in den Blick gerückte Mechanismus eines Fortschritts durch Verkennung bestimmt bis heute die Pathologie des deutschen Sozialcharakters. Weil der auf Neutralisierung des Klassenantagonismus ausgerichtete korporatistische Sozialstaat durchaus zu Recht als Erbfolger des NS-Staats angesehen wurde, verteidigten diejenigen, die ihn gegen Verfassungsfeinde in Schutz nahmen, darin immer auch irgendwie den Unstaat, auf den er gefolgt war, weshalb die Gegner von Notstandsgesetzen und Extremismusparagraphen in der Bundesrepublik objektiv immer auch im Recht gewesen sind, selbst wenn sie für das Falsche eintraten. Weil aber jener Staat zugleich nicht einfach der NS-Zombie war, als den seine Feinde ihn denunzierten, sondern mit der Stillstellung des Klassenantagonismus, mit der wohlfahrtsstaatlichen Abfederung der Marktkonkurrenz und der Mobilisierung gegen umstürzlerische Elemente darauf reagiert hat, dass die nationalsozialistische Revolution die deutsche Revolution gewesen ist, mutieren nicht nur Staatsfeinde, sondern auch Staatskritiker in der Bundesrepublik seit je und nicht selten intentionslos zu linksdeutschen Reinkarnationen des Nazismus – mit der gleichen Begeisterung für die Abtragung verkrusteter Strukturen und Ausmistung alter Ställe, für das Sich-neu-Erfinden und das Sich-Ausprobieren, für ästhetische „Versuche“ ohne Talent und Geschmack, für politische „Versuche“ ohne Achtung von Recht und Gesetz. Als nach der Wiedervereinigung unter Gerhard Schröder derlei Ausmistung plötzlich ganz unangenehm praktisch wurde, kritisierte man dessen Reformwillen wieder nur mit der Nullphrase des „Neoliberalismus“ (als hätte es in Deutschland je einen Liberalismus gegeben), thematisierte ihn also als amerikanisch-finanzkapitalistische Zersetzung statt als Freisetzung jener kreativen Gewalt, die vom alten Sozialstaat sistiert worden war. So recht hat sich die deutsche Linke von der Gestaltwerdung ihrer eigenen Phrasen in Schröder und seinen Nachgängern nie erholt, weshalb inzwischen zum Beispiel in der Jungle World die Gleichen, die den Sozialstaat gegen die Flexibilisierung der Arbeitsverhältnisse verteidigen, sich präpotent als „Globalisten“ aufspielen. Darin liegt nicht einmal ein Widerspruch, denn die Einforderung sozialer Sicherheit meint für den kreativen Sozialcharakter nicht die Verteidigung des Individuums gegen Staat und Clique, sondern die Verbündung des Einzelnen mit den Cliquen gegen den Staat, weshalb das Gesellschaftsideal der „Globalisten“ nicht in den westlichen Metropolen, sondern in den von Verbrecherbanden und ethnisierten Horden untereinander aufgeteilten neuen Megacities, nicht in New York, London oder Paris, sondern in Singapur, Rio oder Kapstadt verkörpert ist: Globalismus ist Antikosmopolitismus.

Gefallene Grenzen

In solchem Antikosmopolitismus lebt zivilgesellschaftlich renoviert eine Haltung fort, die das penetrante Sich-Verwirklichen und schöpferische Belästigen der Nebenmenschen für Individualismus hält, obwohl sie Asozialität, Rechtlosigkeit und Cliquenherrschaft vorarbeiten. Wenn Konrad Adenauer 1957 mit dem Slogan „Keine Experimente“ in den Wahlkampf gezogen war, kam damit nicht nur eine Parteinahme im Kalten Krieg zum Ausdruck, sondern subkutan die Einsicht, dass der Nationalsozialismus das deutsche Experiment sui generis gewesen ist, dass sich die Deutschen in ihm ausleben konnten wie nie zuvor, und dass deshalb bürgerliche Staatlichkeit in Deutschland nur heißen kann, alles zu tun, um die Bevölkerung daran zu hindern, sich auszuleben. Der schlechte Ruf, in dem die Adenauer-Republik bis heute steht, ist nicht zuletzt die kollektive Antwort der Bevölkerung auf diesen als Gängelung empfundenen Versuch der Zivilisierung, der Vermenschlichung der Deutschen, dem je nach Gusto und Epoche das echte Gespräch, der Mut zur Phantasie, das Palaver über den Weltfrieden oder die debile Freude darüber entgegengehalten wird, „dass unser Land sich verändert“. Die Schritte zur Befreiung von dieser Gängelung gingen stets einher mit dem emblematischen Bild der gefallenen Grenze, das Theweleit in Das Land, das Ausland heißt als Chiffre einer kollektiven Triebenthemmung gedeutet hat, in der die im Namen der Demokratiefähigkeit verleugnete libidinöse Massenerfahrung des Nationalsozialismus wiederkehrte, während Zivilisierung in Deutschland immer mit Grenzziehung (Staats- und Sektorengrenzen, Selbstbegrenzung des Staates und Beschränkung persönlicher Willkür) einherging.

Den Wunsch, dass die Grenzen fallen mögen, dass es nichts mehr geben möge, was einen daran erinnert, wo man selber aufhört und der andere beginnt, hat Theweleit als Movens deutscher Massenpsychologie entziffert. Zugleich aber hat er das von ihm kritisierte Verhaltensmuster fortgesetzt, indem er die Lockerungsübungen der Achtundsechziger als Formen gelungener Amerikanisierung interpretiert hat, wie Entnazifizierung in seinen Augen ohnehin Ergebnis körperlicher Lockerung zu sein scheint. Nur weil diese Sichtweise mittlerweile von der Zivilgesellschaft inklusive ihren antideutschen Helfergruppen geteilt wird, weil also die Ahnung davon, dass Zivilität in Deutschland stets eher in den Verknöcherungen als in den Lockerungsübungen bewahrt ist, dem Vergessen anheimfiel, findet es in solchem Milieu kaum jemand auch nur verdächtig, wenn die Grenzen mit besonderer Begeisterung ausgerechnet in Deutschland und ausgerechnet gegenüber den vorwiegend männlichen Vertretern einer Jugend abgebaut werden, die noch weniger zu Ende geboren sind als die Männer, über die Theweleit geschrieben hat. Während jeder, der bei dieser zivilgesellschaftlichen Mobilmachung nicht mitmachen mag, als ewiggestrig dem Mob preisgegeben wird, bilden die neuen Kreativen, die in puncto Begeisterung für die Organisation des Chaos ihren Vorgängern gleichen, nicht mehr nur Netzwerke, sondern Institutionen, die sich aggressiv anbieten, auf einem genuinen Gebiet staatlicher Planung dem Staat die Arbeit abzunehmen. An der FH Dortmund, wo es seit dem Wintersemester 2014/15 einen Bachelorstudiengang Flüchtlingshilfe gibt, stehen entsprechend statt nicht-akzeptierender Sozialarbeit, klinischer Psychologie, Kriminologie und Rechtswissenschaft – Disziplinen, die beim Umgang mit dem jungislamischen Bevölkerungszuwachs tatsächlich Hilfe leisten könnten – „die Willkommenskultur der Mehrheitsgesellschaft“, die „Sensibilisierung für eigene [!] Vorurteile“ sowie „Theorien und Lösungswege zu gesellschaftlicher Diskriminierung“ im Mittelpunkt. (21) Die Psychologin Bianca Wühr, die in Dortmund Seminare über „Soziale Informationsverarbeitung“ abhält, beklagt sich, dass „die meisten Menschen“ noch immer „sich selbst als Maß aller Dinge“ sähen, und die Studentin Sibel Turhan, die beim Multikulturellen Forum Hamm arbeitet, sieht das „Balancieren“ zwischen den „Kulturen“ als flüchtlingshelferische Kernkompetenz. In solch diskurssensiblem Gewäsch, das das theoretische Komplement zur schulterzuckenden Hinnahme von Kinderehen und Scharia-Scheidungen, Ehrenmorden und Vergewaltigungen ist und der Exkulpation antisemitischer Pogrome als Ausdruck kultureller Differenz vorarbeitet, deutet sich an, wie der Unstaat aussehen könnte, in den jener bürgerliche Staat sich auflöst, dessen Installation einmal die ganz praktische Antwort des Westens auf den Nationalsozialismus war.

Magnus Klaue (Bahamas 79 / 2018)

Anmerkungen:

  1. „Ausflug nach Paris“ und „Auf Wiedersehen auf dem Boulevard“ schrieben die Soldaten, die nach der Kriegserklärung Deutschlands an Frankreich im Sommer 1914 Richtung Westfront ausrückten, an die Güterwaggons, in denen sie reisten. Vgl. Wolfgang Pohrt: Woher? Wohin?, in Ders.: Stammesbewusstsein, Kulturnation. Pamphlete, Essays, Feuilletons, 118–122.
  2. Der Antisemitismus ist schon deshalb kein Rassismus, weil die „Gegenrasse“, die er vernichten will, in totaler Einzahl halluziniert wird, während Rassen in den Augen von Rassisten notwendig in der Mehrzahl existieren – anders als für Kant, für den die Rassen, deren unterschiedlichen Zivilisationsstand er anthropologisch herleitet, Erscheinungsformen des unteilbaren Menschengeschlechts sind. Siehe Clemens Nachtmann: Drittes Reich, Dritte Welt, Dritter Weg. Über Rassismus und Antirassismus, in: Bahamas 43 (2003/04), 53–60.
  3. Am 14.4.2018 hatte ein nigerianischer „Lampedusa-Flüchtling“ am Hamburger Jungfernstieg seine einjährige Tochter mit einem Messer nahezu enthauptet und deren 34-jährige Mutter ermordet. Die Polizei listete die an die Bestialität von Boko Haram erinnernde Doppelhinrichtung als „Beziehungstat“, die Grausamkeit der Tatdurchführung wurde unterschlagen. Bei einem Gospel-Sänger aus Ghana, der den Tatort gefilmt hatte, und einem Blogger, der das auf Facebook gestellte Video auf seinem Youtube-Kanal veröffentlichte, wurden Razzien in den Wohnräumen durchgeführt und Arbeitsgegenstände beschlagnahmt. Begründet wurde das mit Eingriffen in „die höchstpersönlichen Lebensbereiche“ der ermordeten Frau. Unangemessene Bilder, etwa Aufnahmen der Leichen, waren in dem Video nicht gezeigt worden. Vgl. den Artikel von Stefan Frank: www.achgut.com/artikel/die_enthauptung_der_hamburger_justiz.
  4. Die Folter mit politischer Zwecksetzung blieb freilich erhalten, lässt sich aber nicht zur Essenz des NS-Regimes erklären. Vgl. Jan-Georg Gerber: Saving Jean Améry. Eine Verteidigung Jean Amérys gegen seine Liebhaber, in Bahamas 67 (2013), 41–46.
  5. iehe Dan Diner: Aporien der Vernunft, in Ders. (Hg.): Zivilisationsbruch. Denken nach Auschwitz, Frankfurt a. M. 1988, 30–53.
  6. Vgl. Klaus Theweleit: Das Lachen der Täter: Breivik u.a. Psychogramme der Tötungslust, St. Pölten u.a. 2015.
  7. Theweleit verhandelt „Vermischungszustände der Körperränder“ anhand von Metaphern wie Schlamm, Sumpf, Brei usw. in selbstbiographischen Dokumenten von Wehrmachtssoldaten. Siehe Klaus Theweleit: Männerphantasien. 1: Frauen, Fluten, Körper, Geschichte, Frankfurt a. M. 1977, 492–520.
  8. Vgl. Moishe Postone: Antisemitismus und Nationalsozialismus, in: Ders.: Deutschland, die Linke und der Holocaust. Politische Interventionen, Freiburg i. Br. 2005, 165–194, hier 172 f.
  9. Siehe Klaus Theweleit: Das Land, das Ausland heißt. Essays, Reden, Interviews zu Politik und Kunst, München 1995, 34.
  10. ebd. 154 f.
  11. Zitiert nach Henry Picker: Hitlers Tischgespräche im Führerhauptquartier 1941–1942, Bonn 1951, 445.
  12. Nachzulesen in: www.zeit.de/politik/deutschland/2016-06/wolfgang-schaeuble-aussenpolitik-wandel-afrika-arabische-welt.
  13. Zu den Karl-May-Bewunderern in der Avantgarde gehörten außerdem Egon Erwin Kisch, Georg Heym und Alfred Ehrenstein, besonders beliebt war er bei den Expressionisten. Vgl. hierzu den Artikel von Helmut Schmiedt in: Gert Ueding (Hg.), Karl-May-Handbuch, Würzburg 2001, S. 492–508. Zu Mays Biographie Hans Wollschläger: Karl May. Grundriss eines gebrochenen Lebens, Göttingen 2004.
  14. Vgl. Miriam Gebhardt: Rudolf Steiner. Ein moderner Prophet, München 2011. Zu Überschneidungen der Boheme-Kultur mit dem Pränazismus siehe Helmut Kreuzer: Die Boheme. Analyse und Dokumentation der intellektuellen Subkultur vom 19. Jahrhundert bis zur Gegenwart, Stuttgart 1968, besonders 326–363. Eine treffende Deutung des dissoziierten Sozialtypus des Pränazismus findet sich bei Wolfgang Treher: Hitler, Steiner, Schreber. Gäste aus einer anderen Welt, Emmendingen 1990.
  15. Ideengeschichtlich entscheidend hierbei war die Spiritualisierung und Entindividualisierung des Lebensbegriffs in der deutschen Tradition. Vgl. Hans Joas: Die Kreativität des Handelns, Frankfurt a. M. 1992, 172–186.
  16. Vgl. insgesamt: Peter Longerich: Goebbels. Biographie, München 2010.
  17. Siehe Ulrich Bröckling: Das unternehmerische Selbst. Soziologie einer Subjektivierungsform, Frankfurt a. M. 2007, 152–179.
  18. Ausführlich hierzu Per Leo: Der Wille zum Wesen. Weltanschauungskultur, charakterologisches Denken und Judenfeindschaft in Deutschland 1890–1940, Berlin 2013.
  19. Vgl. Birgit Recki: Aura und Autonomie. Zur Subjektivität der Kunst bei Walter Benjamin und Theodor W. Adorno, Würzburg 1988.
  20. Diese Studie ist als einzige der Autorin auf Deutsch erschienen. Vgl. Dagmar Herzog: Die Politisierung der Lust. Sexualität in der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts, München 2005. Siehe ferner Dagmar Herzog, Daniel Fulda u.a. (Hg): Demokratie im Schatten der Gewalt. Geschichten des Privaten im deutschen Nachkrieg, Göttingen 2008.
  21. Diese und die folgenden Zitate aus: www.welt.de/regionales/nrw/article163143212/In-Dortmund-kann-man-Fluechtlingshilfe-studieren.html. Als Lernziele werden ferner genannt: „Kulturwissen in Bezug auf Herkunftsländer“ und „aufsuchende soziale Arbeit“, also eine Sozialarbeit, die ihre Adressaten abholt, wo sie stehen, statt Forderungen an sie zu stellen – weil „Kultur“ und „Herkunft“ Fetische, Zivilisation und Zukunft aber Anathema sind. Vgl.: www.fh-dortmund.de/de/fb/8/Bachelor_Dual.php.

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