Die Föderative Sozialistische Volksrepublik Jugoslawien hatte sich 1974 ihre vierte Verfassung mit dem erstaunlichen Umfang von 406 Artikeln gegeben, in deren erstem es heißt: „Die Sozialistische Föderative Republik Jugoslawien ist ein Bundesstaat als staatliche Gemeinschaft freiwillig vereinter Völker und ihrer sozialistischen Republiken sowie der sozialistischen autonomen Gebietskörperschaften Kosovo und Vojvodina, die sich im Verband der Sozialistischen Republik Serbien befinden, gegründet auf die Macht und die Selbstverwaltung der Arbeiterklasse und aller arbeitenden Menschen, sowie eine sozialistische, sich selbst verwaltende demokratische Gemeinschaft der Werktätigen und Bürger sowie gleichberechtigter Nationen und Nationalitäten.“ (1)
Auch wenn es paradox klingt, diese Verfassung war die eines Rätestaates. Penibel regelte sie ein System der Selbstverwaltung, das vom Bund über die Republiken bis hinunter zu den Gemeinden und sogar Wohnvierteln reichte. Arbeiter und Bauern, ergänzt um alle anderen Berufsgruppen, sollten nicht nur die Geschicke des Staates selbst bestimmen, sondern auch in den Betrieben die Produktionsziele festlegen und über die Reichtumsverteilung entscheiden. Selbst Verwaltungsangelegenheiten, die der Bund oder die Einzelrepubliken ausführten, lagen theoretisch in ihrem Entscheidungsbereich. Größtes Augenmerk wurde selbst auf die kleinsten Einheiten gelegt, wenn es zum Beispiel um die Errichtung und Pflege von Spielplätzen im Wohngebiet ging. Dass die Genossen es mit ihrem Selbstverwaltungssozialismus ernst nahmen, belegt eine Stelle aus den einleitenden „Grundprinzipien“, in der als Voraussetzung für die Selbstverwaltung unmissverständlich erklärt wird, dass „das gesellschaftliche Eigentum an Produktionsmitteln, das die Rückkehr zu jeglichem sich auf die Ausbeutung des Menschen stützenden System ausschließt“, nicht anzutasten sei. Erst „durch die Aufhebung der Entfremdung der Arbeiterklasse und der Werktätigen von den Produktionsmitteln und sonstigen Arbeitsvoraussetzungen“ sei es möglich, „die Selbstverwaltung der Werktätigen in der Produktion und bei der Verteilung der Arbeitsergebnisse sowie bei der Lenkung der gesellschaftlichen Entwicklung auf der Grundlage der Selbstverwaltung“ zu gewährleisten.
Diese Verfassung verdient es, nicht nur als ehrgeiziges, aber verfehltes Modell der politischen und ökonomischen Partizipation aller an den öffentlichen und betrieblichen Angelegenheiten studiert zu werden, sondern auch, weil darin die wenigen Stellen im Werk von Karl Marx über die zukünftige befreite Gesellschaft aufgegriffen und verfassungsmäßig in die Realität überführt werden sollten. Papier ist bekanntlich geduldig und die Sachzwänge, denen die mit dem kapitalistischen Ausland erfolglos konkurrierende Staatswirtschaft unterworfen war, haben das meiste von dem, was die Verfassung vermeintlich versprach, von vornherein zunichte gemacht. Von Belang bleibt, dass von aktiver Selbstverwaltung freier Produzenten die Rede war, in deren Händen man die ganze Macht legen wollte.
Seit ein paar Jahren wird in Deutschland wieder verstärkt von einem Rätemodell gesprochen, das aber mit der jugoslawischen Verfassung und den Grundsätzen der Pariser Kommune rein gar nichts zu tun hat. In der Kommune von 1871 und nach ihr vor allem im revolutionären Russland von 1917 bis 1921 und kurzfristig im revolutionären Deutschland von 1918/19 stand der Rätegedanke für eine Zeit des Übergangs zur befreiten Gesellschaft. Die Arbeiterklasse und die mit ihr verbündeten Schichten nahmen für sich in Anspruch, durch die mitunter spontane Organisierung der Räte, die Macht der alten Eliten zu brechen und sich auch gegen die Herrschaftsansprüche einer Arbeiterpartei abzusichern. In Deutschland blieb das Wort bis heute als Erinnerung an eine besiegte Arbeiterklasse erhalten. Dieser gestand man 1920 zum Trost die Betriebsräte zu, die sich bis zu ihrem Verbot 1933 und seit ihrer Wiederzulassung 1946 als geschätzte Sachwalter des Betriebsfriedens hervortaten, die sich im Sinne des Erfolgs des außerhalb ihres Einflusses liegenden Betriebszwecks sowie der Erhöhung der Produktivität konstruktiv einbrachten und zudem zur sozialverträglichen Abfederung von Kündigungen beitrugen. Die Frage nach dem Eigentum an den Produktionsmitteln stellte sich in (West-)Deutschland nach 1919 jedoch nicht mehr.
Konsequenterweise sind 100 Jahre danach lediglich konstruktive „Rückmeldungen aus der Mitte der Gesellschaft“ gefragt, wenn das einst verheißungsvolle Wort Räte gebraucht wird. Das läuft auf eine Form der Meinungsumfrage hinaus, die zum Zweck der Krisenprävention veranstaltet wird und deshalb nicht vom Emnid-Institut am Telefon, sondern in echten Gremien vorgenommen wird, deren Mitglieder sich ihr selbstgebasteltes Schild wichtigtuerisch auf die Brust heften, auf dem dann Ralf oder Katrin steht. Im Koalitionsvertrag der Ampelkoalition, die von einer in Revolutions- und Rätefragen besonders kompetenten Partei angeführt wird, heißt es im Kapitel „Moderner Staat und Demokratie“: „Wir wollen die Entscheidungsfindung verbessern, indem wir neue Formen des Bürgerdialogs wie etwa Bürgerräte nutzen, ohne das Prinzip der Repräsentation aufzugeben. Wir werden Bürgerräte zu konkreten Fragestellungen durch den Bundestag einsetzen und organisieren. Dabei werden wir auf gleichberechtigte Teilhabe achten. Eine Befassung des Bundestages mit den Ergebnissen wird sichergestellt.“ (2) Diese Gremien zur Erörterung von Fragen, die von „nationaler Bedeutung“ sein „müssen“ (3), sollen dafür sorgen, dass „jenseits von Meinungsumfragen und Lobbyismus“ eine „direkte Rückmeldung aus der Mitte der Gesellschaft“ (4) erfolgt. Direkte Mitsprache in Form eines Vetos gegen eine angestrebte Entscheidung der Regierung ist ausdrücklich nicht vorgesehen, es soll lediglich unter Beweis gestellt werden, dass die im Bürgerrat authentisch abgebildete Bevölkerungsmeinung den von der Regierung vorgegebenen politischen Grundsätzen akklamiert. Dass damit die Legitimationsprobleme moderner Herrschaft zu heilen seien, wird niemand von den Koalitionären ernsthaft erwarten. Seit die Parteien nicht mehr Klassen- oder Volksparteien sind, ahnt die politische Klasse jedoch, dass man gerade jene Entscheidungen von nationaler Bedeutung besser nicht allein schultert, die gleichbedeutend mit empfindlichen Einschnitten in die Freiheit und das Eigentum der Bevölkerungsmehrheit sind. Man weiß auch, dass die Verwaltung das Verwalten immer weniger bewältigt, woran auch die großen Finanzspritzen aus der Staatskasse nichts ändern und die Auflösung von eingeübten Wertesystemen das Schwinden von sozialer und öffentlicher Sicherheit im postmodernen Kapitalismus noch beschleunigen. Krisen legen schonungslos offen, dass demokratische Staaten keinesfalls wie im Lehrbuch funktionieren. Die „direkten Rückmeldungen“ erfolgen in Ausnahmefällen wenig konstruktiv auf der Straße, öfter jedoch bleibt der Protest still und entlädt sich erst am Wahltag durch die Abgabe der Wählerstimme für eine systemwidrige Partei.
„Ohne das Prinzip der Repräsentation aufzugeben“, Bürgerräte einzurichten, sie aber an der Macht ausdrücklich nicht zu beteiligen, ist schon deshalb widersinnig, weil jedes Rätemodell gerade die Beteiligung der im Betrieb Beschäftigten an der Machtausübung meint, die sich schlecht alle an einem Ort versammeln können. Unfreiwillig offen hielt die Koalitionserklärung die Frage, ob auch andere Repräsentanten des Souveräns als die im Parlament versammelten Abgeordneten in Fragen von nationaler Bedeutung mitbestimmen sollten, am Ende gar ganz direkt in Form von extralegalen aber staatsnahen Pressuregroups. Das Wahlvolk selbst wollte man in Form des Plebiszits aus auch guten Gründen nicht „direkt“ an der Macht beteiligen.
Spätestens mit der Finanzkrise von 2008 trat in den EU-Ländern der Öffentlichkeit ins Bewusstsein, dass staatliche Zahlungsunfähigkeit auch für einen Mitgliedstaat des Bündnisses die Suspendierung der nationalen Souveränität durch einen supranationalen Insolvenzverwalter nach sich ziehen kann. Am Beispiel Griechenland erfuhr man, dass frische Kredite des IWF sich an Bedingungen knüpfen, die den gewählten Parlamenten nur noch die Zustimmung und Umsetzung von Sparprogrammen übriglassen, während die Rating-Agenturen mit der Drohung des Downgradings bereitstehen und die Ablösung von Politikern durch Experten empfehlen. Als am 1.11.2011 bekannt wurde, dass der griechische Regierungschef Giorgos Papandreou beabsichtige, das „EU-Rettungspaket“ seinem Volk zur Zustimmung vorzulegen, meldete der Spiegel: „Die EU-Partner sind perplex.“ Es bestand bis dahin ein Konsens, dass Sachentscheidungen, die die ganze Union betreffen, nicht plebiszitär entschieden werden dürften, und auch die damaligen Erörterungen in den Medien lehnten ein solches Ansinnen teils empört ab. Es ging nicht nur um die Zumutungen für die Griechen, die ihrerseits als Zumutung für den Euroraum galten, sondern auch um den Zustand der Demokratie. Erst vor diesem Hintergrund wird nachvollziehbar, warum politische Entscheidungsträger seit Jahren über Partizipationsmöglichkeiten der Bürger jenseits von Parlament und Plebiszit öffentlich nachdenken.
Schon während der Pandemie wurden Expertenräte eingesetzt und öffentlich inszeniert, um die Politiker zu entlasten und die Legitimation immer unpopulärerer Entscheidung zu erhöhen. Deren Wirken als omnipräsente und unkontrollierte ideologische Lautsprecher erschien nur kurze Zeit zukunftsweisend, denn bald ließ sich nicht mehr leugnen, dass sie zunehmend auch ihr behauptetes Expertentum desavouierten.
Das Werkzeug für den Kampf gegen die medial immerzu verlautbarte Klimakrise stellt eine Bürgerrats-Lobby zur Verfügung, die aus Politikern, Wissenschaftlern und Institutionen aus dem Bereich Forschung, Politik und Wirtschaft besteht. Sie behauptet, auch einmal dem einfachen Bürger Gehör zu schenken, statt immer nur Experten zu Wort kommen zu lassen. Bürgerräte gibt es in Deutschland seit 2019. Sie agieren auf regionaler Ebene, in den Bundesländern und bereits während der großen Koalition im Bund. Die Regierung Scholz übernahm nur ein fertiges Konzept, das 2019 mit dem bundesweiten Bürgerrat „Demokratie“ erstmals erprobt wurde und das der ehemalige bayerische Ministerpräsident Günter Beckstein moderierte. Seither wurden Bürgerräte zu den Themen „Klima“, „Forschung“, „Künstliche Intelligenz“ oder auch zu „Deutschlands Rolle in der Welt“ abgehalten. Als Initiatoren zeichneten sich steuergeldfinanzierte staatliche Vereine oder Stiftungen wie Mehr Demokratie e.V., die b.pol buergerpolitik.org gGmbH und Demokratie Innovation e.V. verantwortlich. Die Entscheidung der neuen Bundesregierung, Bürgerräte in Eigenregie zu initiieren, bedeutete zwar nicht die Verdrängung dieser Hilfsorganisationen, wohl aber eine beachtliche Aufwertung dieses vermeintlichen Partizipationsmodells. Das Ergebnis erwies sich allerdings als dysfunktional. Gedacht als Instrument zur Disziplinierung der Parlamente, die in Schicksalsfragen über die Parteiengrenzen hinweg wie ein Mann zusammenstehen, droht sich das zur Stärkung einer Expertokratie erdachte machtlose Gremienmodell zu einem Parallelsouverän zu verselbstständigen.
Die Argumente für die Einsetzung von Bürgerräten gehen auf honorige Herrschaften zurück, die ein Expertenleben lang mehr Demokratie einforderten und deshalb kommunikationstheoretisch und diskursethisch stets mitmischen, wenn der Demokratie Gefahr droht. Sie sind die Lehrer von weit jüngeren Partizipationsforschern, mit denen sie zu folgendem Bild der Lage gelangen: Man könne zwar nach wie vor davon ausgehen, dass die parlamentarische Demokratie in Deutschland über ein hohes Maß an Akzeptanz und Legitimität verfüge, weil demokratische Wahlen prinzipiell allen Wahlberechtigten offen stünden und jede Stimme gleichwertig sei. Es müsse jedoch auch festgestellt werden, dass das deutsche System zunehmend an „einer akuten Repräsentationskrise“ (5) leide. Die Gründe hierfür lägen in einem Bedeutungsverlust der klassischen Meinungsbildungsinstitutionen wie Parteien, Kirchen und Gewerkschaften, wobei die Frage gar nicht erst gestellt wird, welchen Einfluss auf die Zerstörung der entsprechenden Milieus die ökonomische Krise der 1970er und der daraus entstandene postmoderne Kapitalismus hat. Damit einher geht der Befund, die „politische Atmosphäre“ sei „geprägt von einem sinkenden Vertrauen sowohl in die Problemlösungsfähigkeit als auch in die Legitimität der repräsentativ-demokratischen Entscheidungen“ (6). Daher sei „ein Aufbrechen etablierter Strukturen und Verfahren […] grundsätzlich zu empfehlen.“ (7) Da man glaubt, beweisen zu können, dass mit dem „verbreiteten Verdruss über politische Prozeduren“ auch eine „Lust auf Beteiligung“ einhergehe (8), wird empfohlen, „soziale Innovationen“ einzuführen, die „die Rolle von Bürger*innen in öffentlichen und politischen Meinungs- und Willensbildungsprozessen aufwerten und neue Gelegenheiten für politische Teilhabe, Deliberation und Einfluss eröffnen“ (9). Die Voraussetzungen hierfür seien so gut wie nie zuvor, denn „der Ausbildungsstand und damit die kommunikativen Ressourcen der Menschen in Deutschland haben sich grundlegend entwickelt. […] Das objektive Wissen der Einzelnen sowie vor allem die subjektive Selbstvergewisserung und das Gefühl potentieller Selbstwirksamkeit sind bei den Menschen erheblich ausgebildet.“ (10)
In dieser Perspektive erscheint das nachbürgerliche Subjekt als beflissener Bescheidwisser, dem die „reale Gewissheit, sich in allen komplexen Fragen kundig [zu] machen und ein Urteil bilden zu können“, anhafte (11). Damit sich keine Demokratieverdrossenen und auch sonst unkundigen Aufgeregten an den Bürgerverhandlungen beteiligen, sondern nur jene autoritären Kümmerer, die nicht erst seit den Corona-Jahren unangenehm auffallen, sorgen bereits die mit der Umsetzung der erweiterten politischen Partizipation Beauftragten. Potenzielle Mitglieder der Bürgerräte werden anonym nach Kriterien wie Alter, Geschlecht, Herkunft etc. ausgesucht, nach dem Losverfahren ausgewählt und dann angerufen. Die Methodik des Anrufes dient dabei als Filter, der scheinbar objektiv entscheidet, wem von den Ausgewählten der nette Praktikant gut zuredet und wem man das Mitmachen unter Verweis auf unzählige Verfahrensregeln und eine entsprechende Schulung ausredet. Für gezielte Manipulationen sprechen die Erfahrungen des Protestforschers Dieter Rucht, der hervorhob, dass die spezialisierten Dienstleister, die die Organisation und Moderation übernehmen, bestrebt sind, für „glatte Abläufe“ zu sorgen, „um Auftraggeber und künftige Kunden positiv zu stimmen. Unerwünscht sind dagegen spontan aufkommende Metadiskussionen über die Regeln oder gar einschneidende Änderungen des Verfahrens, beharrlich verfochtene Minderheitenmeinungen und Kritik an Moderator:innen.“ (zeit.de, 7.5.2023) Solche Bevormundung der neuen Räte reicht den Verantwortlichen noch lange nicht. Um sicherzustellen, dass keiner der ausgelosten Bürger auf falsche Gedanken kommt, ist der Beratungsprozess als Crashkurs angelegt, bei dem berufene Experten zur Lage referieren. Diese Mischung aus Wortbeiträgen der Teilnehmer und belehrendem Dauerfeuer soll dem Rest der Bevölkerung per Liveübertragungen ins Haus geliefert werden. Damit sich die Experten am Ende nicht selber befehden, sondern für die vorab festgelegten Ergebnisse einstehen, wurde von den ideologischen Stichwortgebern schon vor Jahren betont: „Die Auswahl der Expert:innen ist entscheidend für die Qualität des Verfahrens. Die Grundvoraussetzung ist das anerkannte Fachwissen oder die deutliche Meinungsträgerschaft der ausgesuchten Personen.“ (12) Man kann ohne Übertreibung konstatieren, dass es sich bei der ganzen Unternehmung um „betreutes Denken“ (nzz.ch, 8.2.2023) handelt.
Die Parteien der Regierungskoalition kommen der Lösung ihrer Legitimationsprobleme damit keinen Schritt näher. Im jeweiligen Rat sitzen lediglich von ihrer Sache vorab überzeugte Mittelklasseangehörige, die Lust auf Beteiligung haben. Verdrießlich ist nur, dass dies genau diejenigen sind, die, obwohl sie weit weniger als 40 Prozent der Wähler repräsentieren, sich trotzdem ganz selbstverständlich anmaßen, für 99 Prozent der Bevölkerung zu sprechen und seit Jahren dafür sorgen, dass die Demokratie in Deutschland immer mehr meist unangenehme Aussteiger oder Protestwähler produziert.
Die manipulierende Rolle, die der Staat den akklamierenden Mutmachern zuweist, wird noch nicht einmal geleugnet. Was die „Berufspolitik“ sich so unverblümt nicht zu sagen traut, weil die Umfragewerte dann in den Keller gehen, sollen leutselige Gestalten wie du und ich im Rahmen der Bürgerräte übernehmen, denen vorab die Ablehnung des parlamentarischen Repräsentationsprinzips durch Partizipationsexperten eingetrichtert wird. Damit entledigt sich das politische System jenes Prinzips, das einzig noch fähig ist, dem häufig beschworenen Sachzwang eine Abstimmungsniederlage zuzufügen. Am Fall Griechenland hat man gelernt, dass die gar zu offensichtliche Ausschaltung des in der Regierung vorgestellten Souveräns zu massiver Gegenwehr in der Bevölkerung führen kann. Die Entmachtung des Parlaments soll deshalb in Form von Bürgerräten institutionalisiert und vom Parlament selbst exekutiert werden. Am Parlamentarismus bemängelt man die politischen Grundprinzipien, die Dissens und die Abweichung von der staatlich vermittelten Position erst ermöglichen: Streit, aber auch wechselnde Bündnisse und die Berücksichtigung der Stimmung an der Basis. Die Ideologen der erweiterten Bürgerpartizipation sind sich sicher, dass der politische Normalbetrieb „wesentlich durch gegensätzliche, kurzfristig orientierte Interessen und fragmentierte Zuständigkeiten geprägt ist“, und „in ökologischen Fragen zu einem kolossalen Versagen speziell der Berufspolitik geführt“ habe (13), ein Befund, der nach Systemwechsel schreit. Die Alternative kommt so menschelnd und kuschelig daher, wie die betriebsbedingte Kündigung, die dem nun Überflüssigen von seinem empathischen Vorgesetzten überbracht wird, der sein geballtes Wissen aus den mit fernöstlichen Weisheiten angereicherten Leitungscoachings bezieht. Anders als die auf Konfrontation, ja im Zweifel sogar auf Spaltung zielenden Auftritte mancher Parlamentarier und ihre lautstarke Kommentierung durch das ganze Haus, wie es klimabewusste Partizipationsfachmänner wohl schaudernd bei Live-Übertragungen aus dem britischen Unterhaus miterleben müssen, soll außerhalb des Parlaments und gegen es ein ganz anderer Ton vorherrschen – einer, der sensiblen Gestalten Gelegenheit gibt, sich einzubringen, ohne mit Kritik rechnen zu müssen. Wo Bürgerräte sich zusammenfinden, entstünden dagegen „Inseln gemeinwohlorientierter Kooperation und Empathie“, mithin jener „geschützte Raum“, in dem allein „sich konstruktive und langfristig orientierte Lösungen für gravierende politische Probleme erarbeiten“ lassen. Die dort Versammelten führen nichts Böses im Schilde und sind weit davon entfernt, den Systemwechsel zu propagieren, im Gegenteil: Sie „informieren Politik und Verwaltung über reflektierte Einstellungen und Werte der Bürger*innen, die durch übliche Meinungsabfragen nicht zu ermitteln sind. Damit tragen Bürgerräte zur Steigerung der Legitimation politischer Entscheidungen bei.“ (14) Zusätzlich wirke „ihre zufallsorientierte Rekrutierung […] inklusiv“, womit man glaubt dem „Trend zur Resignation in prekären Bevölkerungsmilieus“ (15) begegnen zu können.
Im Frühjahr 2023 stellten die Fraktionen der Regierungskoalition und der Linken einen gemeinsamen Antrag zur Einsetzung eines Bürgerrates, dessen Titel allein schon Böses erahnen ließ: „Ernährung im Wandel: Zwischen Privatangelegenheit und staatlichen Aufgaben“. Er erhielt am 10. Mai die erforderliche Mehrheit, so dass man „mit den Vorbereitungen […] im Herbst richtig durchstarten“ (16) könne, wie die Bundestagspräsidentin Bärbel Bas (SPD) frohlockte. Anders als beim wenig ergiebigen Vorlauf im Jahr 2021, als ein Bürgerrat das im Nachhinein als zu abstrakt bezeichnete Thema „Deutschlands Rolle in der Welt“ besprechen sollte, setzen die Befürworter des aktuellen Projektes auf eine „konkrete Vorgabe an den Rat“, da „Ernährung […] ein echtes Bürgerthema“ sei, zu dem „jeder Mensch […] einen persönlichen Bezug“ (zeit.de, 11.5.2023) habe, so der für die FDP-Fraktion in puncto Bürgerrat zuständige Abgeordnete Stephan Thomae. Damit es nicht doch noch zum Aufstand der Schnitzelesser im Gremium kommt, wurden statistische Vorkehrungen getroffen, ganz anonym natürlich: Um ein realistisches Bild von der Mitte der Gesellschaft zu erhalten, sei im konkreten Fall bei der Auslosung der Teilnehmer neben den üblichen soziodemographischen Merkmalen ein zusätzliches Augenmerk auf den entsprechenden „Anteil der sich vegetarisch oder vegan ernährenden Personen an der Bevölkerung“ zu legen. Die Organisation obliegt dabei einer neu geschaffenen Stabsstelle in der Bundestagsverwaltung in Kooperation mit einem Zusammenschluss „spezialisierter Dienstleister“ (17), deren Aufgabe in der Begleitung und Erforschung demokratischer Beteiligungsverfahren besteht. Die Kosten für die Durchführung werden mit 1,5 Millionen Euro veranschlagt. Eine Rundumbetreuung ist also gewährleistet.
Brisant wurde die Sache mit den Räten vollends, nachdem Klimaschutzgruppen, vor allem Extinction Rebellion, die 2019 aufgrund der postkolonialen und klimabewegten Holocaustrelativierung von Roger Hallam, einem Gründungsmitglied der Organisation, in die Kritik geriet, (18) die Einsetzung von „Bürger:innenräten“ einforderten und die Letzte Generation als inoffizielle Nachfolgeorganisation von Extinction Rebellion gleich einen „Gesellschaftsrat“ für Deutschland. Die Pressesprecherin und Vernetzungskoordinatorin der Letzten Generation Aimée van Baalen sorgte in der „Hart-aber-Fair“-Sendung zum Thema „Letzte Abfahrt: Wie verändert die Klimakrise Alltag und Leben?“ für die nach Ansicht der Frankfurter Rundschau „lebendigste und irgendwie unterhaltsamste Talkshow“ (31.1.2023) seit langem. Der Unterhaltungswert muss wohl darin bestanden haben, dass van Baalen nicht etwa nur einen neuen Bürgerrat in Sachen Klima einforderte, sondern ihm als Koordinatorin der Fußtruppen gleich noch Exekutivgewalt zusprach.
Der Mitte 2021 mit seinem Abschlussbericht hervorgetretene „Bürgerrat Klima“, dessen festgehaltene Ergebnisse sich wie ein Wunschzettel zur Klimapolitik lesen und dessen Punkte die Teilnehmer natürlich per Mehrheitsvotum absegneten, zeige laut Letzter Generation eindrücklich auf, dass die Ergebnisse von der Bevölkerung weithin befürwortet würden. Dabei bezieht sich die Gruppe auf das Forschungsprojekt Planetary Health Action Acceptance Study der Universität Erfurt, bei dem „über 1.500 Personen zu ihrer Einstellung gegenüber Leitsätzen und Empfehlungen befragt“ wurden, „die zuvor im Bürgerrat Klima [...] erarbeitet worden waren.“ Demnach wollen zwei Drittel, „dass sie durch die Politik umgesetzt werden“, und auch seitens der Forscher wurde die Empfehlung ausgesprochen, „Parteien und Regierungsverantwortliche sollten sich auf diesen Bürgerwunsch berufen und die Leitsätze als Handlungsrichtschnur verwenden.“ (19)
Der von der Letzten Genration geforderte „Gesellschaftsrat“ unterscheidet sich vom Klimarat scheinbar kaum. Auch er soll sich „aus zufällig gelosten Menschen“ zusammensetzen, welche „die Bevölkerung Deutschlands nach Kriterien wie Alter, Geschlecht, Bildungsabschluss und Migrationshintergrund bestmöglich abbilden“ und hätte die Aufgabe, „in einem definierten Zeitraum die nötigen Schritte“ zu erarbeiten, wie „Deutschland bis 2030 die Nutzung fossiler Rohstoffe“ beenden werde (20).
Die Methoden, wie diesem Rat zu öffentlicher Präsenz verholfen werden soll, sind dagegen etwas unorthodox. Da es schwierig wird, auch solche Bevölkerungsgruppen zu erreichen, die „sonst eher als ‚politikfern‘ bezeichnet werden und auch jene, die kritisch gegenüber den im Gesellschaftsrat behandelten Themen sind“, solle schon vor Einberufung eines Rates „in TV-Brennpunkten […] und auf den Titelseiten der Zeitungen“ für dessen Tätigkeit geworben werden. Diese mediale Begleitung werde für Spannung sorgen und „das ganze Land fiebert mit, was der Rat bespricht.“ (21) Zu den eigentlichen Beratungen „erfolgt eine ausgewogene Information der Teilnehmer:innen bzw. Gesellschaftsrät:innen durch neutrale Expert:innen […], so dass ausreichende, fachliche Kompetenz für generelle Entscheidungen gewährleistet ist.“ (22) Die Ergebnisse würden dann in einem Gutachten zusammengefasst und der Bundesregierung übergeben.
Die Letzte Generation weiß natürlich, dass die ersehnte radikale Umsetzung der Klimaziele auch der beste Gesellschaftsrat nicht verwirklicht, weil „unsere demokratischen Verfahren […] für einen angemessenen und sozial gerechten Umgang mit der Klimakrise offenbar nicht ausreichend“ sind. Die Gruppe nimmt das nicht etwa resignativ hin, sondern fordert die Regierung ultimativ auf, Maßnahmen zu ergreifen, die ohne die Ausrufung von Neuwahlen dafür sorgen, dass „die Macht der 1 % hin zu den 99 % wandert“.
Die Regierung müsse öffentlich versprechen, dass sie „die mit den erarbeiteten Maßnahmen verbundenen Gesetzesvorhaben in das Parlament (einbringt). Wir fordern außerdem, dass die Regierung, die für die Maßnahmen und Gesetzesvorhaben nötige Überzeugungsarbeit im Parlament leistet und dass sie öffentlich zusagt, nach Verabschiedung der Gesetze diese in einer beispiellosen Geschwindigkeit und Entschlossenheit umzusetzen.“ Das klingt nicht nur nach Nötigung eines Verfassungsorgans, dies ist auch als solche intendiert. Anders als die Verlautbarungen der längst verblichenen K-Gruppen, die jenen der Letzten Generation zumindest im Duktus ähneln und die diese mit der kindischen Drohung versahen, dass die Arbeiterklasse bei Nichterfüllung ihrer Forderungen entschlossen auf deren Umsetzung drängen werde, verfügen die Klebeexperten über wirkliches Drohpotenzial: Statt die Regierungsmacht, wie irgendwelche K-Gruppen oder die Möchtegern-Putschisten um den Fürsten zu Reuß, will die Letzte Generation lediglich die Etablierung eines rigiden Maßnahmenstaates, der auf Wahlen oder das politische Mandat pfeift, weil er das Volk hinter sich zu organisieren weiß. Für ein stillschweigendes Einvernehmen von Klimaaktivisten und Staat spricht bereits heute, dass eine kriminelle und von Klima-Lobby-Gruppen finanziell unterstützte Organisation, die Straftaten öffentlich begeht und dazu nicht minder öffentlich aufruft, weitgehend gewähren kann und pflichtvergessene Richter, die auch gegen notorische Wiederholungskleber keine Haftstrafen verhängen, nicht nach dem Disziplinarrecht gemaßregelt werden. Die Propaganda für Klimaschutz als Massenverarmungsprogramm trifft als attraktive Idee auf einen Staat und sein politisches Personal in der ökonomischen Krise. Vorläufig soll nach dem Willen der kaum 1.000 Aktivisten zählenden Letzten Generation und ihrer weit zahlreicheren Sympathisanten ein Doppelstaat für die „beispiellose Geschwindigkeit“ bei der Durchsetzung unpopulärer Maßnahmen sorgen. Dessen delegitimierte und entmachteten Institutionen sind angehalten durchzusetzen, was die imaginierten 99 Prozent aller Deutschen in ihren Räten beschließen. „Keinerlei Zweifel“ an diesen Phantasie-Zahlen, aber auch an den von als seriös geltenden Institutionen dauernd ermittelten satten Mehrheiten für eine Klimapolitik, die lediglich das Versprechen bereithält, den Enkeln eine grüne Welt zu hinterlassen, in der alle den Gürtel kapitalkonform enger zu schnallen haben, dürfen geltend gemacht werden, wenn das Volk spricht. „Der Gesellschaftsrat stärkt den gewählten Gremien den Rücken für eine entschiedene Klimapolitik,“ denn die Teilnehmer des Rates lieferten, im Gegensatz zu Parlament und Regierung, unbeeinflusst „von Interessensgruppen, Lobbyverbänden und medialen Scheindiskursen“, „Entscheidungs- und Gestaltungsgrundlagen, für die keinerlei demokratische Zweifel geltend gemacht werden können“. (23) Alles weiter regeln die Klimakleber.
Dieses Konzept blieb natürlich nicht ohne Gegenrede. Noch in der Sendung „Hart aber Fair“ widersprach der stellvertretende Fraktionsvorsitzende der FDP im Bundestag Konstantin Kuhle der Aktivistin van Baalen mit den Worten: Die „Entscheidungen in Deutschland trifft der Deutsche Bundestag, weil er demokratisch durch Wahlen legitimiert ist, und zwar von der ganzen Bevölkerung. Sie können nicht Leute auslosen und die mit der Macht ausstatten, über das Wohl und Weh des ganzen Landes zu entscheiden. Das ist undemokratisch“ und würde „dem Willkürstaat Tür und Tor“ (welt.de, 31.1.2023) öffnen. Van Baalens Einlassungen seien nach Ansicht des Focus online-Redakteurs Christian Böhm gar „ein Fall für den Verfassungsschutz“, da die Letzte Generation damit „nicht weniger als die Abschaffung der parlamentarischen Demokratie“ (focus.de, 3.2.2023) fordere. Im Nachgang wurde jedoch z.B. beim Redaktionsnetzwerk Deutschland darüber diskutiert, inwieweit ein solches Gremium eine „Innovation für die Demokratie“ darstelle oder ob sich Deutschland damit auf den „Weg in die Rätedemokratie“ (rnd.de, 1.2.2023) begebe.
Vorsichtshalber bringen die Klimaaktivisten ihre Forderung nach Abschaffung des politischen Systems mit einer staatstragenden Beschwörung des Grundgesetzes (24) vor. Sie propagieren die Diktatur des Gesellschaftsrats als von der Klimakrise diktierte und vom Bürgerrat verkündete Neutralisierung der Blockierer in der Regierung, die im Bündnis mit den Wohlhabenden unsere Zukunft verspielten. Die politische Klasse hätte den „Gesellschaftsvertrag […] gebrochen“, indem sie „und das reichste 1 Prozent am Kurs der Klimavernichtung festhält“ (25) und so die Interessen der Mehrheit missachte.
Einwände, Rücksichten oder Umwege können nicht zugelassen werden, und so geht es auch nicht um die Verluste, die auf dem Weg zum Ziel eintreten könnten. Die Letzte Generation macht sich nicht die Erarbeitung von Konzepten gegen den Klimawandel zur Aufgabe, die die Regierung ja längst vorgibt, sondern drängt allein auf ihre politische Durchsetzung. Sie lässt sich dabei weder vom Unmut über Habecks Neuregelung des Gebäudeenergiegesetzes noch über das gescheiterte Bürgerbegehren zum Volksentscheid „Berlin 2030 Klimaneutral“ vom März 2023 irritieren. Organisationen wie die Letzte Generation versuchen ein allgemeines Krisenempfinden bei ihrem akademischen Zielpublikum klassenspezifisch zur Klimafrage umzudeuten und zielen damit schlussendlich auf eine Expertokratie ab.
Mit der Verwendung des Wortes Räte wird eine libertäre Tradition angerufen, ohne jedoch den geringsten Bezug zu Methoden und Zielsetzungen der historischen Arbeiterräte aufzuweisen, die der Mehrung von Freiheit und Eigentum in einer versöhnten Gesellschaft verpflichtet waren. Bezeichnenderweise gerät die Letzte Generation, die bisher nur wegen ihres gegen Autofahrer und Fluggäste gerichteten Aktivismus’ angefeindet wird, nicht mit ihren autoritären Zielen in Misskredit. Im Gegenteil erfährt sie besonders von der SPD und mehr noch den Grünen nahestehenden Medien und Experten beständig Respektsbekundungen für ihre Konsequenz und Radikalität, also ihre Rücksichtslosigkeit.
Das autoritäre Bekenntnis wird nicht nur in libertärer Verpackung geliefert, sondern bildet auch einen Aktionismus aus, der mit einer Verherrlichung des Selbstopfers (26) zu höheren Zwecken einhergeht. Diese Anleihen beim todesverfallenen Frühchristentum oder bei der heroisch gemeinten, in Wirklichkeit einen Märtyrerkult begründenden Behauptung, Revolutionäre seien lediglich Tote auf Urlaub, sind schon deshalb unverzichtbar, weil die Ziele der Bewegung noch nicht einmal vage von einer utopischen, menschheitsbeglückenden Hoffnung getragen sind – und sei es, wie bei den frühen Christen wenigstens für das Leben nach dem Tod. Mehr als eine „klimaasketische Läuterung“ (nzz.ch, 8.2.2023) zur Sicherung des Überlebens der Gattung ist nicht im Angebot. Stattdessen wird die Gemeinde in Ton und Inhalt auf die absolute Unterwerfung unter eine trostlose Realität ohne Erlösung eingeschworen, die man als die Unterwerfung unter die vom Kapitalverhältnis in der Krise gestiftete gesellschaftliche Realität zu übersetzen hätte: „Wenn wir die klimawissenschaftliche Realität anerkennen, müssen wir bis 2030 dem Zeitalter fossiler Rohstoffe ein Ende bereiten. Das geben nicht wir vor, sondern die physikalische Realität.“ (27)
Mario Möller / Sabine Schulzendorf (Bahamas 92 / 2023)
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