Editorial 93
Wer Konterrevolution sagt, wie die Redaktion Bahamas auf dem Titel dieser Ausgabe, muss einen positiven Bezug zur Revolution haben. Das meint nicht nur, dass sich die Befreiung von Nöten unter kapitalistischen Herrschafts- und Ausbeutungsverhältnissen nicht verwirklichen lässt und auch nicht nur, dass die Befreiung von materieller Not das Unglück nicht aus der Welt schafft. Auch wenn etwas anderes als die Alternative zwischen mehr oder immer weniger erträglichen Reproduktionsbedingungen und zwischen mehr oder immer stärker beschnittenen Möglichkeiten, sich wenigstens privat unreglementiert seinen Vorlieben zu widmen, nicht in Aussicht steht: Das Wissen, „dass alle Verhältnisse umzuwerfen (sind), in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist“, sollte den Interventionen anzumerken sein und zwar nicht durch ermüdende Bekenntnisse zum Kommunismus. Die Beschäftigung mit dem, was Befreiung sein könnte, gehört zu den privaten Vorlieben, denen nachzugehen nur möglich ist, wo noch die Ahnung besteht, dass nicht unausweichlich alles so bleiben müsse im eigenen Leben, weil die es reglementierenden Zwänge keinem Naturgesetz folgen. Allerdings: Das individuelle private Unglück vermag solche kritische Beschäftigung nicht zu lindern, auch nicht als Sublimierungsleistung, die sie immer auch ist. Der immer wieder an die Redaktion herangetragene Wunsch, sie sollte doch das revolutionäre Ziel benennen und die jeweilige ganz persönliche Beschädigung, die sein Ausbleiben bedeutet, dabei nicht aus den Augen lassen, führt zu nichts Gutem. Am Ende solchen Fragens bleiben nur Lebensreform oder alternativ ein jakobinisch gestimmter Menschenhass, der sich an Phrasen begeistert, in denen das „Fürstenblut knüppelhageldick“ fließt, wie es im Heckerlied von 1848 heißt.
Die Redaktion Bahamas spricht deshalb von einer antikolonialen Konterrevolution gegen die Juden und ihren Staat. Als Revolution kann nämlich nur gelten, was Juden beginnend mit der Entstehung der zionistischen Bewegung bis zum Hamas-Krieg verwirklicht haben. In dieser Staatsgründung und Selbstbehauptung als Staat scheint alles verfremdet wieder aufzutauchen, was man zu kennen glaubt und zu verwerfen gelernt hat: Nation, Grenzen und exklusives Staatsvolk. Was sollte daran revolutionär sein? Nur die Kleinigkeit, dass dieser Staat als „Reaktion auf den Verrat an Aufklärung und Weltrevolution“ entstanden ist, der „nicht nur, (ein) Notwehrversuch gegen den Nazifaschismus und Asyl“ ist, sondern sich auch im Verhältnis von Staatsgewalt und Gesellschaft als eigenartig staatskritisch erweist. Denn „der jüdische Nationalismus ist der Egoismus von Leuten, die nicht mehr an die unsichtbare Hand glauben können, die den Egoismus ins Gemeinwohl übersetzen würde.“ Diese Erwägungen der verstorbenen Genossen von der Initiative Sozialistisches Forum aus dem Jahr 2002 haben von ihrer Gültigkeit nichts eingebüßt. Die Volksbewaffnung ist in Israel genauso Alltag wie die Abwesenheit martialischer Heerschauen; das Volk ist ost- bzw. westeuropäisch, orientalisch und sogar afrikanisch, so dass sich die ihm Zugehörigen vor allem negativ bestimmen lassen: als wegen ihres Jüdisch-Seins Verfolgte. Jedoch übersieht die Fixierung auf die Verfolgungsgeschichte, dass diese ohne die Herausbildung eines jüdischen Beharrungswillen, der auch den Zionismus erst möglich gemacht hat, also ohne dezidiert positiven Bezug auf Judentum und Jüdischsein unmöglich hätte überdauern können. Die Nachkommen der Verfolgten haben sich selbstbewusst ihre Welt eingerichtet und wollen sich nicht bloß als Verfolgte bestimmen lassen. Israel ist dabei gerade nicht hoffnungslos provinziell, sondern der Vorschein von Weltgesellschaft im Kleinen. Gerade deshalb wird dem Land von Leuten unterstellt, die alles daran setzen, das wenige, was von Gesellschaft noch geblieben ist, zu zerstören, es vollziehe an den Palästinensern in unerbittlicher Weise, was Nationalismus immer schon ausgemacht hätte und ihnen in zwei Jahrtausenden angetan wurde.
Der zionistische Staat ist in die Rolle des einzigen mit Waffengewalt ausgestatteten Gegners des Volkstumsnationalismus gedrängt worden und muss seit seiner Gründung mit dieser Hinterlassenschaft der antifaschistischen Koalition gegen den Nationalsozialismus einen Kampf ums Überleben führen. Fast zeitgleich mit dem Sieg über Deutschland wurde Entkolonialisierung zur Ideologie, die seither ungebrochen zum nationalsozialistischen Endsieg der Völker, Ethnien und Communities aufruft. Sein Programm hat der Antikolonialismus nicht zuerst aus dem Islam oder den Herrschaftsideologien der vom wirklichen Kolonialismus „befreiten“ Völker bezogen, sondern er radikalisierte lediglich den gesammelten Wahnsinn, den Realsozialismus und westlicher Kapitalismus den neuen Herren zur Selbstverständigung frei Haus geliefert, bzw. in Form der Vereinten Nationen als Plattform zur Verfügung gestellt haben. Damit nach 1948 noch dem letzten Despoten klar wurde, wohin die Reise geht, wurde Israel, das Land der Überlebenden, genau diesen Vereinten Nationen als Objekt der Selbstfindung für den gemeinsamen Hass präsentiert und aus aufgehetzten Fellachen ein veritables Volk konstruiert, dessen Leiden schon 1948/49 genozidale Ausmaße angenommen hätten.
Von Konterrevolution und damit verbunden dem verratenen Versprechen auf Befreiung im Weltmaßstab kann nur gesprochen werden, wenn ganz einseitig nicht von, sondern für Israel die Rede ist. Die Behauptung, es gebe zweierlei Israel, das rechte, zionistische und das „andere“, vermag noch nicht einmal zu erfassen, was sich dort beginnend mit Ten Seven ereignet. Eine ganze Bevölkerung, unterstützt von arabischen Mitbürgern in Haifa oder Beduinen auf dem Golan und im Negev teilt durchaus die Devise des ungeliebten Premierministers, dass die Hamas vollständig vernichtet werden müsse. Dazu war keine Massenveranstaltung zur Einstimmung der Bevölkerung auf harte Zeiten nötig und auch nicht das feierliche Versprechen, nunmehr über die Parteigrenzen hinweg Burgfrieden halten zu wollen. Gestritten wird weiter, genauso wie – Stand Mitte Dezember 2023 – am Kriegsziel festgehalten wird. Das ist Notwehr und zugleich das trotzige Bekenntnis zum eigenen Staat, der wegen des Verrats an der Aufklärung und der Emanzipation gegründet worden ist, ohne je ein militaristischer oder chauvinistischer gewesen zu sein.
Israel ist kein Reich der Glückseligen, die Landesgrenzen vermögen den Import postkolonialen Denkens nicht aufzuhalten und niemand verwehrt den zahlreichen, den postcolonial studies verpflichteten Wissenschaftlern postzionistische Phrasen zu dreschen. Vor allem ist das Land klein und in mancher Hinsicht eng. Die dauernde Bedrohung, der lange aktive Militärdienst und die Reservistenzeit danach sind vielen lästig wie die manchmal doch zu familiäre Nähe, die einem Verwandte, Freunde und Nachbarn zukommen lassen – von der schwierigen wirtschaftlichen Lage ganz abgesehen. Die dauernde Bedrohung, ergänzt um eine postkoloniale Ideologie, die sie als selbstverschuldet erscheinen lässt, und die wirklichen Härten des Lebens zermürben und führen bei vielen zur zeitweiligen oder vollständigen Auswanderung nach Berlin, New York oder London. Dort haben sich viele Israelis gegen die Nötigung, Israelfeind sein zu müssen oder als Jude aus der Hipster-Community ausgeschlossen zu werden, jahrelang nicht nur nicht gewehrt, sondern häufig noch den Stichwortgeber fürs Ressentiment abgegeben. Wie viele dieser Israelkritiker aus der neuen Diaspora nach Ten Seven grundsätzlich erschüttert sind, ist unbekannt. Angst muss nicht zur Einsicht führen, sie kann den einmal eingeschlagenen verhängnisvollen postkolonialen Weg sogar noch radikalisieren. Wo Udi Raz mit seinen höchstens 30 Jahren als die Berliner Widerstands-Ikone mit israelischen Wurzeln und selbstredend queerer Identität sich pünktlich zum Hamas-Massaker die Verbreitung der Propaganda der Judenmörder an der Seite autochthoner Yallah-Schreier zur Lebensaufgabe gemacht hat, darf auch die 87-jährige New Yorker Psychologin und „feministische Ethikerin“ jüdischer Herkunft, Carol Gilligan, nicht fehlen, die der Haaretz mitteilte, „dass das, was sich am 7.10.2023 ereignet hat, die israelische Männlichkeit gedemütigt hat. Die Antwort ist Gewalt.“ Für die Gewalt gegen die Mörder spricht sich anscheinend auch nach über zwei Monaten Krieg die Mehrheit der Israelis aus und hält es mit den als Hardliner gescholtenen Regierungsmitgliedern, Generälen und anderen Kritikern des Postzionismus, ohne ihnen bedingungslose Gefolgschaft zu versprechen.
Die Redaktion Bahamas hat im Frühsommer 2001 unter dem Eindruck der sogenannten Al-Aksa-Intifada den Gegner Israels noch als die „palästinensische Konterrevolution“ ausgemacht. Das war zwei Monate vor dem Angriff auf die Twin Towers, der alles verschoben hat. Auch vor diesem ersten ganz großen Schrecken ist den Redakteuren und Autoren nicht entgangen, dass der Angriff auf Israel zwar von palästinensischen, arabischen und anderen moslemischen Tätern ausgeht, die aber von einer antisemitischen Weltgemeinschaft angestiftet werden, während zeitgleich die Bewohner der westlichen Länder von den zumeist nichtjüdischen Norman G. Finkelsteins zuverlässig mit Propaganda beliefert wurden. Nur: Weder das Ausmaß der Gewalt war zwei Monate vor dem Angriff auf Amerika, der mindestens so sehr einer auf die Juden war, ermessbar, noch die weltweite Zustimmung, die sich etwas zeitversetzt einstellte. Die Agitation gegen jene, die damals wie heute dem „Beruf Palästinenser“ nachgehen, erwies sich zwischen Frühjahr 2000, als die Bahamas ihre Kampagne gegen die Freunde Palästinas begann, und dem August 2001 als zielgenau, weil ins Visier der Antiimperialismus genommen wurde, der als Ersatz für die 1918/19 verratene Weltrevolution nach 1945 zuerst im Machtbereich der Sowjetunion etabliert wurde, die auf Seite der unterdrückten Völker stehend, sogenannte Zionisten liquidierte. Man darf die in den Jahren 1948 bis 1953 wegen Kosmopolitismus ermordeten jüdischen KP-Funktionäre, jiddisch schreibenden Schriftsteller und jüdischen Ärzte nie vergessen.
Zu der Zäsur, die der elfte September 2001 ausmacht, gehört auch das Verschwinden jener Revolutionäre, die ihren Verrat an der Befreiung mit dem doktrinären Verweis auf Klassiker begründeten, deren Schriften zur revolutionären Praxis viel späterer Jahre in eklatantem Widerspruch standen. Das hat sie angreifbar gemacht und zwang sie, sich der Kritik zu stellen, soweit diese in den engen Grenzen des doktrinären Praxis-Fetischismus formuliert wurde. Dieses Festhalten an einem „wissenschaftlichen Sozialismus“ ermöglichte es Außenstehenden erst, wenigstens viele der parteilichen aber irritierten Freunde des Konzepts Volkskampf unter Verweis auf die auch von ihnen hochgehaltenen Koryphäen Marx oder auch Rosa Luxemburg dazu zu zwingen, ihre bis dahin solidarisch genannten Einwände gegen Einzelphänomene zugunsten unversöhnlicher Kritik an der antiimperialistischen „Generallinie“ aufzugeben.
Den Titel der im Frühsommer 2001 erschienenen Bahamas Nr. 35, „Für Israel – gegen die palästinensische Konterrevolution!“, wiederzuverwenden und die Zuschreibung „palästinensisch“ durch „postkolonial“ zu ersetzen, trägt dem Umstand Rechnung, dass ein diffuser Geist vom Campus sich im globalen Süden und im weißen Westen festgesetzt hat, dem mit Argumenten kaum mehr beizukommen ist. Die palästinensische Sache bestand zwar immer ausschließlich darin, möglichst viele Juden zu ermorden und immer schon haben sich linke Mordversteher, auch solche in Rang und Würden, zuverlässig eingestellt. Während man aber im Einverständnis mit Israel die fürchterlichen Details der Foltermorde an den israelischen Sportlern 1972 im Münchener olympischen Dorf jahrzehntelang geheim hielt, weil man einem internationalen Aufschrei vorbeugen wollte, luden Wochen nach dem 7.10.2023 die israelischen Botschaften in den westlichen Ländern die Presse zur Präsentation von Video-Material ein, das in Auszügen dokumentierte, was an diesem Tag vorgefallen ist – als ob es nicht jeder gewusst hätte. Die grenzenlose Verrohung, die im Zeichen des Postkolonialismus sich vollzieht, kann man nicht der Hamas allein anlasten, die mit ihrer Untat bewiesen hat, dass es keine Grenzen und kein Halten mehr gibt – und zwar im Westen.
Frühere Aktivitäten sind im Aktuell-Archiv aufgeführt. Dort gibt es auch einige Audio-Aufnahmen.
Alle bisher erschienenen Ausgaben der Bahamas finden Sie im Heft-Archiv jeweils mit Inhaltsverzeichnis, Editorial und drei online lesbaren Artikeln.