Titelbild des Hefts Nummer 93
Für Israel
gegen die postkoloniale Konterrevolution
Heft 93 / Winter 2024
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Tödliche Illusionen

Koexistenz mit der Hamas ist ebenso unmöglich wie Frieden mit den Palästinensern

Das Titelbild der Bahamas-Ausgabe Nr. 79, die im Sommer 2018 erschien, ist schlecht gealtert. Zu sehen sind Palästinenser bei den seit 2018 immer wieder stattfindenden Zusammenrottungen an der Grenze des Gazastreifens, die heftigste davon mit etwa 60 Toten am 14. Mai 2018, als Protest gegen die Eröffnung der amerikanischen Botschaft in Jerusalem. Da die IDF damals auf den Versuch, die Grenze zu durchbrechen, vorbereitet war und im Vorhinein gewarnt hatte, dass jeder erschossen werde, der auch nur den Versuch unternähme, blieb die Grenze geschlossen. „No Pasarán!“ und ein Logo der IDF zierten das Titelbild, das damit in einem schlechten Sinn an ein antideutsches Vertrauen auf die Stärke Israels und insbesondere der IDF, aber auch der Geheimdienste Mossad und Schin Bet anschlussfähig war. Aber auch in Israel scheint man geglaubt zu haben, dass die Mordbrenner nicht durchkommen werden. Dieses blinde Vertrauen, das seinen Ausdruck auch darin findet, dass junge, überwiegend linke und friedfertige Menschen nur fünf Kilometer von der Grenze zum Gazastreifen entfernt eine Elektroparty feierten, ist am 7. Oktober zerstört worden.

Aufweichen der Grenzsicherung

Dass israelische Stärke und Überlegenheit nie derart groß sind, dass man sich auf sie blind verlassen kann, sondern immer wieder gewaltsam aufrechterhalten werden müssen und permanente Wachsamkeit benötigen, dürfte zwar grundsätzlich allen klar gewesen sein. Zu den entscheidenden Problemen gehört aber das Vertrauen in die defensiven Maßnahmen gegen die Mörder in Gaza, die eine rechtzeitige Entwaffnung verhinderten. Einem anderen entscheidenden Irrtum, der sich auf die Bevölkerung in Gaza bezieht, wurde in der Bahamas 79 jedoch entschieden widersprochen. Gab es anlässlich der Proteste am Grenzzaun bis weit in israelsolidarische Kreise viel Verständnis für die angeblich so elende Lage der Palästinenser in Gaza und ihren „Protest“ am Grenzzaun, kann heute nicht nur kein Zweifel mehr darüber bestehen, warum es ihn geben muss, sondern auch darüber, was der Zweck der von der Hamas orchestrierten „Demonstrationen“ immer war: das Aufweichen und die Delegitimierung der israelischen Grenzsicherung sowie das Ausspionieren der Schwachstellen. Man muss diese Aufmärsche als Bestandteil der Vorgeschichte des 7. Oktober insofern begreifen, als die angeblich normalen und von ihrer Lage so verzweifelten „Zivilisten“ und „Demonstranten“ es waren, die, sobald der Grenzzaun durchbrochen war, massenhaft nach Israel einsickerten, um Juden zu quälen, zu foltern und zu massakrieren. Fantasien eines friedlichen Marsches Zehntausender auf den Grenzzaun, wie sie damals in dezidiert proisraelischen Medien als in diesen Protesten angeblich angelegt herbeigeredet wurden, haben sich vor den Ereignissen nicht nur restlos blamiert. Indem sie die gewaltsame Grenzsicherung gegen sogenannte Zivilisten infrage stellten, sind sie der propagandistischen Vorbereitung des Massakers durch die Hamas und ihre internationalen Verbündeten auf den Leim gegangen.

Weniger relevant sind demgegenüber die Fragen des operativen Versagens der israelischen Sicherheitskräfte. Wie bei Überraschungsangriffen vorher, Pearl Harbour, Unternehmen Barbarossa, Yom Kippur, 11. September usw., wird es keineswegs an Hinweisen gemangelt haben, sondern daran, diese zu verstehen bzw. verstehen zu wollen. Wie Informationen über den Feind gedeutet werden, hängt von den Grundannahmen über ihn ab, und auch wenn es wichtig ist, herauszufinden, wer was wann bereits wusste und warum daraus nicht die richtigen Schlüsse gezogen und keine konkreten Gegenmaßnahmen ergriffen wurden, sind es jene falschen Annahmen, die dazu führen, dass die Informationen nicht richtig, sondern im Sinne der Bestätigung dessen, was man irrigerweise zu wissen glaubte, interpretiert wurden. Auch die üblichen Schuldzuweisungen zwischen Geheimdiensten, Militär und Politik sind wenig relevant. Wichtig ist vielmehr, dass der Angriff zeigt, wie prekär die Lage und Existenz Israels nach wie vor ist und dass es sich weder Fehler noch Schwächen erlauben kann. Insofern stellt sich vor allem die Frage nach den tödlichen Illusionen, die den schlimmsten Massenmord an Juden seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs möglich werden ließen und die Voraussetzung dafür waren, dass die operativen Fehler passieren konnten.

Um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen, sei bemerkt, dass die Sehnsucht vieler Israelis nach einem Leben in Frieden und einer Koexistenz mit den Palästinensern, die der tiefere Grund der strategischen Irrtümer ist, ausdrücklich nicht zur Kritik steht. Diese Sehnsucht ist die aller zivilisierten Menschen. Daraus aber entweder den Schluss ziehen zu wollen, dass dergleichen mit den Palästinensern auch möglich sein müsse, oder im Vertrauen auf die eigene Stärke davon auszugehen, dass sie kein Interesse an einer offenen Konfrontation haben könnten, ist ein Wunschdenken, das sich Israel in Anbetracht des Vernichtungswillens seiner Feinde nicht erlauben kann. Dabei wäre der für die meisten Europäer heute noch selbstverständliche Luxus, sich nicht selbst bewaffnen und die Gesellschaft nicht militarisieren, keinen langen Dienst ableisten und sich nicht Aug’ in Aug’ einem hemmungslos brutalisierten Feind gegenüberstellen zu müssen, den Israelis ausdrücklich zu wünschen. Dass dieser Wunsch mit der Wirklichkeit nichts zu tun hat, kann ihnen am wenigsten zum Vorwurf gemacht werden. Dieser ist allein an die Palästinenser und ihre zahlreichen globalen Unterstützer zu richten, zu denen die EU ausdrücklich zu rechnen ist. Die israelische Gesellschaft ist in ihrer überwältigenden Mehrheit ohnehin fähig und willens, die richtigen Schlussfolgerungen zu ziehen – was man von fast allen anderen Ländern der Welt leider nicht behaupten kann. Diejenigen, die Israel jahrelang davon abgehalten haben, die richtigen Gegenmaßnahmen zu ergreifen, hätten sich nicht darauf zu beschränken, wohlfeil das Massaker der Hamas zu verurteilen, was keine Erkenntnis, sondern eine Selbstverständlichkeit ist. Sie hätten ihre Politik vis-à-vis Iran, Libanon und den Palästinensern radikal zu ändern und sich unmissverständlich an die Seite Israels zu stellen.

Scheitern des Appeasement

Der 7. Oktober hat verschiedene politische Paradigmen nicht nur infrage gestellt, sondern zerstört. An erster Stelle eines, das keineswegs nur Europäer wie Angela Merkel, Emanuel Macron und Barack Obama geglaubt haben, sondern auch Teile der israelischen Gesellschaft: dass die Islamische Republik Iran und ihre Proxys Hamas, Hisbollah oder Huthi eingedämmt, besänftigt oder irgendwie sonst appeast werden könnten, obwohl diese nicht einfach nur verkünden, dass alle Juden umgebracht werden sollen, sondern das auch betreiben, wo immer sie die Möglichkeit dazu haben. Anders als mancher es glauben wollte, war die Hamas keineswegs damit zufrieden, in Gaza die eigene Machtbasis zu konsolidieren und sich am Geld aus Katar, Europa, den USA und dem Rest der Welt zu bereichern. Dass sie es mit einer längeren Phase der relativen Zurückhaltung geschafft hat, auch in Israel beträchtliche Teile der Sicherheitsorgane davon zu überzeugen, dass sie derzeit nicht auf Konfrontation aus sei, war für den mörderischen Erfolg des Angriffs maßgeblich. Obwohl sich bei den Palästinensern seit dem Pogrom in Hebron im Jahr 1929 nichts getan hat, die viehische Brutalität der Al-Aqsa-Intifada noch in Erinnerung sein müsste und die Hamas aus ihren Absichten nie ein Hehl gemacht hat, wurden Güter wie Wasserrohre, Beton, Fahrzeuge usw. geliefert, die Bevölkerung in Gaza mit Lebensmitteln, Wasser und Strom versorgt und Tausende hatten sogar eine Arbeitserlaubnis in Israel, verließen also täglich das vermeintlich „größte Freiluftgefängnis der Welt“ (deutsche Medien), um den Feind auszuspionieren und den Angriff vorzubereiten.

Der Yom-Kippur-Krieg ist für Israel deswegen so bedeutsam, weil es den Feinden gelungen war, zuerst und überraschend zuzuschlagen. Die militärische Überlegenheit, wie sie im offensiv geführten Sechstagekrieg gezeigt wurde, werde sie schon abschrecken, so war die Denkweise, die beinahe zur Katastrophe geführt hat. Als Fehler muss nach dem 7. Oktober angesehen werden, dass viele Israelis unter internationalem Druck genau 50 Jahre später diese fatale Sichtweise wieder adaptiert hatten. Zumindest rückblickend sollte klar sein, dass auf rein defensive Maßnahmen wie einen nicht besonders stabilen, alarmgesicherten Zaun, das Raketenabwehrsystem Iron Dome, das Aufspüren von Tunneln auf israelisches Gebiet sowie gelegentliches Erwidern des Raketenfeuers kein Verlass sein kann, wenn man es mit Menschen zu tun hat, die jeden Juden umbringen wollen, den sie finden können. Kein technisches Abwehrsystem und kein Geheimdienst ist unfehlbar; es wird immer Tage geben, an denen die Besatzung an der Grenze aufgrund von Ferien, Feiertagen, Sabbat, anderer Bedrohungslagen usw. schwächer bewacht ist als sonst. Der einzige Weg, Ereignisse wie am 7. Oktober zu verhindern, hätte darin bestanden, sich über die Hamas und ihre Ziele auch während einer relativen Hudna keine Illusionen zu machen und etwa die Kämpfer, die jenseits der Grenze unter den Augen der Israelis an einem selbstgebauten Modell die Erstürmung eines Kibbuz trainierten, bei solchen Trainings oder den regelmäßig stattfindenden Militärparaden gezielt zu liquidieren, bevor sie ihr Mordwerk überhaupt verrichten konnten.

Israels Maginot-Linie

Insbesondere das sehr teure Abwehrsystem Iron Dome hat in Bezug auf die israelische Militärstrategie eine äußerst zwiespältige Rolle gespielt. Einerseits wurden viele Leben gerettet und größere Schäden in Israel durch das permanente Raketenfeuer aus Gaza vermieden. Aber bereits wenige Jahre nach der Implementierung wurden in der israelischen Sicherheitsdebatte Vergleiche zur im Zweiten Weltkrieg nutzlosen Maginot- und zur im Yom Kippur-Krieg eher eine Belastung darstellenden Bar-Mev-Linie am Suezkanal gezogen. Diese Befestigungen hatten nicht nur zur Folge, dass Mittel der offensiven Kriegsführung vernachlässigt wurden, da sie das Militärbudget außerordentlich belasteten: Vor allem erzeugten sie ein Gefühl der Sicherheit, das den realen Gegebenheiten nicht entsprach. Der überraschende Angriff durch die Ardennen und die weitgehende Umgehung der Befestigungen führte dazu, dass die französische Armee 1940 innerhalb von 46 Tagen kapitulieren musste. Für den ehemaligen israelischen General Meir Finkel stellte sich jedenfalls bereits 2015 die Frage, ob der Iron Dome die israelische Maginot-Linie sein könnte: „Alle Unzulänglichkeiten der Maginot-Linie – astronomische Kosten zulasten offensiver Mittel, Schaffung falscher Sicherheit und Verkümmerung des offensiven Denkens der Armee – könnten auch im Rahmen von Iron Dome auftreten.“ (1) Zu den offensichtlichsten Punkten, auf die das zutrifft, gehört die Erpressbarkeit Israels in Sachen Nachschub und Munition, die es dem Land auch in der aktuellen Notsituation nicht ermöglichen, die nötigen militärischen Maßnahmen ohne Unterstützung aus den USA durchzuführen.

Spätestens nach dem zweiten Golfkrieg von 1991, als Saddam Hussein Scud-Raketen auf Israel feuerte, gegen die sich die nur gegen massiven Widerstand der deutschen Friedensbewegung gelieferten Patriot-Abwehrraketen als nutzlos erwiesen, war klar, dass Israel eine eigene Abwehr gegen Raketen, insbesondere solche mit großer Reichweite entwickeln musste. Das Iron-Dome-System ist nur ein Bestandteil der israelischen Raketenabwehr, das dem Schutz gegen Kurzstreckenraketen dient. Und so nützlich, wichtig und in Anbetracht der weiteren Bedrohungslage durch den Iran und die Hisbollah, die über das bei weitem größte nichtstaatliche Raketenarsenal der Welt verfügt, eine technisch ausgereifte Raketenabwehr auch ist, hat sie dazu beigetragen, die Kernelemente der israelischen Militärstrategie zu untergraben. Diese basierten auf Abschreckung, frühzeitigem Erkennen der feindlichen Bewegungen und einem robusten Vorgehen bis zum Sieg auf dem Schlachtfeld. Iron Dome hat in den vorherigen Auseinandersetzungen mit Gaza dazu geführt, dass Israel sich damit zufrieden gegeben hat, ein paar Raketenstellungen der Hamas und anderer Gruppen zu zerstören und die Raketenangriffe auf „ein erträgliches Maß“ zu reduzieren. Gegen die Hisbollah hat es gar seit dem Krieg von 2006 überhaupt keine entscheidenden militärischen Aktionen mehr gegeben. Sowohl Hamas als auch Hisbollah konnten diese Zeit nutzen, ihr Waffenarsenal zu füllen, die Stellungen auszubauen, Kämpfer zu rekrutieren und die Herrschaft in Gaza bzw. Libanon zu festigen. Es ist somit eine Situation entstanden, in der in den Teilen Israels, die der Iron Dome eigentlich schützen sollte, heute ein Leben nicht mehr möglich ist. Das trifft eben nicht nur auf die Städte, Dörfer und Kibbuzim in unmittelbarer Nachbarschaft zu Gaza, sondern gerade auch auf die Städte im Norden Israels in unmittelbarer Nachbarschaft der schwer bewaffneten Hisbollah zu, deren Drohung mit einer Invasion nach Galiläa heute niemand mehr als bloßes Gerede abtun kann.

Kriegskabinett und Friedensverträge

Der 7. Oktober macht diese defensiven Strategien weitgehend obsolet und es musste ein Kriegskabinett unter der Beteiligung des Oppositionsführers und ehemaligen IDF-Generals Gantz einberufen werden, das mit Zustimmung der breiten Mehrheit der Israelis die Vernichtung der Hamas zum Kriegsziel ausrief und damit die Fehleinschätzung der vergangenen Gaza-Kriege korrigierte. Die waren auch unter dem Druck der Weltöffentlichkeit, aus diplomatischer Rücksichtnahme auf europäische und vor allem mit Israel in Frieden lebende, informell verbündete Staaten der Region, Ägypten und Jordanien und die durch die Abraham-Abkommen hinzugekommenen von Marokko bis Bahrain, zustande gekommen. Vor allem aber aufgrund mangelnder Rückendeckung aus den USA unter Obama und zur Befriedung der Antisemiten in der UN und weltweit, hatte Israel trotz massiver Raketenangriffe jeweils Waffenstillstand geschlossen, ohne eine ernsthafte Entwaffnung der Hamas auch nur im Ansatz erreicht zu haben. Premierminister Netanjahu trägt dafür, auch wenn Oppositionelle im eigenen Land, vor allem aber die Welt in ihrem Israelhass ihn dazu gedrängt haben, die innenpolitische Verantwortung. Dass sein Job zu den schwierigsten politischen Posten der Welt gehört und der Versuch, die oft extrem ausgetragenen innenpolitischen Auseinandersetzungen sowie die verschiedenen Forderungen unterschiedlichster Koalitionspartner in einem heterogenen Land unter einen Hut zu bringen, ungefähr jeden anderen Politiker nach kurzer Zeit wieder aus dem Amt herauskatapultiert hätte, gehört aber auch zur Wahrheit. Hinzu kommt, dass Israel zusätzlich wie kein anderes Land international unter Beobachtung steht und für jeden falschen Schritt, den ein Soldat setzt, in der UN unter Zustimmung bis Enthaltung praktisch der gesamten EU verurteilt wird. Israels Priorisierung von Diplomatie und Ausgleich, die Zurückhaltung im Einsatz militärischer Mittel, die die beiden Hauptpfeiler der Sicherheitspolitik seit 2005 gegenüber Gaza waren, sind objektiv gescheitert. Diejenigen, die nach dem 7. Oktober plötzlich Israels Recht auf Selbstverteidigung betont haben, bevor ihnen nach wenigen Tagen einfiel, dass Israel aber auch nicht übertreiben dürfe, hätten stattdessen einzusehen, dass das in einem kleinen Land, das eben, anders als Antisemiten glauben, nicht allmächtig ist, Vorwärtsverteidigung, Präventivschläge, gezielte Ausschaltung des Feinds beinhalten muss, bevor dieser zu stark wird. Genau deshalb muss das erhebliche Vernichtungspotential, das in Gaza nach knapp 20 Jahren palästinensischer Selbstverwaltung nicht zuletzt durch aktive Unterstützung aus Iran und Katar, aber eben auch aus Europa und den USA angehäuft werden konnte, nun zerschlagen werden.

Es kann davon ausgegangen werden, dass zumindest in israelischen Regierungs- und Sicherheitskreisen bekannt war, wer die Palästinenser und was ihre Ziele sind. Dennoch bestand das primäre diplomatische Ziel eher darin, mit Gesten des guten Willens die Weltöffentlichkeit oder zumindest Gesprächspartner bei internationalen Konferenzen davon zu überzeugen, dass nicht Israel der Aggressor ist, wodurch eben auch bedeutsame Erfolge wie die Abraham-Abkommen erzielt werden konnten, deren Tragfähigkeit sich im Zuge des Gaza­kriegs aber erst noch erweisen muss. Die Friedensabkommen, die Israel unter Vermittlung der Trump-Regierung und unter der Billigung Saudi-Arabiens mit den Vereinigten Arabischen Emiraten, Bahrain und später auch mit dem Sudan und Marokko schloss, die die bereits existierenden Friedensabkommen und Kooperationen mit Ägypten und Jordanien ergänzten, wurden in Europa in ihrer Bedeutung für die Region unterschätzt. Auch wenn Trump und seiner Regierung das Verdienst gebührt, die Verträge aktiv befördert zu haben, erfolgte die Annäherung zwischen Israel und den Saudis unter der Präsidentschaft Obamas und unter dem Druck des Iran-Deals. Da die Obama-Regierung, erinnert sei an die grauenvolle Kairoer Rede bereits am Anfang seiner Präsidentschaft, vom Nahen Osten keine Ahnung hatte und die Auffassung vertrat, dass eine Annäherung an die Feinde der USA und ihrer wichtigsten Verbündeten in der Region Frieden bringen werde, rückten die Staaten enger zusammen, die vom iranischen Hegemonialstreben bedroht sind.

Durch das Atomabkommen mit dem Iran und die damit einhergehende Lockerungen der Sanktionen sowie die Freigabe eingefrorener Auslandsfinanzen flossen Abermilliarden an das Assad-Regime, die Hisbollah, die Hamas und die Huthi-Rebellen im Jemen, die von dort aus Saudi-Arabien und das von ihm gestützte Regime attackierten. Die Aussicht auf einen Iran, der den Libanon, Syrien, den Jemen und die Palästinensergebiete de facto kontrolliert, war nicht nur Israelis und Saudis, sondern gerade auch Ägypten, Jordanien, Bahrain und den Vereinigten Arabischen Emiraten ein Graus. Nicht zuletzt diese verheerende Politik der USA führte erst in den blutigen syrischen Bürgerkrieg mit Hunderttausenden Toten und über 6 Millionen Flüchtlingen, weil die arabischen Staaten auch deswegen die islamistischen Rebellen in Syrien unterstützten, um das mit dem Iran verbündete Assad-Regime zu schwächen. Die Abwesenheit der USA als Hegemonialmacht und die Förderung des Iran hatten derart katastrophale Konsequenzen, dass es diejenigen arabischen Staaten, die in erster Linie an Machterhalt, Stabilität und guten Geschäften interessiert waren, an die Seite des einzigen Staates, der sich der iranischen Ausdehnung noch entschieden entgegenstellte, geführt hat.

Drahtzieher Iran

Dass es sich bei den Abraham-Abkommen um solche handelt, die auf gemeinsamen Interessen gegen das iranische Hegemoniestreben im Nahen Osten basieren und es dabei in zweiter Linie um finanzielle, technologische und ökonomische Interessen geht, muss keineswegs von Nachteil sein. Beziehungen, die auf einer äußeren Bedrohung basieren, können sich durchaus als stabil erweisen. Dennoch muss zur Kenntnis genommen werden, dass die Abraham-Abkommen wie der Frieden mit Ägypten und vor allem Jordanien keinesfalls auf Sympathie der jeweiligen Bevölkerungen mit Israel aufbauen, weshalb damit zu rechnen war, dass der Iran genau diese Schwachstelle der arabisch-israelischen Annäherung attackieren würde. Ermutigt haben dürfte das Regime, dass auf die iranfeindliche Trump-Regierung eine unter Biden folgte, die Obamas Atomdeal wieder aufnehmen wollte und an einer Ausdehnung der durch die verhasste Trump-Regierung initiierten Abraham-Abkommen kein Interesse zeigte. Für diesen Job kam von vornherein nur die Hamas infrage, da ein Angriff etwa der Schiitenmiliz Hisbollah, die ideologisch vom iranischen Regime und seinen Revolutionsgarden nicht zu unterscheiden ist, nur äußerst bedingt geeignet gewesen wäre, Sympathien in den sunnitischen Bevölkerungen der Region auszulösen und die Hisbollah aufgrund ihrer Regierungsbeteiligung im Libanon und ihrer Rolle in Syrien für den Iran deutlich wichtiger ist. Zudem, und die sofortige Verlegung eines US-Flugzeugträgers vor die libanesische Küste hat dieses Signal gesendet, könnte ein Angriff der Hisbollah militärische Aktionen der USA in Libanon und Syrien sowie ultimativ auch gegen das iranische Regime zur Folge haben.

Zur Aufwiegelung der islamischen Öffentlichkeit taugte nur die militärische Verheerung des Gazastreifens mit vielen Toten, was eine Neuauflage des Märchens vom „Kindermörder“ Israel und eine Solidarisierung nicht nur von Sunniten weltweit, sondern auch der sonstigen Israelfeinde mit der Hamas befördert. Durch die Abraham-Abkommen, die die jahrelang vorherrschende Prämisse eines israelisch-palästinensischen Friedens als Bedingung eines israelisch-arabischen Friedens zumindest infrage stellten, drohte die Palästinafrage weltpolitisch unwichtig zu werden und nur durch einen blutigen Krieg konnte die Hamas sie wieder auf die Tagesordnung bringen. Ihre Führer wussten, dass die antisemitische Internationale inklusive UN und der Mehrheit der EU nach einem Massaker an Juden die israelische Antwort ab der Sekunde infrage stellen würde, sobald es mehr tote Palästinenser als Juden gibt. Das iranische Regime war offensichtlich bereit, dafür auch die Zerschlagung der Hamas in Kauf zu nehmen, denn es kann kein Zweifel daran bestehen, dass Teheran und das mit ihm verbündete Katar, wo Ismail Haniyya, der Führer der Hamas, in einem Luxushotel residiert, maßgeblich an der Vorbereitung des 7. Oktobers beteiligt waren, auch wenn die USA dies öffentlich (noch?) nicht eingestehen wollen. Sollten der Iran und die Hisbollah eine zweite Front eröffnen, oder sollte dies der ursprüngliche Plan gewesen sein, wäre das in Anbetracht des US-Flugzeugträgers vor Ort und des entschlossenen Vorgehens der IDF in Gaza derzeit mit dem erheblichen Risiko verbunden, dass der Krieg nicht bloß Beirut, sondern auch Teheran erreicht – und existentielle Risiken hat das iranische Regime in inzwischen fast 45 Jahren, aller messianischen Rhetorik zum Trotz, stets gescheut. Die Biden-Regierung, die oft zögerlich und schwach erscheint und nicht alles unternimmt, um Israel und auch die Ukraine bedingungslos zu unterstützen, tut aber mit diesem Signal der Abschreckung an Hisbollah und den Iran wenigstens genug, um den totalen Sieg der Feinde des Westens zu verhindern. Das ist mehr, als man angesichts einer Regierung befürchten musste, die personell in weiten Teilen den beiden Obama-Administrationen entspricht. Dass dieselben Leute, die unter Obama den fatalen Irandeal eingefädelt haben, dazu in der Lage sind, diese Politik vollständig zu revidieren und, nachdem die Mittel des Dialogs so offenkundig endgültig gescheitert sind, endlich aktiv auf einen Sturz des Mullahregimes hinarbeiten, kann man jedoch bis zum Beweis des Gegenteils getrost bezweifeln. Es gilt aber heute mehr denn je: Damit es überhaupt eine friedlichere und bessere Zukunft im Nahen Osten geben kann, muss die Hamas zerstört, müssen der Libanon von der Hisbollah und der Iran vom Mullahregime befreit werden. Ohne die vermeintlichen Verbündeten Israels, also die Europäer und die USA unter Obama und Biden, die dazu nicht nur nichts beigetragen, sondern den Iran und Katar diplomatisch aufgewertet und mit Milliarden für die Finanzierung von Krieg und Terror im gesamten Nahen Osten ausgestattet haben, wäre das Massaker vom 7. Oktober nicht möglich gewesen.

Banalisierung des Bösen

Neben der Bedrohung durch den Iran gibt es einen zweiten Grund, der viele Regime in der arabischen Welt insgeheim auf einen Sieg Israels im Gaza-Krieg hoffen lassen müsste. Es ist derselbe, aus dem sie den Judenstaat seit dem Beginn der Militäroffensive verdammen, nämlich die Tatsache, dass die Mehrheit in den meisten sunnitischen Staaten, exemplarisch seien die Wahlen in der Türkei oder die in Ägypten nach dem Sturz Mubaraks erwähnt, hinter der einen oder anderen Version der Moslembrüder und damit natürlich auch hinter der Hamas steht. Je erfolgreicher die Hamas ist, desto mehr Auftrieb gibt das den innenpolitischen Gegnern der Regime, die mit Israel offen oder de facto einen Friedensvertrag geschlossen haben, wogegen die totale Niederlage und die Zerstörung Gazas zwar für Empörung auf der Straße sorgen, aber die abschreckende Wirkung nicht verfehlen würde. Islamisten wollen, wie andere autoritäre Charaktere, stets auf der Seite der Sieger stehen, weswegen ihnen der 7. Oktober gewaltigen Auftrieb verschafft hat, den nur eine vernichtende Niederlage der Hamas einigermaßen bremsen könnte. Durchsetzen können sich die Regime nur, wenn der Krieg Gaza derart verheert, dass die Agenda der Moslembrüder den meisten Arabern als gefährlich erscheint und gleichzeitig die Kooperation mit Israel und den USA ökonomisch etwas abwirft, womit sie gegen die Islamisten eventuell punkten und vielleicht sogar gesellschaftliche Reformen umsetzen könnten. Der Ansatz jedoch, gegen die islamische Ideologie bloß auf wirtschaftlichen Aufschwung zu setzen, findet dort seine Grenzen, wo keine Militärmacht in Sicht ist, die die tatsächlichen und potentiellen Jihadisten unterdrückt, wie in Gaza, Syrien, Jemen und allen anderen sunnitischen Staaten ohne funktionelle Zentralgewalt. Die Idee, die Hamas werde schon sich mäßigen, wenn sie für ca. zwei Millionen Menschen, deren Lebensbedingungen und Zukunft die Verantwortung tragen müsse, war von Anfang an verrückt.

Ein derart technokratisch-ökonomistischer Ansatz, der sich darauf beruft, dass Menschen grundsätzlich auf finanzielle Anreize reagierten, dass, wer in Israel arbeitet, die Hand nicht abhackt, die ihn füttert, basiert auf einem Menschenbild, das den Grad der Barbarisierung der arabischen Welt und insbesondere des Mordkollektivs in Gaza und im Westjordanland verkennt. Und das nicht obwohl, sondern weil alles so offensichtlich ist: Die Permanenz, in der Abbas den Holocaust leugnet oder (anti-)semitische Rassenkunde betreibt, die Art, wie Kinder in Schulen, die nach besonders erfolgreichen Judenmördern benannt werden, zum Judenhass indoktriniert und zum Massenmord abgerichtet werden, die Eindeutigkeit, in der Hamas, Hisbollah und Iran permanent zur Zerstörung Israels aufrufen, werden gerade deswegen unterschätzt, weil dies in aller Öffentlichkeit stattfindet. Sich mit diesen abstoßenden Menschenstümpfen, ihren Worten und vor allem ihren Taten wie den am 7. Oktober begangenen überhaupt im Detail zu befassen, löst mehr Ekel aus, als einigermaßen vernünftige Menschen verkraften können. In Phasen relativer Ruhe besteht darum immer wieder die Versuchung, den Hass als bloßes Gerede abzutun oder sich damit zu beruhigen, dass selbst die größten Judenhasser an ihrer eigenen Zerstörung kein Interesse haben könnten. Diese Vermenschlichung der Unmenschlichkeit, diese Banalisierung des Bösen, die einem permanent aus allen Medien als Verständnis für die angeblich so verzweifelte Lage in Gaza, von der am 7. Oktober nichts zu sehen war, entgegenschallt, musste den sadistischen Antisemitismus des Jihadistenkollektivs der Palästinenser verkennen. Wer vor diesem Hintergrund von einer „Lösung“ des Konflikts oder gar der „Zweistaatenlösung“ redet, muss ein ausgemachter Europäer sein.

Innerisraelische Konflikte

Auch wenn sie seit dem 7. Oktober marginalisiert wurden: Europäer gibt es auch in Israel und unter international bekannten jüdischen Intellektuellen, vor allem unter solchen, die an nordamerikanischen Universitäten arbeiten oder mit diesen kollaborieren. Zur Vorgeschichte des Gazakriegs gehört auch der seit Monaten erbittert geführte Streit um die von der Regierung Netanjahu, die sich wesentlich auf rechte und religiöse Parteien stützt, angestrebte Justizreform. Die politische Frage, um die es dabei geht, ist zwar durchaus relevant, wurde aber von beiden Seiten in einer Weise geführt, die rückblickend vor dem Hintergrund des Massakers seltsam anmutet. Die Frage, wie die Kompetenzen des Parlaments sowie der obersten Gerichtsbarkeit gegeneinander abgegrenzt werden, ob und wenn ja in welchen Gesetzesentscheidungen die höchsten Richter das letzte Wort haben, ist eine, die durch politischen Kompromiss leicht gelöst werden könnte und keine, in der es um den Erhalt der Demokratie oder die Abschaffung der Rechtsstaatlichkeit ginge, wie es von den jeweiligen Seiten behauptet wurde. Die Massenproteste, insbesondere in Tel Aviv, bei denen die eigene Regierung als der Hauptfeind dargestellt wurde und die bis zu Aufrufen zur Wehrdienstverweigerung reichten, dürften nicht dazu beigetragen haben, dass Israel in Teheran, Beirut oder Gaza als geeint abwehrbereit erschien. Die Reaktionen der israelischen Gesellschaft nach dem 7. Oktober und die Tatsache, dass Gantz und Netanjahu sofort gemeinsam ein Kriegskabinett bilden konnten, übrigens unter Ausschluss der Rechtsparteien in Netanjahus Regierung, zeigt eindeutig, dass die beiden sich in den relevanten politischen Fragen, in denen sie die breite Mehrheit der Bevölkerung repräsentieren, viel näher stehen als Teilen ihrer jeweiligen Bündnispartner im Kampf um die Justizreform. Es ist kein Zufall, dass der ehemalige General Gantz durch seine Entscheidung zum Regierungseintritt auf Kosten von Netanjahu und des draußen gebliebenen Lapid, der in der Vergangenheit als Sprachrohr des liberalen Amerika negativ aufgefallen ist, massiv an Popularität gewonnen hat.

Am 4. August 2023 erschien eine kurze Petition mit dem Titel „The Elephant in the Room“, die von knapp 3.000 jüdischen Akademikern aus aller Welt unterzeichnet wurde, darunter neben notorischen Antizionisten, wie z.B. der in Deutschland als Unterstützerin von A. Dirk Moses bekannten Susan Neiman, auch renommierten Personen wie Dan Diner, Benny Morris, Saul Friedländer und Omer Bartov (2). Sie bemängelten mit der im englischen wie russischen Sprachgebrauch üblichen Metapher, dass bei den Protesten über das eigentlich offensichtliche Thema nicht gesprochen werde: die israelische Besatzung. Dabei entblödeten sie sich nicht, von „Apartheid“ und in Anlehnung an die vom Ku-Klux-Klan und anderen Antisemiten in den USA propagierten „Vorherrschaft der weißen Rasse“ von „Jewish Supremacy“ in Israel zu sprechen. Da aber die große Mehrheit der Anhänger der zu diesem Zeitpunkt wichtigsten Oppositionsführer Gantz und Lapid die Ansicht der Unterzeichnenden nicht teilt, war genau dieser weitgehende Verzicht auf die Erwähnung des „Friedensprozesses“, der „Zweistaatenlösung“ oder ähnlichen Nonsens für den Erfolg der Proteste gegen die Justizreform maßgeblich. Die Zurückhaltung bzw. -drängung der moderat bis rabiat antizionistischen Gruppen war die Voraussetzung dafür, dass derart breit und über die üblichen Verdächtigen wie die Meretz-Partei oder Breaking the Silence und B’Tselem hinaus relevante Teile des liberalen, säkularen Israels, mit der israelischen Nationalflagge als wichtigstem Symbol, überhaupt zu den Protesten gegen die Regierung Netanjahu mobilisiert werden konnten. Dass dies nicht nur Taktik war, zeigte sich darin, dass die Organisatoren der Proteste diese mit dem 7. Oktober sofort einstellten und ihre Infrastruktur zur Unterstützung der israelischen Regierung einsetzten.

Die letzten beiden Regierungen, die in Israel vor dem Ausbruch des Gazakriegs gebildet wurden, die eine unter Einbeziehung der arabischen Ra’am-Partei und der linken Meretz, die andere unter der sämtlicher religiöser Parteien und der radikalen Rechten um Smotrich und Ben Gvir, haben sich als ungeeignet erwiesen, die israelische Gesellschaft und den Zionismus angemessen zu vertreten. Hinzuzufügen ist, dass der Zionismus immer aus einem nationalreligiösen und einem säkularen Flügel bestand, zwischen die in Anbetracht des Horrors der Hamas aber kein Blatt Papier passt. Auch der Umstand, dass die israelische Gesellschaft deshalb als viel zerstrittener erschien, als sie sich nach dem 7. Oktober erwiesen hat, mag zum Terrorangriff beigetragen haben. Das politische Versagen, das zum 7. Oktober geführt hat und das deswegen bevorstehende Ende der Ära Netanjahu, könnte politischen Konstellationen den Raum öffnen, die die Mehrheit der Israelis besser zu repräsentieren in der Lage sind und die gemeinsam die zu bewältigenden Aufgaben angehen können, ohne den „Israelkritikern“ im In- und Ausland das geliebte Feindbild einer rechtsradikal-religiösen Regierung zu liefern: Zerschlagung der Hamas, endgültige Abkehr von der Idee der Zweistaatenlösung und Annexion der Siedlungsblöcke, Säuberung zumindest des Südlibanons von der Hisbollah, Schwächung des iranischen Regimes in Kooperation mit denjenigen arabischen Staaten, die dieses Interesse teilen.

Mantra Zweistaatenlösung

Zu ihrer ewigen Schande haben die Autoren ihre Petition nach dem 7. Oktober nicht etwa klammheimlich gelöscht. Vielmehr legten Omer Bartov und Shira Klein eine zweite (3) nach, die noch perfider war als die erste und die nur noch von etwa einem Drittel, also gut 1.000 jüdischen Akademikern unterzeichnet wurde. Während Susan Neiman selbstredend zu den Erstzeichnern gehörte, fehlen Diner, Morris und Friedländer diesmal, ohne dass bekannt wäre, dass sie ihre Unterschrift unter die erste Petition zurückgezogen hätten. Die Kernforderungen lauteten diesmal erstens, die Geiseln der Hamas durch Austausch gegen Mörder in israelischen Gefängnissen freizubekommen, zweitens von Vergeltung in Gaza abzusehen, da ein Massaker ein zweites nicht rechtfertige, drittens ein sofortiges Ende der „Apartheid“ und der Besatzung der Westbank und der Belagerung des Gazastreifens und viertens der Aufruf an die USA, Israel und die internationale Gemeinschaft, auf wahren Frieden zwischen Israel und den Palästinensern hinzuarbeiten. Zum Antisemitismus an amerikanischen Universitäten, für die Autoren solcher Zeilen vermutlich legitimer Protest gegen den israelischen Unterdrückerstaat, fehlt ebenso jeder Hinweis wie zum israelischen Selbstverteidigungsrecht, das durch die Gleichsetzung eines Kriegs gegen die Hamas mit den Massakern vom 7. Oktober vielmehr dezidiert bestritten wurde. Aber selbst Dan Diner legte in der FAZ vom 25. Oktober noch einmal nach und forderte von allen Dingen, die einem 18 Tage nach dem verheerendsten Massaker an Juden nach dem Holocaust einfallen könnten, deren spezifischen Charakter er anders als Bartov und Klein immerhin ausdrücklich betonte, ausgerechnet die Wiederbelebung der Zweistaatenlösung. Für ihn lag der Grund für den Erfolg der Hamas daran, dass der israelischen Regierung die Hamas gelegener komme als die „kompromissbereite“ Fatah. Ganz so als wisse er nicht, dass Abbas seit Jahren von Israels Gnaden als eine Art Bürgermeister von Ramallah fungiert, der bei offiziellen Anlässen praktisch immer antisemitische Hetze von sich gibt, sogar in Gegenwart eines schweigenden Bundeskanzlers, und der sich aus guten Gründen im ca. 20. Jahr seiner vierjährigen Amtszeit befindet, weil er nämlich eine Wahl nicht mehr gewinnen könnte.

Tatsächlich haben sich, anders als Diner es sagt, nicht alle Versuche in Luft aufgelöst, die Palästinenser zu umgehen, sondern die Paradigmen des Oslo-Prozesses und der Zwei-Staaten-Lösung, die darauf basierten, dass die Palästinenser ihren Hass auf Israel und die Juden aufgeben oder reduzieren würden, wenn man ihnen einseitig entgegenkommt und Zugeständnisse macht. Der gescheiterte Oslo-Prozess zeitigte als bleibendes Resultat die zweite Intifada mit ihren bestialischen Massakern und fürchterlichen Selbstmordattentaten, deren mörderischer „Erfolg“ bis heute palästinensischen Kindern als leuchtendes Beispiel präsentiert wird und nicht nur die Mörder vom 7. Oktober, sondern die Palästinenser insgesamt prägt. Dass das letzte Angebot Ehud Olmerts von 2008, den Palästinensern Ostjerusalem und über 90 Prozent der Westbank zu überlassen, abgelehnt wurde, liegt bereits über 15 Jahre zurück. Diesen nicht erst seit dem 7. Oktober, sondern seit Jahrzehnten völlig obsoleten Unfug auch noch in die antiisraelische deutsche Presse oder an eine akademische Öffentlichkeit zu tragen, ist ein trauriges Zeugnis dafür, wie sehr sich auch jüdische Akademiker, die bedeutende Arbeiten zum Holocaust, zur Genozidforschung, zum arabischen Antisemitismus usw. verfasst haben, einem akademischen Betrieb angeglichen haben, sei es aus Überzeugung oder schlimmer noch aus Opportunismus, von dessen Zustand man sich seit dem 7. Oktober in Harvard, Stanford, Columbia und anderswo ein Bild machen kann. Es gleicht dem der deutschen Universitäten in den Jahren vor 1933.

Scheitern der Demokratie

Zerschlagen hat sich die liberale Illusion vom Ende der Geschichte, von Kapitalismus und westlicher Demokratie als bester aller Welten: Es ist passiert und es kann wieder passieren. Universitäten fungieren heute wieder als Brutstätten des Antisemitismus, Judenmörder ziehen grölend durch die Straßen und zeigen offen ihre Gesinnung, von Nordamerika bis Dagestan wird zur Jagd auf Juden geblasen. In der Welt, die die Vertreter einer „Weltinnenpolitik“, die „Genozidforscher“ die „Experten für Völkerrecht“ und andere Säkulare sich vorstellen, die an die Erklärung der Menschenrechte statt die Zehn Gebote glauben, ist für Israel kein Platz. Wenn jüdische Akademiker und das linksliberale Amerika bereits nach wenigen Wochen des Kriegs zu Waffenruhe, Zweistaatenlösung und Schutz „unschuldiger Zivilisten“ vor der israelischen Armee aufrufen, zeigt sich, wohin die Reise geht. Zugleich bekleidet das Amt, dem die Rolle des Anführers der freien Welt zukommt, ein alter Mann, der kaum noch die Kraft hat, eine Rede vom Teleprompter abzulesen und an dessen Geisteszustand man beträchtlich zweifeln muss. Auch wenn Biden, der erstmals in den Senat gewählt wurde, als der US-Präsident Richard Nixon hieß, die alte demokratische Partei repräsentiert, die an der Seite Israels stand, in dieser Situation das Richtige tun möchte, kann er es offensichtlich kaum noch durchsetzen. In Umfragen ist er bereits hinter Donald Trump zurückgefallen und Teile des antisemitischen linken Flügels der Partei drohen damit, der Präsidentschaftswahl 2024 fernzubleiben.

Das von einem altersschwachen Mann repräsentierte Amerika ist in weiten Teilen derart kriegsmüde, dass es heute wie ein echter Europäer selbst die Kriege seiner Verbündeten, in die es keinen einzigen Soldaten schicken muss, nur noch für ein paar Wochen zu unterstützen bereit ist, bevor lautstark nach Verhandlungen und Frieden verlangt wird. Da diese Haltung in den USA auf dem Vormarsch ist und auch Politiker und Sprachrohre der Rechten unter dem Trump-Slogan „America First“ die Hilfen für Israel und die Ukraine massiv infrage stellen, muss Israel, das sich auf Europa noch weitaus weniger verlassen kann als die Ukraine, darauf vorbereitet sein, den zu führenden Krieg gegen seine Feinde allein und möglicherweise unter massivem Druck, auch aus den USA, zu führen. Diese trostlose, aber reale Perspektive wird derzeit nur dadurch abgemildert, dass Präsident Biden und seine Regierung sich in beiden Kriegen zumindest verbal deutlich positioniert haben und somit ihr politisches Schicksal auch vom Erfolg der beiden Verbündeten auf dem Schlachtfeld abhängt. Dass der alte weiße Mann Biden dem Druck seiner Partei aber auch dann standhalten kann, wenn der Krieg gegen Gaza und möglicherweise den Libanon in die entscheidende Phase eintritt und sich die Zahl der Toten erheblich erhöht, muss stark bezweifelt werden.

Demgegenüber bleibt einzig die Hoffnung auf Israel selbst, das sich in der Reaktion auf das Massaker vom 7. Oktober so gezeigt hat, wie man es von einem Land erwarten würde, das nicht den geringsten Zweifel an seinem Sinn, seiner Geschichte und an seiner Mission hat. Die unglaubliche Moral der Israelis gründet sich eben nicht auf Moralismus, sondern auf die Moralität des Staates Israel als Heimat der Juden. Der israelischen Bevölkerung, aber eben auch der jüdischen Diaspora, ist in ihrer großen Mehrheit klar, dass sie auf diejenigen, die man heute „liberal“, „woke“ usw. nennt, genauso wenig geben können wie auf die Europäer, die nicht begreifen, was am 7. Oktober gerade vor ihren Augen passiert ist und die Parallele zu ihrer Geschichte nicht sehen wollen. Die Bereitschaft, sich freiwillig in die Armee zu melden und der existentiellen Bedrohung Israels zu trotzen, die der 7. Oktober vor allem dann darstellt, wenn die Täter und Hintermänner nicht zur Rechenschaft gezogen und endgültig ausgeschaltet werden und jederzeit an der Grenze zu Gaza, in Nordisrael oder gar in Jerusalem mit einer Wiederholung im größeren Stil zu rechnen bliebe, übertraf noch die Erwartungen der Politik und der Armee. Auch wenn Israel in seinem fortgesetzten Existenzkampf wieder einmal ziemlich allein steht, verfügt das Land über eine enorme Kraft, die sich daraus speist, dass es im Gegensatz zu Europäern und einer zunehmenden Anzahl von Amerikanern noch ganz genau weiß, warum und wofür es zu kämpfen lohnt.

Martin Stobbe (Bahamas 93 / 2024)

Anmerkungen:

  1. Zitiert nach Lazar Berman: Iron Dome has saved many lives, but has it made Israel safer? Times of Israel, 13.5.2021
  2. https://sites.google.com/view/israel-elephant-in-the-room/aug-23-elephant-in-the-room-petition
  3. Die vier Kernforderungen des antizionistischen Pamphlets lauteten:
  4. „1. Unterstützen Sie die israelische Protestbewegung, fordern Sie sie jedoch auf, die Gleichheit von Juden und Palästinensern innerhalb der Grünen Linie und in den OPT anzustreben.
  5. 2. Unterstützen Sie Menschenrechtsorganisationen, die Palästinenser verteidigen und Echtzeitinformationen über die gelebte Realität unter Besatzung und Apartheid bereitstellen.
  6. 3. Setzen Sie sich dafür ein, die Bildungsnormen und Lehrpläne für jüdische Kinder und Jugendliche zu überarbeiten, um eine ehrlichere Einschätzung der Vergangenheit und Gegenwart Israels zu vermitteln.
  7. 4. Verlangen Sie von den gewählten Politikern in den Vereinigten Staaten, dass sie sich für die Beendigung der Besatzung einsetzen, die Verwendung amerikanischer Militärhilfe in den besetzten palästinensischen Gebieten einschränken und die Straflosigkeit Israels in der UNO und anderen internationalen Organisationen beenden.“
  8. (Übersetzung von mir)
  9. https://sites.google.com/view/israel-elephant-in-the-room/response-to-october-7?authuser=0

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