Wenn man zurzeit etwas über den algerisch-französischen Schriftsteller Boualem Sansal schreibt, kann der Artikel ungewollt zum Nachruf geraten. Der 80-jährige Sansal, der seit dem 16. November 2024 vom algerischen Regime gefangen gehalten wird und Ende März 2025 zu einer fünfjährigen Haftstrafe verurteilt wurde, ist schwer krebskrank. Er wird von einem Hochsicherheitsgefängnis nahe Algier und einer Gefängnisabteilung des größten Krankenhauses in der Stadt hin und her verlegt. Zwischen Strahlenbehandlung und Isolation, ohne Rechtsvertretung und weitgehend ohne Besuche – Sansals Angehörige werden ebenfalls bedrängt –, wehrte sich Sansal ganz auf sich allein gestellt, nachdem sein französisch-algerischer Anwalt François Zimeray kein Visum für Algerien bekommen hatte. Agenten des Inlandsgeheimdienstes hatten Sansal im Gefängniskrankenhaus aufgesucht und verlangt, er solle einen Anwalt wählen, der kein Jude sei. Aus Protest gegen diese antisemitische Maßnahme trat Sansal in den Hungerstreik, den er aber wieder abbrechen musste, weil er auf die medizinische Behandlung angewiesen ist.
Nach seiner Verhaftung galt Sansal der Weltöffentlichkeit zunächst schlicht als verschwunden. Nachdem er aus Frankreich einen Flug nach Algier angetreten hatte, gab es keine Nachrichten mehr von ihm; sein Aufenthaltsort war unbekannt und er war nicht zu erreichen. Erst nach mehreren Tagen wurde bekannt, dass er am Flughafen von Algier abgefangen und festgenommen worden war. Über die Gründe konnte zunächst nur spekuliert werden, bis nach weiteren Tagen das Regime über seine Presseagentur eine Erklärung verbreiten ließ, bei der im Unklaren blieb, wer eigentlich für sie verantwortlich zeichnete. (1) In der Erklärung bemühte man sich weder um den Anschein von staatstragender Würde noch gab man die Gründe für die Verhaftung an. Stattdessen denunzierte man Sansal als „Marionette des anti-algerischen Revisionismus“ und als „Pseudo-Intellektuellen, der von der französischen extremen Rechten angehimmelt“ werde. Die Solidaritätsbekundungen mit ihm verhöhnte man als alberne Empfindlichkeiten des „macronitisch-zionistischen Frankreichs“, die verlogen seien, weil die französische Regierung sich noch immer nicht habe entschließen können, zu erklären, dass der vom Internationalen Strafgerichtshof verurteilte Benjamin Netanjahu im Fall einer Einreise nach Frankreich verhaftet werden würde. Mit Sansal nehme man einen „Negationisten“ – négationnisme ist der französische Ausdruck für die Leugnung des Holocaust – in Schutz, der „die Existenz, die Unabhängigkeit, die Geschichte, die Souveränität und die Grenzen Algeriens“ in Frage stelle. Auf die formelle Verkündung einer Anklage gegen Sansal musste die Öffentlichkeit weiter warten. Erst Wochen später im Dezember wurde verlautbart, dass die Anklage auf „Verletzung der nationalen Einheit“ laute. Die entsprechenden Paragrafen wurden erst nach und nach dem algerischen Strafgesetzbuch hinzugefügt.
Anders als die später mühsam konstruierte formelle Anklage, von der kaum etwas an die Öffentlichkeit drang, kündete das Pamphlet der algerischen Presseagentur davon, worum es bei der Hatz auf den Schriftsteller ging: Es ist zum einen Sansals unkompromittierbare Freundschaft mit Israel, die den Machthabern in Algier ein unerträglicher Skandal ist, und zum anderen sind es öffentliche Kommentare Sansals bezüglich der Historizität der Grenzziehung zwischen Algerien und Marokko und deren Beziehung zur Kolonialgeschichte des Maghreb, für die Sansal bestraft und mundtot gemacht werden soll. Dass es im heutigen Algerien ein Kapitalverbrechen gleichkommt, die vom einstigen Kolonialherren gezogenen Grenzen zu hinterfragen, mag den mit den Hintergründen nicht vertrauten Betrachter, der an die verherrlichenden Darstellungen des algerischen Unabhängigkeitskampfs gewöhnt ist, die zur Routine westlicher Intellektueller zählen, zunächst überraschen – und doch ist es so. Darüber auch nur zu reden würde das seit dem Ende des Bürgerkrieges Anfang der 2000er Jahre bestehende prekäre Bündnis zwischen der zum Militärstaat verkommenen sogenannten Befreiungsbewegung FLN und den Islamisten – die den FLN in den 1990er Jahren fast abserviert hätten –, auf dem die Macht des algerischen Regimes beruht, ernsthaft gefährden. Algerien ist heute ein Land, dessen Herrscher davon überzeugt sind, dass sie es nur regieren können, wenn das öffentliche Gespräch über die Geschichte unterbunden wird. Es gibt sogar ein Gesetz, das das Schweigen über die Bürgerkriegsjahre gebietet, während der beide Seiten unsägliche Verbrechen mit bis zu einer halben Million Ermordeten begangen haben.
Die algerische Verfassung definiert die Nation als „die Zugehörigkeit zum Arabertum, zu Afrika und zum Islam“, was eine Lüge ist. Der Anteil der Kabylen (Berber), einer nicht-arabischen Bevölkerungsgruppe, beläuft sich auf fast ein Viertel. Auch Juden haben einst in Algerien gelebt, wurden aber im Zuge des Unabhängigkeitskrieges vertrieben – von ehemals 140.000 Juden lebt dort heute kein einziger mehr; es handelt sich um die radikalste Vertreibung im gesamten Maghreb. Christen, auch wenn sie schon seit Generationen in Algerien lebten, schlossen sich dem Exodus der pieds-noirs, der französischstämmigen Algerier, nach Frankreich an, ebenso wie die harkis, jene autochtonen muslimischen Algerier – viele von ihnen Veteranen des Kampfes gegen Nazideutschland in den französischen Streitkräften und ihre Familien –, die im Unabhängigkeitskrieg auf der Seite Frankreichs gegen die Abtrennung Algeriens gekämpft hatten, das zuvor ein reguläres département der französischen Republik gewesen war. Die Unabhängigkeit Algeriens war, in erster Linie eine ethnoreligiöse Homogenisierung. Schon in dieser Feststellung tritt die bittere Realität zutage, die die Bonzen des FLN um jeden Preis verleugnen müssen, um ihren nationalen Mythos und mit ihm ihre Herrschaft über das Land aufrechtzuerhalten. Der Widerstand der Berber gegen die Islamisten und das Regime ist heute so stark und kontinuierlich, dass das Regime ohne Repression nicht überleben kann: Algerien ist eine failed nation, wie so viele ehemalige Kolonialstaaten. Dass die „nationale Befreiung“ Algeriens bis zum heutigen Tag eine Schimäre geblieben ist, hat Boualem Sansal in seinen Essays und Romanen ausgesprochen. Unbeirrbar hat er an seine Landsleute appelliert, gemeinsam Rechenschaft über ihre Geschichte abzulegen, als die Voraussetzung für eine nationale Befreiung, die ihren Namen verdiente. Deshalb will das Regime ihn zum Schweigen bringen.
Boualem Sansal lebte, seit er Ende der 1990er angefangen hatte zu schreiben, in Boumerdès, einer mehrheitlich von Berbern bewohnten Stadt, die seiner Familie und ihm (auch bewaffneten) Schutz vor den Anfeindungen des Regimes geboten hatte. Wegen seiner Bücher wurde ihm vom Industrieministerium, für das er gearbeitet hatte, gekündigt. Die Entwicklung in den letzten Jahren hat dazu geführt, dass Sansal und seine Familie sich fortan auch in Boumerdès nicht mehr sicher fühlen konnten. Vor der Pandemie hatte es 2019 berberische Aufstände gegen die islamisch-arabische Kolonialherrschaft des FLN gegeben, die blutig niedergeschlagen wurden. Das algerische Regime näherte sich Russland und China an, fühlte sich stabiler und wurde repressiver. Deswegen entschloss sich Sansal, die französische Staatsbürgerschaft anzunehmen und mit seiner Familie nach Frankreich auszuwandern.
Sansal hatte diesen Schritt zuvor immer abgelehnt und sich stets als algerischer Autor begriffen. Er war der Überzeugung, dass seine Glaubwürdigkeit als Schriftsteller sein Ausharren in seinem Land zur Voraussetzung hatte – ein Land, das er liebte und mit dessen tödlicher Erstarrung er sich nicht abfinden wollte. Das Land, in dem er sich frei äußern und publizieren konnte, war nicht Algerien, sondern Frankreich. Dort war und ist er bis heute für viele Franzosen algerischer Herkunft jemand, der die Missstände und die Unmöglichkeit des algerischen Staatskonzepts offen kritisiert; seine phantastisch-realistischen Romane erreichen regelmäßig hohe Auflagen und zahlreiche Besucher kommen zu seinen Lesungen. Sansal ist bis zu seiner Verhaftung trotz Krankheit noch in die letzte französische Banlieue gegangen um zu lesen und zu diskutieren. Er hatte keine Angst, er lehnte es ab, sich zu verstecken. Dass er ausgerechnet bei einem letzten Besuch in Algerien vor der endgültigen Emigration nach Frankreich festgenommen wurde, zeugt von seiner Bedeutung: Das Regime will die absolute Verfügungsgewalt über ihn. Die späte Rache an einem Kind der nationalen Befreiung, das für eine enttäuschte Generation steht, die sich vom FLN verraten fühlt, wurde in einer Situation vollzogen, in der sich das Regime durch russisch-chinesisch-iranische Unterstützung wieder stark fühlen kann – zwar nicht im eigenen Land, das einem Pulverfass gleicht; international kann es jedoch auf das Appeasement des Westens und auf den Schutz von dessen Feinden zählen. Dazu werden, je nach Bedarf, die Karten „Islamophobie“ und „Kolonialismus“ ausgespielt.
Zu behaupten, das Regime würde aus Schwäche heraus handeln, gibt der Illusion Vorschub, die prekäre Situation, in der Algerien sich seit über zwanzig Jahren befindet, könne sich jederzeit verändern. Von einer Bevölkerung aber, die sich nach dem letzten Aufstand von 2019 betrogen und demoralisiert fühlt, die sozial und ökonomisch trotz des Rohstoffreichtums und des von der einstigen Kolonialmacht übernommenen hochentwickelten Bildungssystems jeden Tag ums Überleben kämpfen muss, ist derzeit wenig zu erwarten. Die Zwangsjacke der kolonialen Grenzen infrage zu stellen, liegt außerhalb der Vorstellungskraft der meisten Algerier. Insofern hat das Regime den richtigen Zeitpunkt für die Verhaftung und Verurteilung Boualem Sansals gewählt. Keine westliche Regierung möchte als „islamophob“ oder „neokolonialistisch“ gelten, im Gegenteil möchte man als rücksichtsvoll und freundlich noch gegenüber der brutalsten islamischen Terrororganisation erscheinen: Man reicht den neuen Herrschern in Syrien bereitwillig die Hand und man verlangt von der Hamas nicht die sofortige Freilassung der Geiseln, sondern von Israel Zurückhaltung. Russland kann sich aufführen wie es will – und es war Kalkül, dass die Festnahme Sansals wenige Tage nach der US-Präsidentschaftswahl erfolgte, nach der sich die Machthaber noch ein wenig sicherer fühlen konnten.
Aus vielen Gründen, aber vor allem in einer Geste der Solidarität, erschienen nach der Geiselnahme Sansals (um nichts anderes handelt es sich hier) viele internationale Solidaritätsaufrufe. Die Träger des Preises des deutschen Buchhandels, zu denen Sansal seit 2011 gehört, erklärten ihre Solidarität, ebenso wie Literaturnobelpreisträger sowie viele Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens in zahlreichen Ländern. Solidaritätsveranstaltungen wurden und werden abgehalten, allein: Die Politik reagiert nicht. Obwohl Deutschland für Algerien der größte Wirtschaftspartner ist – wichtiger als Frankreich –, wollte das von Annalena Baerbock geführte Außenministerium offenbar keine Missstimmung erzeugen. Selbst die französische Politik beließ es bei Drohungen. Als das Komitee zur Unterstützung von Boualem Sansal forderte, als kleines politisches Zeichen die übliche Einreise der algerischen Ramadan-Prediger auszusetzen, gab es keine Reaktion, obwohl seit Jahren darüber debattiert wird, diesen islamistischen Hetzern die Einreise zu verweigern. Stattdessen kündigte Macron die Anerkennung eines Staates Palästina an.
Die zwischen Repression und Appeasement irrlichternde Politik Macrons lässt das Schicksal der Einzelnen in den Hintergrund rücken. Dabei böte die Konfrontation mit dem algerischen Regime in dieser Sache eine gute Gelegenheit, die Republik und den Präsidenten gut dastehen zu lassen. Dass Macron diese Chance nicht nutzt, hat innenpolitische Gründe. Die Stärke der Islamo-Linken in der Nationalversammlung und auf der Straße, die eine Solidarität mit Sansal verweigert – im EU-Parlament stimmten die Abgeordneten der Mélenchon-Partei gegen eine Resolution für Sansals Freilassung –, ist im Konzert mit den von Drogenbaronen und Islamisten beherrschten Banlieues, zu einem angsterregenden politischen Faktor geworden. Im Fall Frankreichs tritt zu der im gesamten Westen verbreiteten Angst vor dem Terror, die mit einem irrationalen Schuldbekenntnis rationalisiert wird, die Kolonialgeschichte, die das Land mit Algerien verbindet. Das abstrakte Schuldgefühl des Westens ebenso wie die infantile Rage seiner Erpresser konkretisieren sich dort im Verhältnis der ehemaligen Metropole zu ihrer ehemaligen Kolonie. Das algerische Regime hat es sich zur Gewohnheit gemacht, den Druck der ungelösten Konflikte im eigenen Land auf das Konto der Kolonialgeschichte zu schieben und dem einstmaligen Mutterland immer schrillere Vorhaltungen zu machen und Forderungen nach „Wiedergutmachung“ zu erheben. Damit kann es den französischen Präsidenten vor allem deshalb unter Druck setzen, weil die Darstellung der französischen Republik als ungeständiger Menschheitsverbrecherin durch die Islamo-Linken ebenso wie den Banden, die die Banlieues beherrschen, in ihrem beabsichtigten Sturm auf die republikanischen Institutionen eine mächtige und bedrohliche Rückendeckung gibt. Nichts ist so sehr von Vorteil für sie als ein moralisch verunsicherter Gegner.
Emmanuel Macrons Strategie gegenüber dieser Erpressung ist seit Beginn seiner Präsidentschaft das Appeasements. Bereits als Kandidat vor seinem ersten Wahlsieg im Jahr 2017 sprach er davon, die „konkurrierenden Erinnerungen“ miteinander „versöhnen“ zu wollen, indem er die „Verbrechen gegen die Menschheit“, die während der Kolonialzeit und während des Unabhängigkeitskriegs begangen worden seien (womit ausschließlich Frankreich als Täterin impliziert war), „wiedergutmachen“ werde. (2) Indem er sich so auf das Terrain des Diskurses des Regimes von Algier begab, erkannte er dessen Lüge als Wahrheit an und lieferte sich damit weiteren Erpressungen aus. Ganz ungehindert kann Macron dieser Befriedungstaktik jedoch nicht nachgehen, denn es gibt neben Islamisten und Linken auch eine immer gewichtiger werdende Rechte im Land, die Macron – zumindest in Gestalt ihrer Vertreter aus dem bürgerlichen Spektrum links des Rassemblement National – in seine Regierung einbinden muss, und auf deren Unterstützung er angewiesen ist. Die profilierteste Stimme dieser Rechten, die mit dem Appeasement gegenüber Algier alles andere als einverstanden sind, ist seit der Neubildung des Kabinetts nach den Parlamentswahlen im September des vergangenen Jahres der bei den Franzosen populäre neue Innenminister Bruno Retailleau von der konservativen Partei Les Républicains. Retailleau plädiert immer wieder öffentlich für eine kompromisslosere Politik Frankreichs gegenüber dem algerischen Regime. Bereits 2023 kritisierte er Macrons Algerienpolitik der „immerwährenden Reuebekundung“ als verfehlt, weil „der Selbsthass die Verachtung der Anderen anstachelt.“ (3) Wie recht Retailleau mit dieser Diagnose hat, dass die einseitige Beteuerung einer französischen Schuld gegenüber Algerien keineswegs dazu angetan ist, das Verhältnis zwischen den beiden Ländern zu entspannen, belegt die Erklärung der algerischen Presseagentur zur Causa Sansal vom November. In demselben Satz, in dem Macron dafür angeklagt wird, mit Sansal einen Negationisten in Schutz zu nehmen – was nichts anderes bedeutet, als Frankreich eines Genozids an den Algeriern zu beschuldigen –, wird mit deutlicher Verachtung erwähnt, Macron habe, als er die Verantwortung Frankreichs für die Ermordung mehrerer führender FLN-Kämpfer während des Algerienkriegs formell anerkannt hatte, „die Zerknirschung so weit getrieben, dass er seinen Botschafter mit einem Blumenkranz zum Grab unseres Märtyrers geschickt“ habe. Das ist die Paradoxie der Erpressung: Wer sich ihr in der Hoffnung ergibt, mit einem Entgegenkommen den Erpresser zu besänftigen, erntet nicht Dankbarkeit, sondern Verachtung.
Neben den französischen Rechten, die Macron immer wieder dazu zwingen, wenigstens einen Rest von Haltung gegenüber Algier zu bewahren, spielen auch außenpolitische Faktoren eine Rolle, die dem großzügigen Befriedungswillen des Präsidenten Grenzen setzen. In demselben Maß, in dem Frankreich sich als Militärmacht aus dem Norden Afrikas zurückzieht, ist es auf verlässliche Bündnispartner vor Ort angewiesen, deren Interessen mit denen Frankreichs konvergieren. An erster Stelle steht dafür das Königreich Marokko, als dessen Erzrivale sich das algerische Regime seit jeher geriert. Das Land, das 2020 den Abraham Accords beigetreten ist und damit Frieden mit Israel geschlossen hat, konnte so im Juli 2024 von Frankreich die Erfüllung seiner – vollkommen legitimen – Forderung erreichen, dass seine Souveränität über die Westsahara anerkannt werde, deren Rebellenbewegung der Frente Polisario seit Langem von Algerien gefördert wird. Dass der Algerier Sansal diese diplomatische Geste öffentlich anerkannte und auch noch die historischen Gründe ihrer Legitimität anzugeben wusste, war dem Regime in Algier unerträglich.
Linke deutsche Medien schwiegen angesichts der Gefangennahme Sansals durch das algerische Regime nicht nur, sie verweigerten die Solidarität und denunzierten Sansal. Allen voran war es diesmal die Jungle World, die verhindern wollte, mit einem eingebildeten Rechten, den man zuvor hofiert hatte, in einen Topf geworfen zu werden. Die linke Identität ist ihr zum heiligen Gral geworden, dem die Wahrheit pflichtbewusst geopfert wird. So weit in der Entsolidarisierung von Sansal wie das linksradikale Wochenblatt unter Führung der Politkommissare Bernd Beier und Jörn Schulz ging kein anderes Medium außer der Jungen Welt. Selbstverständlich hat dies auch damit zu tun, dass in beiden Zeitungen der unvermeidliche deutsche Frankreich-Experte Bernard Schmid schreibt. Entscheidend aber war, dass die Abgrenzung zu dem, was als rechts, rechtsextrem oder faschistisch begriffen wird, längst zum inhaltslosen Hauptwiderspruch geworden ist. Der Vorwurf, der Sansal gemacht wird, besteht darin, einer missliebigen Publikation – dem französischen Youtube-Kanal Frontières – ein Interview gegeben zu haben, in welchem er zum einen die Westsahara-Frage im Sinne Marokkos beantwortete und zum anderen die unbequeme Wahrheit aussprach, dass der Westen Algeriens vor der französischen Kolonisierung eigentlich zu Marokko gehört habe. Frontières („Grenzen“) ist eine aus einem Youtube-Kanal entstandene rechte Zeitschrift und lädt sehr unterschiedliche Zeitgenossen zu Interviews ein. Von der Gesinnung der Interviewer auf die der Interviewten zu schließen, ist jedenfalls ein gewagtes Unterfangen. Sansal wird unterstellt, sich der Rechten – was immer das auch sein soll – angenähert zu haben. Der Begriff des Rechten meint wohl Faschisten, Nazis, Trump etc. Was konkret gemeint ist wird nicht benannt. Ein Konservativer? Ein Freund des Faschismus? Ein wirklicher Nazi? – rechts zu sein ist zum beliebigen Anwurf wie Sexist oder TERF (trans exclusionist radical feminist) geworden.
Sansal ist ein Linker, der seinen Bezugspunkt verloren hat, indem er die Wahrheit ausspricht, dass die Linke keine Freundin der Freiheit (mehr) ist. Er fordert, die Moscheen in Frankreich zu schließen, weil die Prediger aus Algerien die Exklusion und den Terror predigen. Er macht darauf aufmerksam, dass der Islam der Gegenwart keine Religion, sondern eine Ideologie ist, die Macht fordert. Der politischen Klasse wirft er vor, nicht zu verstehen, wie dieser Machtanspruch funktioniert und wie der Bürgerkrieg vorbereitet wird. In Frankreich werde die gleiche Strategie angewendet wie im Algerien der 1990er Jahren, warnt Sansal. Im Appeasement mit dem Islam sieht er den Untergang der Republik voraus und verweist in diesem Zusammenhang auf die algerische Situation: Es sei eben nicht notwendig gewesen, der islamistischen Bewegung nachzugeben, der blutige Bürgerkrieg hätte verhindert werden können, wenn die Machthaber bereit gewesen wären, eine wirkliche Nationwerdung zu ermöglichen. In diesem Zusammenhang hätte man die Frage der Kabylei, des berberischen Siedlungsgebietes an den Ufern des Mittelmeers zwischen Marokko und Tunesien, und die Frage der Staatsgrenzen zwischen Marokko und Algerien zum Thema machen müssen. Sansal kommt deshalb immer wieder auf die Frage der Nationwerdung und auf die der Grenzen des Nationalstaats in ihrer Beziehung zu seiner Geschichte zurück, weil er versteht, dass der Islamismus nur dort an Macht und Einfluss gewinnt, wo die Bildung von Nationen unmöglich ist oder verhindert wird. Das Wort Nation hat nicht von ungefähr etwas mit der Geburt zu tun – und der Islamismus ist heute überall eine Bewegung von wütenden Ungeborenen. In dem Interview, das der Vorwand für seine Festnahme war, sagt Sansal, dass es während des Algerienkrieges ein Abkommen zwischen dem FLN und dem marokkanischen Königshaus über die Gebiete im Westen Algeriens gab, die seit dem 15. Jahrhundert zum Königreich Marokko gehörten. Im Austausch für die marokkanische Unterstützung Algeriens im Unabhängigkeitskrieg war vereinbart worden, dass nach dem Sieg des FLN diese Gebiete an Marokko zurückgegeben würden. Nach dem Abzug der Franzosen 1962 wurden diese Vereinbarungen nicht eingehalten. Tatsächlich waren alle algerischen Machthaber nach 1962 marokkanischer Geburt – als würde man seinen marokkanischen Vater nicht kennen, wurde eben das Sansal zum Vorwurf gemacht.
Warum aber machen sich Linke mit diesem Schmutz gemein, könnte man sich fragen. Bernard Schmid schreibt in der Jungen Welt: „Hauptgrund für die Verurteilung Sansals war die Publikation eines Interviews mit dem französischen extrem rechten Magazin Frontières im Herbst. Darin behauptete Sansal, Algerien habe historisch keine wirkliche Identität – im Gegensatz zum Nachbarn Marokko, weil dieser Staat über eine stabile Monarchie verfüge. ‚Kleine Dinger‘, so wörtlich, wie Algerien seien deswegen in der Geschichte ‚leicht zu kolonisieren gewesen‘. Außerdem zählten weite Teile des algerischen Westens historisch zu Marokko. Was nachweislich falsch ist, bereits im 13. Jahrhundert existierte dort das Staatswesen von Tlemcen, später eroberte dann das Osmanische Reich das gesamte Land.“ (28.3.2025) Schon ein Blick auf Wikipedia eröffnet einem eine andere Perspektive: Algerien gab es bis zur französischen Kolonisierung deshalb nicht, weil diese erst die Grenzen seines heutigen Territoriums gezogen hat. Bis zu diesem Zeitpunkt blickte es auf eine bewegte Geschichte verschiedenster Herrschaftseinflüsse zurück, die die Namen von Karthago, Numidien, Rom oder Byzanz trugen. Darauf folgten verschiedene berberische Königreiche, die arabisch-islamische Expansion mit ihren Dynastien und schließlich das osmanische Reich der Türken. Sansal kann man dafür nicht verurteilen, der verhinderte Stalinist Schmid mag dies anders sehen.
Schmid schreibt weiter: „Nicht nur die Regierung, auch Teile der Bevölkerung zeigen sich von solchen Behauptungen schockiert. Zumal die bilateralen Beziehungen zwischen Marokko und Algerien notorisch angespannt sind. Dennoch handelt es sich nur um Worte, mit denen Sansal – dessen Bücher in Algerien bis zuletzt legal erhältlich waren, der jedoch kaum noch über Resonanz im Land verfügt, sondern hauptsächlich in Frankreich – den Interessen Algeriens kaum wirklich gefährlich werden kann. Tatsächlich dürfte Sansal vor allem eine Art Verhandlungsmasse zwischen Frankreich, das Sansal vorigen Oktober einbürgerte – obwohl dessen Code civil dies rechtlich bei Personen ohne Hauptwohnsitz im Inland ausdrücklich verbietet – und für postkoloniale Einmischungsversuche missbraucht, und Algerien bilden.“ (ebd.) Die kleine Einfügung mit der Volte gegen einen möglichen illegalen Migranten darf natürlich nicht fehlen, obwohl Sansal schon seit 2023 mit einem Teil seiner Familie in Frankreich lebt und – wie bereits beschrieben, aber von Schmid ignoriert – seine endgültige Übersiedlung nach Frankreich plante. Dass Schmid, wie auch andere Feinde der freien Rede, etwa in der FAZ, fortwährend behauptet, dass die Bücher Sansals in Algerien frei erhältlich seien, ist eine Lüge: Einige wurden verboten, andere werden unter dem Ladentisch verkauft. In den vergangenen zwei Jahren haben zahlreiche Autorinnen und Autoren aufgehört, unter ihrem Namen zu schreiben, ganze Verlagshäuser haben sich für insolvent erklärt – alle veröffentlichen nun, auch auf Arabisch, in Frankreich. Unter solchen Bedingungen kann kein Autor erfolgreich sein, der dem Regime nicht in irgendeiner Weise Honig ums Maul schmiert – und sei es, indem er betont, gegen Marokko und Israel zu sein. Umso erfolgreicher ist Sansal in Frankreich, nicht zuletzt bei den algerischstämmigen Franzosen. Bezeichnend ist, dass sich Schmid mit sich selbst und den Seinen nicht einigen kann, ob Frontières nun „extrem rechts“, „rechtsextrem“, „rechts“, „faschistisch“ ist oder nur von einem „Rechtsextremen“ gegründet wurde.
Sansal hat die Wahrheit gesagt, auch wenn Schmid sie als – was immer das sein soll – „geschichtswidrig“ bezeichnet, ohne genau zu zitieren, weil Unterstellungen offenbar genügen. (Jungle World, 49/2024) Neben Sansal stehen auch zahlreiche andere algerisch-stämmige Intellektuelle im Fadenkreuz der Islamo-Linken, die ihnen unterstellt, zu den Rechten übergelaufen zu sein. (4) Das gilt etwa für den Schriftsteller Kamel Daoud, der für das liberale Magazin Le Point schreibt, und dessen Roman Houris im vergangenen Jahr den Prix Goncourt, den wichtigsten französische Literaturpreis, gewann, und der führend ist in den Bemühungen um die Freilassung von Sansal: Wäre es nicht Sansal gewesen, hätte es Daoud getroffen.
In seinem Roman beschreibt Daoud das Schicksal einer Frau, die schwer verletzt einen Mordversuch durch Islamisten überlebt. Damit brach er das Schweigegebot über die Jahre des Bürgerkriegs; allerdings nicht als einziger. In den letzten zwei Jahren erschienen immer mehr Bücher über den Bürgerkrieg – schon deswegen muss das Schweigegebot umso aggressiver durchgesetzt werden. In Frankreich geht das nicht, deswegen inszenierten zahlreiche regimetreue Franko-Algerier eine Hetzkampagne gegen den Autor. Da Algerien keine klassische Kolonie war, sondern zum Teil Frankreichs erklärt wurde, gelten bis heute besondere Gesetze über die Einreise algerischer Bürger nach Frankreich und den Austausch und die Anerkennung von Ausbildungen. Im Zuge der Radikalisierung des Regimes werden diese Abkommen nun zunehmend von französischer Seite infrage gestellt, was Frankreich wiederum den Vorwurf einhandelt, neokolonialistisch zu handeln. Die massive Kritik, die algerische Intellektuelle in Frankreich an Algerien äußern, ist längst zum zwischenstaatlichen Problem geworden.
Etwas mehr als einen Monat vor der Festnahme Sansals hatte auch die Jungle World dazu beigetragen, diesen ins Fadenkreuz zu rücken: „Manche algerischstämmige Persönlichkeiten wiederholen die Argumente der Rechten, gestützt auf eine selektive Sicht der Geschichte. So Boualem Sansal, der Autor des 1999 erschienenen Romans Le Serment des barbares (‚Der Schwur der Barbaren‘), der den Bürgerkrieg behandelt. Auch Mohammed Sifaoui wird von den Konservativen hofiert, um über den Islamismus zu sprechen. Daoud, Sansal und Sifaoui sind drei Zeugen des algerischen Bürgerkriegs, einer traumatisierenden Phase, deren Ereignisse sie so vereinfachen, dass sie mit einer Erzählung über einen ‚Kampf der Zivilisationen‘ kompatibel werden. Es wäre verlockend, sie auf die Rolle einer Art ‚einheimischer Informanten‘ oder Vorzeigearaber zu reduzieren, die französischen Rechten aufgrund ihrer Herkunft helfen, sich von Rassismusvorwürfen zu entlasten, während sie gegen Muslime, Einwanderer und gegen die dekoloniale, ‚woke‘ Linke wettern. Tatsächlich sollte man allerdings ernst nehmen, dass sie den französischen Nationalismus mittragen, weil ihnen dieser etwas zu bieten hat“, schreibt Nedjib Sidi Moussa in der Ausgabe aus Marseille (Jungle World, 41/2024). Demgegenüber muss der Autor sich im selben Artikel zu einer Kritik an der Haltung französischer Linker zum algerischen Regime merklich durchringen. Deren Kampf gegen „den anhaltenden Rassismus in der französischen Gesellschaft“ gehe „öfter auch mit einer Idealisierung des algerischen Nationalismus oder des postkolonialen Regimes einher. Ein Beispiel lieferte eine Europaabgeordnete von La France insoumise (LFI), Rima Hassan, die nach einem Aufenthalt in Algier am 9. Juli auf X mitteilte: ‚Das Mekka der Revolutionäre und der Freiheit ist und bleibt Algerien. Tel Aviv ist die Hauptstadt eines faschistischen Regimes und eines Apartheidstaats.’“
Rima Hassan ist nicht bloß eine Europaabgeordnete – sie ist von LFI als die Galionsfigur ihrer Kampagne gegen Israel aufgebaut worden und hatte zum Zeitpunkt des Erscheinens von Sidi Moussas Artikel bereits ein geschlagenes Jahr lang seit dem 7. Oktober 2023 überall in Frankreich mit dem Segen des Parteiführers Jean-Luc Mélenchon an den Universitäten und auf den Straßen den antisemitischen Mob angefeuert. Ihre skandalöse Äußerung auf X nicht als den kalkulierten Tabubruch zu bezeichnen, der er war, sondern ihn als Ausdruck einer Idealisierung zu verniedlichen, als wenn es sich dabei um ein Versehen handelte, eine aus Überschwang entstandene Übertreibung: Darin spricht der Autor nolens volens aus, dass die Distanzierung eine Pflichtübung ist. Algerische Intellektuelle, die vor dem wachsenden Einfluss des Islamismus warnen, sind Moussa zufolge hingegen bloß kühl kalkulierende Köpfe, denen der französische Nationalismus wohl etwas zu bieten habe. Man könnte auch sagen: Selbstverständlich ist die Republik im Gegensatz zum islamisch-arabischen Einheitsstaat ein gutes Angebot für Leute, die ihre Freiheit schätzen. Gemeint ist aber, dass sich hier einzelne Intellektuelle rücksichtslos und feige mit der Macht gemein machen, um ihren Platz an der Sonne zu sichern. Wie wenig die sehr bemühte und halbherzige Kritik an der Linken in Moussas Text den Überzeugungen seines Autors entsprach, machte eine Woche nach der Geiselnahme Sansals ein Auftritt des französischen Politologen mit algerischen Wurzeln an prominenter Stelle in der französischen Medienlandschaft deutlich. In der Talk-Sendung C Politique des öffentlich-rechtlichen Fernsehkanals France 5 vom 24. November, die sich der angespannten französisch-algerischen Aktualität widmete, trat Moussa unter fünf eingeladenen Gästen als der aggressivste Denunziant Boualem Sansals und Kamel Daouds in Erscheinung. Bebend vor Zorn denunzierte er beide als rechte Hetzer (5). Nicht auszumalen, wie groß die Empörung wäre, würden solche Anwürfe etwa gegen kritische, womöglich kurdische, Intellektuelle in der Türkei veröffentlicht. Dass derartige Denunziationen sich im Angesicht eines autoritären Regimes, das Leute auch gern mal ermordet, verbieten, hat die Jungle World offensichtlich vergessen.
Dazu kommt der Umstand, dass Autoren wie Sansal schon vor Jahren nicht anders als heute gesprochen haben, als sie noch in linken Zeitungen wie der Jungle World interviewt wurden. „Im Grunde ist der traditionelle Islam schon lange verschwunden,“ sagte Sansal etwa 2013 in einem Interview mit Bernd Beier und Magnus Klaue (Jungle World, 48/2013): „Definiert war er durch die Einheit von Religion und Staat. Seinen Staat hat der Islam schon im 12. Jahrhundert verloren. Seither hat er sich in unterschiedliche Bewegungen zersplittert, die sich auch untereinander bekämpfen. Übrig geblieben war die Religion, aber auch eher nur als eine Art Routine, die sich um die Moscheen zentrierte, die es in jedem Ort gibt. Doch die Religion, wie sie dort praktiziert wurde, war primitiv, eher auf dem Stand von Magie. Deshalb wollte man den Islam wieder zur Sache des Staates machen. Man hat dem Islam Verfassungsrang verliehen, es wurden Imame ausgebildet. Das alles war aber bereits eine Folge der Zersplitterung des Islam. Diese Islamisierung war vor allem eine Gegenbewegung: gegen den Zerfall des traditionellen Islam, gegen den Kolonialismus, gegen den Westen, gegen die modernen Frauen, gegen die Kopten, gegen die Juden und Israel […] Dieser Islam konstituiert sich durch den Hass auf die anderen. Auch auf die Neureichen übrigens: In der muslimischen Welt hat man nie diejenigen umgebracht, die immer schon reich waren, sie wurden als Teil der eigenen Kultur geschätzt. Man tötete die neuen Reichen, die Aufsteiger, die gestern noch einfache Funktionäre gewesen waren, weil man sie als Eindringlinge empfand.“
Solche Sätze würden heute in der Jungle World des Bernd Beier nicht mehr erscheinen. Heute kommentiert dieser das Urteil gegen Boualem Sansal so: „Nichts von den Vorwürfen hält einer kritischen Überprüfung stand; inwiefern irgendwelche unbedeutenden Äußerungen eines Schriftstellers gegenüber einem weithin unbekannten Magazin in einem anderen Land die Sicherheit Algeriens gefährden, erschließt sich nicht. De facto ist Boualem Sansal eine Geisel des algerischen Regimes, das sich seiner im Konflikt mit dem französischen Staat bedienen möchte. Der französische Staatspräsident Emmanuel Macron hatte im Sommer vorigen Jahres den Anspruch Marokkos auf die Westsahara anerkannt, sehr zum Leidwesen des algerischen Staats, der die Unabhängigkeitsbewegung Frente Polisario unterstützt.“ (6) (Jungle World, 41/2024) Nun waren die „unbedeutenden Äußerungen […] gegenüber einem weithin unbekannten Magazin“ der Grund, Sansal die wahrscheinlich ungeheuer bedeutende Solidarität seitens der Jungle World zu verweigern, hieß es doch in der „Home Story“ der Wochenzeitung vom 28.11.2024, zwei Wochen nach dessen Verhaftung: „Inzwischen wirkt (Sansal) bei Frontières mit, einem französischen Medienportal, das der Rechtsextreme Eric Tegnér 2021 gründete. Es wird angenommen, dass ein dort veröffentlichtes Interview den algerischen Behörden nun als Vorwand für die Verhaftung des Schriftstellers dient, dessen Romane in seinem Herkunftsland stets verboten waren. Darin konstatiert er einen historischen Anspruch Marokkos auf heutige algerische Gebiete.“ (Jungle World, 48/2024) Eine glatte Lüge, die die Entsolidarisierung begründen soll. Sansal hat den historischen Anspruch nicht „konstatiert“, er hat die Geschichte erzählt, wie die Unterstützung des algerischen Unabhängigkeitskampfes durch Marokko an die Veränderung der Grenzen geknüpft war und wie der FLN es nach 1962 dann anders gesehen hat und dies zu jahrelangen militärischen Auseinandersetzungen führte.
Eine Woche später, am 5.12.2024, durfte dann Bernard Schmid nachlegen: „Mittlerweile hat sich Sansal politisch nach rechts bewegt. Dem eher wirtschaftsliberalen Magazin Atlantico sagte er jüngst, die Linke – er differenzierte nicht näher zwischen Strömungen oder Parteien – wolle Frankreich mit Migranten überschwemmen, ‚weil sie die Franzosen verachtet und die Weißen mit blauen Augen ausrotten will‘. ‚Die Linke‘ wolle ‚einen Strafsozialismus einführen und das Volk aushungern‘.“ (Jungle World, 49/2024) Tatsächlich hatte Sansal etwas ausführlicher geantwortet und eine solche Entstellung des Zitats hätten die Politkommissare von der Chefredaktion oder vom Lektorat vor wenigen Jahren noch nicht durchgehen lassen: Auf die Frage, warum es der Linken so schwer falle, auf Ereignisse wie den Pogrom von Amsterdam am 7.11.2024 mit 25 zum Teil schwer Verletzten angemessen zu reagieren, antwortete Sansal: „Die Linke hat keine Schwierigkeiten, sie ist ganz eins mit sich, sie hat sich für eine Seite entschieden und macht daraus keinen Hehl, das muss man anerkennen. Sie will Frankreich zerstören, sie verachtet die Franzosen und will die blauäugigen Weißen ausrotten (6), die Grenzen für Migranten aus dem globalen Süden öffnen, die am Tag X [der Machtübernahme der Linken, Anm. TK u. JN] ihr Kanonenfutter sein werden, sie unterstützt die Hamas und versteht die Hisbollah, sie liebt die Diktatoren des Globalen Südens, sie verehrt den Islam und versteht den Islamismus und seine Auswüchse, und sie hasst Katholiken und Juden, sie will einen Strafsozialismus einführen und das Volk hungern lassen, um es zu disziplinieren, usw. usw.“ (Atlantico, 17.11.2024) (7) Das ist ein anderer Ton, als der in der Schmid’schen Verkürzung: schärfer, deutlicher und klarer – und: Sansal hat sich bewegt, er spricht die Sprache derer, die ihm ein Forum geben, aber es gibt keinen Hinweis darauf, dass er dadurch sich „politisch nach rechts bewegt“ hat – es sei denn, die Werte der Laizität, der Republik, der Gleichberechtigung und der freien Rede zu vertreten, wäre heute rechts. Das ist denn auch, was Schmid und Beier insinuieren.
Tatsächlich geht es darum, dass Sansal eigentlich nichts anderes sagt als vor zehn Jahren, er tut es vielleicht pointierter und polemischer, weil er sich nicht mehr an linke Rücksichtnahmen gebunden fühlt, aber an den Inhalten hat sich nichts geändert. Was sich geändert hat, sind die Frontières dessen, was sagbar ist in der Jungle World und in anderen linken Medien. Der identitäre Wahn hat sie alle erfasst, und bestimmt, was veröffentlicht und in volkspädagogischer Absicht an die Leserschaft weitergegeben werden soll, wofür die lügenhaften Auslassungen stehen. Die Leserschaft könnte beginnen, Fragen zu stellen: Wozu der ganze Hype um einen unbedeutenden Autor, der unbedeutende Sachen in einer unbedeutenden Zeitschrift sagt? Umgekehrt: Wenn Sansal ein Faschist geworden ist – wie kann er da dem antifaschistischen Befreiungsregime in Algier und der antifaschistischen Wochenzeitung in Berlin gleichgültig sein?
Seit 2016 hat sich die linke Welt ausgehend von Frankreich stark verändert. Stand dort zumindest ein Teil der Linken zunächst in Opposition zur Wokeness und zum Postkolonialismus und sah in ihnen zurecht Einfallstore des Antisemitismus und des Islamismus, der Segregation und der Abschaffung universeller Werte, wurde mit der zunächst kontrovers diskutierten postkolonial-antisemitischen Brandschrift Les Blancs, les Juifs et Nous (Die Weißen, die Juden und wir) von Houria Bouteldja, der Gründerin der rassistisch-antisemitischen Partei Les Indigènes de la Rèpublique (Die Eingeborenen der Republik), im linken Verlag La fabrique 2016 eine ganz andere Entwicklung freigesetzt. Die algerisch-stämmige Französin erklärt darin, dass der Holocaust für „den Süden weniger als ein Detail“ darstelle – eine überdeutliche Anspielung auf Jean-Marie Le Pen, der 1987 erklärt hatte, dass die Gaskammern lediglich „ein Detail der Geschichte des Zweiten Weltkriegs“ gewesen seien, was damals eine klare Parteinahme für die französischen Leugner des Holocaust gewesen war. Bouteldja gefällt sich darin, Le Pens Tabubruch rhetorisch zu übertreffen, und sie hat die ideologische Trumpfkarte des globalen Südens in der Hand: Wer für sich in Anspruch nimmt, im Auftrag des globalen Südens zu sprechen, kann das Tabu der Holocaustleugnung straflos brechen, denn der globale Süden ist qua Herkunft unschuldig und darf alles. Die postkoloniale Autorin ist zynisch genug, die Juden dazu aufzurufen, nicht länger den rassistischen Staat Israel zu unterstützen und sich stattdessen der anti-weißen Revolte des Südens anzuschließen. Das kann sie nur, indem sie die islamische Unterdrückung der Juden leugnet, indem sie sie verschweigt – und niemand im kulturellen Establishment des Westens fühlt sich dazu aufgerufen, sie daran zu erinnern.
Bouteldjas Buch wurde zwar in Frankreich zunächst mit einer geharnischten Kritik konfrontiert, doch im woken Amerika hat sie seither kräftig abgeräumt. Dort wurde „Die Weißen, die Juden und wir“ im Verlag der renommierten Elite-Universität MIT – wohl nicht zufällig der historische Wirkungsort Noam Chomskys – übersetzt, von der Princeton-und-Harvard-Ikone Cornel West mit einem Vorwort nobilitiert – herausgegeben und von der akademischen Welt der USA mit Ehrfurcht und Anerkennung diskutiert. Zwar ist Bouteldja in Frankreich in den bürgerlichen Medien weiterhin, ebenso wie der antisemitische Agitator Dieudonné, persona non grata. Doch mit ihrem Durchbruch im US-amerikanischen akademischen Milieu ist ihr etwas gelungen, was dem weniger intellektuell versierten Dieudonné verwehrt bleibt. Seit intellektuelle Größen des anti-westlichen Westens wie Annie Ernaux, Ilan Pappé, Sylvère Lotringer und Sarah Schulman sie ihrer Unterstützung gegen ihre Kritiker versichert haben, kann Bouteldja darauf hoffen, dass sich ihr in Zukunft weitere Türen öffnen werden. Was Jean-Marie Le Pens Untergang besiegelte, sichert ihr den Aufstieg. Wenn die Leugnung des Holocaust glaubhaft versichern kann, dass sie nichts mit „Weißen” zu tun hat, ist ihr der Zuspruch des antibürgerlichen bürgerlichen Establishments gewiss.
Nach und nach haben sich inzwischen alle linken Bewegungen zu ihrer „weißen“ Schuld bekannt und wollen mit Juden nichts mehr zu tun haben. Die Linke ist der postkolonial-antisemitischen Erpressung erlegen und sie macht in pathisch-projektiver Weise ihren Verrat ausgerechnet jenen zum Vorwurf, die ihn benennen. In diesem Lichte betrachtet enthüllt sich die Sansal durch die Jungle World schulmeisterlich erteilte Rüge, nach rechts abgewandert zu sein, als nichts weiter als der Unmut darüber, dass ein unabhängiger Intellektueller sich der selbstauferlegten Zensur nicht unterwirft. Man scheint es als selbstverständlich zu erachten, dass ein Bruch des linken Schweigegebots geahndet werden muss – und Sansal entsprechend zu behandeln ist: wie jemand, der die linke Mafia verraten hat. Darin sind die Auffassungen des algerischen Regimes und der westlichen Linken einander wesensverwandt.
Könnte die allerorts vorgetragene Klage linker Zeitschriften, dass ihnen die Leser davonlaufen, nicht damit zusammenhängen, dass hoffnungsvolle Aufbrüche – für die etwa die im „antideutschen Frühling“ 1997 gegründete Jungle World steht – immer wieder aufs Neue von einem pathologischen Zwang zum ideologischen Strammstehen eingeholt werden? Im Interview mit Atlantico bringt Sansal kurz vor seiner Geiselnahme auf den Punkt, was eigentlich notwendig wäre: „Wir müssen uns aus der Erpressung befreien und sie nicht länger akzeptieren, denn genau darum geht es: um Erpressung, um sich zu legitimieren, sich zu befriedigen, Profit daraus zu schlagen. Auf der anderen Seite müssen wir uns gegen den Dolorismus [die ideologische Verherrlichung des körperlichen Leidens und Schmerzes, Anm. J.N. / T.K.], Diskursismus, koloniale Schuldgefühle, Wokismus und Covid-Memorialismus immunisieren.“ (ebd.) Wenn die Linke historisch etwas mit Freiheit und Gleichheit und Brüderlichkeit zu tun hätte, so würde sich einer ihrer Vertreter heute äußern. Die Jungle World hingegen führt sich auf, als wäre sie heute schon ein Wochenblatt aus der algerischen Provinz.
Joel Naber / Tjark Kunstreich (Bahamas 96 / 2025)
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