Mit sensationellen 8,8 Prozent der Stimmen feierte Die Linke bei der Bundestagswahl 2025 eine „triumphale Rückkehr aus dem politischen Totenreich“. (FAZ) Laut einer Wahlanalyse der parteieigenen Rosa-Luxemburg-Stiftung blickten selbst langjährige Parteimitglieder „verwundert“ auf die jüngsten Ereignisse: „Die Dynamik, die sich rund um die Linke entfaltet, ist beeindruckend. Es handelt sich faktisch um eine Neugründung der Partei: rund 60 Prozent der Mitglieder der Linken sind seit der Bundestagswahl 2021 eingetreten, mehr als 50 Prozent seit dem Abgang von Wagenknecht.“ (rosalux.de) Dieser Zustrom vornehmlich junger urbaner Menschen bescherte der Partei einen neuen Mitgliederrekord (fast 100.000), der sich auch im Wahlergebnis ausdrückt: Unter den 18- bis 24-Jährigen war Die Linke mit 25 Prozent stärkste Kraft und erreichte bei Erstwählern sogar 27 Prozent. Andererseits wählten nur acht Prozent aller Arbeiter und neun Prozent aller Angestellten die Partei. (tagesschau.de) Während sich bei den 25- bis 34-Jährigen noch 16 Prozent für die Partei entschieden, reduziert sich der Stimmenanteil mit steigendem Alter der Wähler stetig bis auf etwa 5 Prozent bei den über 45-Jährigen.
Die unter 25-Jährigen Wähler sind meist Gymnasiasten, Bachelor-Studenten und Praktikanten, die 25- bis 34-Jährigen sind entweder Master-Studenten, immer noch Praktikanten, prekär Beschäftigte oder arbeiten im sozialen Bereich. Die meisten von ihnen werden das Einkommensniveau ihrer Eltern nicht erreichen und wissen, dass das WG-Zimmer oder die 1-Raum-Wohnung in unattraktiven Quartieren längst kein Provisorium vor dem Einstieg ins Berufsleben mehr ist. Gründe zur Unzufriedenheit mit den eigenen Perspektiven gibt es genug und der Eindruck, dass die Pfründen unwiderruflich verteilt seien, ist mehr als der Ausdruck stumpfen Sozialneids. Schon deshalb könnte die Entscheidung im Februar 2025, die unter den Erstwählern jahrzehntelang favorisierten Grünen nicht mehr zu wählen, ein Hinweis auf gewachsenen Realitätssinn sein. Wäre die Linkspartei eine Pogopartei, die dem rotgrünen Establishment den Stinkefinger zeigt, bräche mit Gebräuchen, dem Habitus und vor allem einer Utopie genannten autoritären Bevormundung, dann hätte am 23. Februar zwar auch keine politische Alternative zur Wahl gestanden, aber wenigstens die kompromisslose Verweigerung. Stattdessen haben 27 Prozent der Erstwähler sich als Verantwortungsträger hervorgetan und für die denkbar brutalste Krisenlösung votiert, dem Bündnis aus Volkssolidarität und Moschee.
Der Erfolg der verjüngten Linkspartei mit Anführern wie der Spitzenkandidatin Heidi Reichinnek und dem Wahlsieger von Berlin-Neukölln, Ferat Kocak, verdankt sich paradoxerweise einem Aderlass an Mitgliedern und prominenten Funktionären.
Ein entscheidender Hinweis auf eine neue „Dynamik“ findet sich im deutschsprachigen Ableger der stramm antizionistischen Zeitschrift Jacobin, die bis 2023 von der heutigen Parteivorsitzenden Ines Schwerdtner geleitet wurde: „Der Abgang Wagenknechts einerseits und der Gruppierung um Klaus Lederer andererseits hat der Partei gut getan.“ (jacobin.de) Die Entstehung des BSW und der Machtverlust prominenter Berliner Genossen um den früheren Kultursenator Klaus Lederer, die sich von linkem Antisemitismus distanzieren, haben den Weg für eine Partei neuen Typs geebnet, die ohne falsche Rücksichtnahme auf eine zum Schimpfwort verkommene „german guilt“ endlich zu dem aufschließen kann, was global als links gilt.
An den Inhalten kann es nicht gelegen haben, denn mit Slogans gegen zu hohe Mieten oder zu geringe Sozialhilfesätze gewinnt man keine Wahlen – und auch beim Thema Frieden ist die Konkurrenz zu stark. Die Erfolge von Wagenknechts neuem Bündnis ließen noch im Herbst 2024 ein Wahldesaster für die Linkspartei auf Bundesebene wahrscheinlich erscheinen. Doch obwohl am 23. Februar 340.000 vormalige Linkspartei-Wähler, die in ihrer Mehrheit über 34 Jahre alt gewesen sein dürften, das BSW gewählt haben, drehte sich zum Jahreswechsel der Trend. Ausschlaggebend kann nicht das Appeasement gegenüber Russland gewesen sein – da nehmen sich beide Parteien kaum etwas – sondern ausgerechnet die Zustimmung zu der von der Mehrheit der Bevölkerung abgelehnten unkontrollierten Einwanderung vorwiegend muslimischer Männer.
Die alte Linkspartei hatte sich mit der Spitzenkandidatin Carola Rackete, die als lebensrettende Kapitänin ganz auf offene Grenzen gesetzt hatte, im Juni 2024 bei der Europawahl mit 2,8 Prozent der abgegebenen Stimmen gegenüber 2019 halbiert. An diesem Kurs ein Jahr später umstandslos anzuknüpfen, wäre politischer Selbstmord gewesen. Entsprechend hat die Linkspartei neuen Typs mit ihrer Forderung nach offenen Grenzen eine entscheidend andere Willkommenskultur propagiert als ihre Vorgängerin und setzte auf die Ermächtigung von Flüchtlingen und der zum Teil schon in der dritten Generation in Deutschland lebenden bekennend moslemischen Bevölkerung, sich nicht nur über die Außengrenzen hinwegzusetzen. Im Inneren werden die Einwanderer darin bestärkt, auch die Grenzen außer Kraft zu setzen, die das Strafgesetzbuch und die Jobcenter mit ihrer Aufforderung, jede zumutbare Arbeit aufzunehmen, festlegen. Der Neuköllner Bezirksverband der Linkspartei, der sich vom ungeliebten Schmuddelkind zur Avantgarde der erneuerten Partei gemausert hat, agitiert schon seit 2019 gegen die Charakterisierung bestimmter Migranten als Angehörige von Familienclans und die damit verbundenen Razzien gegen vor allem arabische Gewerbetreibende wegen Drogenhandels, Hehlerei, Schwarzarbeit und Steuerhinterziehung.
Dieses Empowerment der Marginalisierten, das in Wirklichkeit auf die Selbstermächtigung weißer Großstadtbewohner abzielt, irgendwie Rache am „System“ zu nehmen, noch nicht einmal bemerkt zu haben, gehört zu den Glanzleistungen der Kommentatoren der Bundestagswahl. Die FAZ zum Beispiel zählte in ihrer Wahlanalyse lediglich die Gründe für eine Wahlniederlage der Linkspartei auf, denn auch das von ihr angeführte „gute Gewissen“ in Sachen Antifaschismus ist ja kein Alleinstellungsmerkmal der Linken, sondern traditionell auch eine Domäne von SPD und Grünen: „Die allgemeine Freude über den Erfolg der Linken übersieht, dass sie programmatisch ein Äquivalent zu AfD und BSW darstellt: russlandfreundlich, NATO-feindlich, euroskeptisch, elitenkritisch und das alles mit dem munter vorgetragenen Anspruch von Radikalität – bei gutem Gewissen, weil es ja gegen den Faschismus geht“. (FAZ, 25.2.2025)
In ihrem Selbstverständnis ist Die Linke „der natürliche Gegenpol der AfD“ (rosalux.de, a.a.O.) und anscheinend sehen das fast neun Prozent der Wähler, von denen 600.000 von den Grünen abgewandert sind, genauso. Mit dem Antifaschismus der Linkspartei verhält es sich ähnlich wie mit ihrer etwas anderen Willkommenskultur: Ohne es an die große Glocke zu hängen, ist sie ihrem Selbstverständnis nach längst Migrantifa und vermochte nicht nur die CDU im Januar 2025 als Steigbügelhalter eines neuen Faschismus zu entlarven, sondern auch SPD und Grüne als unnatürliche Kantonisten im Kampf gegen rechts zu disqualifizieren. Statt einzuräumen, dass AfD und Linkspartei außer in ihrem Bündnis mit Russland alles trennt, was schon in der Wahlnacht am schlechten Abschneiden des BSW, das den Spagat zwischen AfD-Forderungen und linker Programmatik versucht hat, abzulesen war, beharren die liberalen und konservativen Meinungsmacher darauf, dass Linkspartei und AfD zwei Seiten der gleichen Medaille wären und beschwören den nahenden Untergang: „Die gegenseitig behauptete Opposition ist eine rein rhetorische; faktisch verstärken sich beide Ränder durch ihre Verweigerungshaltung gegenüber jenen Werten, die von ihnen als überkommene Relikte der Mitte denunziert werden – konkret als Absage an das, wofür die bundesrepublikanische Nachkriegsordnung stand.“ (ebd., Hvh. d.A.)
In einem gemeinsamen Text umreißen der erfolgreiche Leipziger Linken-Politiker Nam Duy Nguyen, der Gewinner des Neuköllner Direktmandats Ferat Kocak und der Stuttgarter Luigi Pantisano bündig das Parteiprogramm: „Wir wollen, dass Die Linke eine Klassenpartei wird. Wir sind nicht umsonst Sozialist*innen. Unsere Klasse ist riesig und divers. Zu ihr gehören die migrantische Pflegekraft, der ostdeutsche Wendeverlierer und die queere Aktivist*in in akademischer Kettenbefristung gleichermaßen. Wir kämpfen für alle.“ (ND, 06.3.2025) Die bulgarische Pflegehelferin, die ein „migrantisch“ umgehängt bekommt, der Leipziger Freund der mörderischen Hammerbande, die schwäbische Neuberlinerin, die ihre merkwürdigen also queeren Vorlieben auf arabische Jungmänner überträgt und der Stipendiat der Rosa-Luxemburg-Stiftung, der sich mit schlecht bezahlten Lehraufträgen im Bereich postcolonial studies über Wasser hält und sich schon deshalb mit Beiträgen für das Feuilleton des extrem israelfeindlichen Neuen Deutschland ein Zubrot verdient wie coronageschädigte Ideologiekritiker auch – das sind zwar bei weitem nicht alle, aber alle sind sie divers, nämlich „im Hinblick auf Alter, Hautfarbe, Geschlecht, Weltanschauung, sexuelle Orientierung oder Behinderungen. […] Vorurteilen und Ablehnungen“ ausgesetzt, die „zu Benachteiligung und Diskriminierung führen.“ (fes.de, Glossar der Diversität)
Diese Klasse, in der die Pflegehelferin nur als Verdammte dieser Erde im Sinne von Frantz Fanon beziehungsweise des Intersektionalismus vorkommen darf und nicht als Arbeiterin, präsentiert sich als Gemeinschaft von Kümmerern, denen ein Leid angetan wurde. Die Linkspartei behauptet, für alle zu kämpfen, weil sie den vernachlässigenswerten Rest, ohne den echte Volksgemeinschaft nicht auskommt, schon vorab ausgesondert und als faschistisch gebrandmarkt hat. In der wahlentscheidenden Kampagne gegen rechts im Januar und Februar 2025 hat die Linkspartei Friedrich Merz nicht deshalb als Nazi in Verruf gebracht, weil er alt, männlich und reich ist, sondern weil diese Merkmale zusammen eine Feinderklärung ergeben, auf die sich Linke nicht erst im Jahr 2025 weltweit einigen können. Dass Merz am 24.2.2025 in einem Telefonat zugesagt hatte, dass er für den Fall eines Besuchs Benjamin Netanyahus „Mittel und Wege finden werde, dass er Deutschland besuchen und auch wieder verlassen kann, ohne dass er in Deutschland festgenommen“ wird und dem noch hinzufügte: „Ich halte es für eine ganz abwegige Vorstellung, dass ein israelischer Ministerpräsident die Bundesrepublik Deutschland nicht besuchen kann“, unterstreicht, warum es sich bei ihm um einen Faschisten handeln müsse. (Welt, 25.2.2025)
Als nach dem Berliner Landesparteitag im Oktober 2024 der langjährige Landesvorsitzende und ehemalige Kultursenator Klaus Lederer sowie vier weitere prominente Linken-Politiker ihren Parteiaustritt erklärten, war die Aufregung nicht so groß, wie es sich die Lederer-Truppe, der das schlechte Ergebnis bei der Abgeordnetenhauswahl 2023 angelastet wird, wohl erhofft hatte. Lediglich von „großem Bedauern“ und einem „schmerzlichen Verlust“ war von Seiten der Bundesgeschäftsführung unmittelbar nach dem Austritt die Rede, bevor man wieder zur Tagesordnung überging. (die-linke.de)
Hintergrund war der Streit über eine Passage im Antrag „Gegen jeden Antisemitismus – Emanzipation und universelle Menschenrechte verteidigen!“, den die Genannten mit mehreren Dutzend anderen Genossen eingebracht hatten. Die Mehrheit der Delegierten nahm daran Anstoß, dass in dem Antrag „von sich politisch links verortenden Menschen“ die Rede war, die das Hamas-Massaker am 7. Oktober „relativiert und mitunter gar gefeiert […] oder gar zur Vernichtung Israels aufgerufen“ hätten. Im Wortlaut: „Dass von sich politisch links verortenden Menschen in Berlin das Massaker der Hamas vom 7. Oktober 2023 u.a. an Kleinkindern, Familien und Festivalbesucher*innen relativiert und mitunter gar gefeiert wurde oder zur Vernichtung Israels aufgerufen haben, alarmiert uns zutiefst. Niemals dürfen Linke die Rolle des eliminatorischen Antisemitismus ignorieren, der den Terror und die Strategien von Akteuren wie der Hamas und der Hisbollah sowie deren Unterstützung durch das iranische Mullah-Regime antreibt. Die Hass-Propaganda solcher sich als ,Befreiungsbewegungen‘ gerierenden Akteure verfängt mehr denn je auch hier.“ Mit knapper Mehrheit wurde ein Änderungsantrag beschlossen, der die erwähnte Stelle so abwandelte: „Dass Menschen in Berlin das Massaker der Hamas vom 7. Oktober 2023 u.a. an Zivilist*innen, darunter Kleinkindern, Familien und Festival-besucher*innen und asiatischen Arbeitsmigrant*innen relativiert und mitunter gar gefeiert haben, kritisieren wir entschieden.“ (Hvh. d.A.) Von den sich „politisch links verortenden Menschen“ blieben noch Menschen übrig und auch der Verweis auf die intendierte Vernichtung Israels wurde kassiert. Daraufhin zogen die Antragsteller ihren Antrag zurück und verließen den Sitzungssaal.
Dabei waren Lederer & Co. mit ihrem Antrag schon ganz auf der neuen Linie und hatten ein Bekenntnis abgegeben, das einem Ferat Kocak nach dem Munde redete: „Wir wenden uns in aller Deutlichkeit gegen die von rechter und konservativer Seite permanent vorgenommene pauschale Verdächtigung von Muslim*innen, Palästinenser*innen, Geflüchteten und Menschen mit Migrationsgeschichte. Aus diesem Generalverdacht sprechen Ressentiment und Rassismus. Ebenso wie die Rede von einem ‚importierten Antisemitismus‘ dient er vor allem der Selbstentlastung einer Mehrheitsgesellschaft, die vor den Kontinuitäten des nie verschwundenen Antisemitismus die Augen verschließt. Wir lassen nicht zu, dass die Kämpfe gegen Rassismus und Antisemitismus gegeneinander ausgespielt werden.“ (dielinke.berlin) Die Linke geriert sich gern als eine Partei des Konsenses. Die Gruppe um Lederer wurde abgestraft, weil ein der Mehrheit deutlich näher stehender Aktivist des Neuköllner Bezirksverbands schweren Herzens geopfert werden musste: Ramsis Kilani. Der hatte die Hamas für ihren Überfall auf Israel am 7. Oktober gefeiert und sich gegenüber der Taz als einen „Kopf der Palästina-Bewegung“ bezeichnet. Im Januar 2025 wurde Kilani endgültig wegen parteischädigendem Verhalten ausgeschlossen, weil er in einem Tweet geschrieben hatte: „Wir sind bereit, den antikolonialen Befreiungskampf durchzuziehen und international zu unterstützen. Ich denke, es wird mehr als ‚einen Mord an Israelis‘ brauchen.“ (z.n. ND, 11.12.2024) Zuvor hatte sich der Vorstand des Neuköllner Bezirksverbandes unter Ferat Kocak ausdrücklich hinter Kilani gestellt. Aus Protest gegen den Rauswurf des Genossen verließ die frühere Bundestagsabgeordnete und antisemitische Scharfmacherin Christine Buchholz mit einigen anderen Genossen ebenfalls die Partei. Auch das steht, wie der Austritt des Lederer-Flügels, für eine tiefergehende Veränderung. Trotzkistische U-Boote wie Christine Buchholz, die zuletzt der Gruppierung Sozialismus von unten vorstand, stehen für einen traditionellen Antiimperialismus, der zwar inhaltlich von allen Linken geteilt wird, aber wegen seiner allzu krassen Wortwahl als parteischädigend gilt. Die auf die Vernichtung Israels abzielende Position von Gestalten wie Kilani und Buchholz wurde durch die Bestrafung von Leuten bekräftigt, die im Verdacht stehen, am Existenzrecht Israels festzuhalten.
Was vordergründig wie die Wahrung der alten innerparteilichen Parität wirkt, war in Wirklichkeit die Abwicklung einer Strömung in der alten Linkspartei, für die stellvertretend der BAK-Shalom steht, der sich gegen die Unterstützung der Hamas durch prominente Parteimitglieder wie die Antiimperialisten Anette Groth, Inge Höger und Norman Paech gewandt hatte, aber auch die langjährige Bundestagsabgeordnete Petra Pau. An der Personalie Pau manifestiert sich der Bedeutungsverlust des einst einflussreichen proisraelischen Flügels. Kurz vor dem Berliner Parteitag übte sie passenderweise im antizionistischen Deutschlandfunk Selbstkritik und rief „die Politik“ dazu auf, „ihr Bild von dem Land im Nahen Osten zu überdenken“, denn Israel würde zusehends von „rechten Kräften mit bisweilen auch autoritären Orientierungen“ dominiert. (Deutschlandfunk, 20.9.2024)
Die Meinungshoheit darüber, wie mit Israel zu verfahren sei, liegt heute bei Ferat Kocac, der anders als Ramsis Kilani die Grenzen des Sagbaren kennt und sie zugleich immer weiter verschiebt. Ein Beschluss des Berliner Landesparteitags verdeutlicht das. Unter dem pazifistischen Titel „Stoppt das Töten!“ wird darin die Trennlinie zwischen einem „vermeintlichen Kampf gegen Antisemitismus“ und berechtigter antifaschistischer Gegenwehr von Israel in die Sonnenallee verlegt, wo die verdammenswerte „Repression durch Staat und Polizei“ sinnfällig werde. Der „vermeintliche Kampf gegen Antisemitismus“ wird zur Domäne der Rechten, die in der Sicht der Linken von der AfD zu Friedrich Merz reicht: „Er wird zudem von rechten Kräften missbraucht, um linke Kritik am ungleichen Kräfteverhältnis zwischen Israel und Palästina zu delegitimieren.“ Das läuft auf die im Neuköllner Widerstand populäre Formel: „Jude, Jude, feiges Schwein, komm heraus und kämpf’ allein!“ hinaus, denn untermauert wird die Denunzierung des Kampfes gegen Antisemitismus als rechts mit der abschließenden Forderung nach einer noch zu gründenden Solidaritätsbewegung, „die die Machtungleichheit in diesem Konflikt anerkennt“, also für den Endsieg über jüdisch-zionistische Feiglinge in Gaza und Berlin kämpft. Es versteht sich natürlich von selbst, dass pflichtschuldig nachgeschoben wird, „dass offener Judenhass, Angriffe auf Jüd*innen und auf jüdische Einrichtungen nichts mit Solidarität mit Palästinenser*innen zu tun haben und diesem Anliegen schaden.“ (dielinke.berlin)
Nur eine Woche nach dem Berliner wurde auf dem Bundesparteitag der Linkspartei, der vom 18.10 bis zum 20.10.2024 in Halle stattfand, unter dem Motto „Deeskalation und Abrüstung in Nahost – für Frieden, Völkerrecht – gegen jeden Rassismus und Antisemitismus“ ein Beschluss verabschiedet, in dem ebenfalls beklagt wird, dass „zwischen Israel und den Palästinenser*innen bis heute ein asymmetrischer Krieg ungleicher Beteiligter“ tobe. (Hvh. d.A.) Neu war die Drohung mit dem Bürgerkrieg in Deutschland, der durch noch zu importierende Hilfstruppen zu führen sei: Gefordert wurde ein Aufnahmeprogramm für „Geflüchtete aus Gaza und dem Westjordanland“.
Weil Halle nicht Berlin ist und die Wahl nicht nur in Neukölln und Kreuzberg, wo die Grünen ihr Direktmandat an die Linkspartei verloren haben, gewonnen werden muss, wurde auch folgende beschwörende Passage in den Antrag hineinmontiert: „Niemals werden wir als Linke die Rolle des Antisemitismus ignorieren, der den mörderischen Terror von Hamas oder Hisbollah antreibt. Wer in Nahost oder hierzulande antisemitische Ressentiments befeuert, wer das Existenzrecht Israels in Frage stellt, wer gegen jüdische Menschen hetzt oder den Terror der Hamas relativiert“ könne kein Bündnispartner sein. Dass das alles so nicht gemeint ist, verdeutlicht schon der nächste Satz: Bündnispartner dürften „ebenso wenig [...] diejenigen“ sein, „die rassistische, anti-muslimische oder anti-palästinensische Angriffe und Propaganda gutheißen oder betreiben“. Man kennt das vom Berliner Parteitag, wo der angeblich antisemitismuskritische Flügel um Klaus Lederer erklärt hatte: „Für Antisemitismus und Rassismus ist kein Platz in der Linken.“ (die-linke.de, Hvh. d.A.)
Ferat Kocak, Jahrgang 1979, geboren in Kreuzberg, ist die Galionsfigur für den Aufbruch respektive die Neugründung der Partei, während Petra Pau, Jahrgang 1963, geboren in Ost-Berlin, ein Auslaufmodell ist. Pau hat sich der „Auseinandersetzung mit dem Grundirrtum, der meine Jugend in der DDR geprägt hat“, gestellt und war deshalb in der Lage, sich immerhin jahrelang für Israel auszusprechen. „Ich bin mit dem Glauben aufgewachsen, und es wurde mir in der Schule vermittelt, dass Palästinenser Freiheitskämpfer sind und Bürgerinnen und Bürger des Staates Israel zum sogenannten imperialistischen Block gehören“. (rbb24.de) Durchaus verwandt gab es in der westdeutschen Linken nach dem Ende der DDR immerhin eine größere Minderheit, die ihren Antiimperialismus ebenso als Grundirrtum erkannte und die für den Ausstieg aus der antiimperialistischen und antizionistischen Ideologie agitierte. Spätestens seit der Postkolonialismus zunächst an den Universitäten, dann in den Medien und jetzt auf der Straße den linken Antiimperialismus beerbt hat, sind die ost- und die westdeutschen Gespenster zurück und niemand nimmt mehr Anstoß daran, dass Israel als „koloniales Unterdrückungssystem“ gebrandmarkt wird, wie es – stellvertretend für ein kiezübergreifenendes Spektrum – Die Linke in Neukölln im Februar diesen Jahres unmittelbar vor der Bundestagswahl in einem Aufruf zur Beteiligung an den „weltweiten Protesten gegen den Völkermord in Gaza“ getan hat. (die-linke-neukoelln.de)
Begriffe wie Internationalismus und nationale Befreiung sind aus der Mode gekommen seit Leute wie Kocak einen „diversen“ Klassenbegriff propagieren, der kein einheitliches revolutionäres Subjekt mehr kennt und gleich alle für sich vereinnahmt. In dem gemeinsamen Papier von Nguyen, Kocak und Pantisano, heißt es: „Wir werden die Klasse in ihrer Besonderheit aber nur erreichen, wenn wir […] auf zentrale Themen zuspitzen, die alle betreffen. Wir müssen wenige Themen kommunikativ und praktisch für alle bearbeiten, statt alle Themen für jeweils wenige.“ (a.a.O.) In Wirklichkeit wurde daraus genau ein Thema: ein in Antifa-Rethorik vorgetragenes Bekenntnis zum Antisemitismus.
Man weiß nicht, ob die neuen Linken-Politiker ihre Strategie dem Buch von Chantal Mouffe Für einen linken Populismus entnommen haben. Auffällig war jedenfalls, dass der gesamte Bundestagswahlkampf der Linkspartei wirklich alle politikwissenschaftlichen Kriterien des Linkspopulismus erfüllte. Die deutschlandweit verklebten Wahlplakate verkündeten in bemerkenswerter Schlichtheit Sinnsprüche wie diese: „Ist Dein Einkauf zu teuer, macht ein Konzern Kasse“, „Ist Deine Miete zu hoch, freut sich der Vermieter“, „Ist Deine Heizung zu teuer, macht jemand richtig Kohle“, „Ist Deine Rente zu niedrig, hat Scholz nicht geliefert“, oder „Ist Dein Dorf unter Wasser, steigen Reiche auf die Yacht“. Nein, mit solchen altbackenen Sprüchen gewinnt man keine Wahl – auch dann nicht, wenn „ein breites Spektrum an Wahlaufrufen, Stellungnahmen, positiven Zeitungskommentaren und anderen Formen der direkten und indirekten Unterstützung, von der Taz über Influencer, Gewerkschafterkreise bis hin zu Bewegungsakteuren oder der ZDF-Sendung Die Anstalt der widerständigen Partei einen starken „gesellschaftlichen Rückenwind“ verschafft, wie die Wahlanalyse der Luxemburg-Stiftung behauptet. (a.a.O.) Gewinnen kann man besonders als eben noch Totgesagter nur, wenn man scheinbar verschüttete Ressentiments wachruft, die hinter den meist zurecht ungeliebten Vermietern, Bossen und Yachtbesitzern ein schädigendes Prinzip am Werk sehen, das von Gaza bis hinein in das heimatliche Altbauquartier reicht.
Dem neuen Führungspersonal Schwerdtner, van Aken und Reichinnek war die erhebliche Mobilisierung der Basis im Wahlkampf genauso wenig zu danken wie den antikapitalistischen Sprüchen auf den Plakaten. Ausschlaggebend war vielmehr die innerparteiliche Verschiebung zugunsten des Kocak-Flügels. Dafür steht exemplarisch ein Vorfall, der offensichtlich an einen Skandal aus dem Jahr 2010 anknüpfte. Damals haben sich vier Abgeordnete der Linkspartei (von denen nur noch die BDS- und PKK-Unterstützerin Nicole Gohlke in der Partei verblieben ist, die anderen drei waren Sahra Wagenknecht, Sevim Dagdelen und Christine Buchholz) nach der Rede des israelischen Staatspräsidenten Shimon Peres zum Gedenken an die Opfer des Nationalsozialismus im Bundestag demonstrativ nicht von ihren Sitzen erhoben. Ende März 2025 posierte die neugewählte Bochumer Bundestagsabgeordnete Cansin Köktürk auf Instagram mit dem Palästinensertuch um den Hals im Plenarsaal des Bundestages. Vor 15 Jahren hat die Parteispitze das Verhalten der vier Genossinnen nach der Rede von Simon Perez noch verurteilt. Heute verteidigt die Fraktionsvorsitzende Heidi Reichinnek auf einer Pressekonferenz Köktürks Aktion mit den Worten: „Dass meine Genossin dieses Tuch trägt, finde ich gut und richtig so. […] Weil die Solidarität mit Palästina genauso wie die Solidarität mit Israel natürlich Kern einer linken Politik ist. […] Ich finde es ehrlicherweise ziemlich erbärmlich, sich an diesem Symbol aufzuhängen und damit wieder zu versuchen, gegen uns Stimmung zu machen.“ (1) Parität zu behaupten, wo keine ist und bei kritischen Fragen die beleidigte Leberwurst zu geben, ist Masche der neuen Linkspartei und insbesondere Reichinneks, die „Metalmusik mag und schneller sprechen kann als jeder Rapper“. (sat1regional.de) Schon in ihrer äußeren Erscheinung verkörpert sie das Gegenmodell zu Sarah Wagenknecht, was auch bei der FAZ hervorragend ankommt, die Reichinnek „Leichtigkeit und Lust auf Politik“ attestiert. Sie verstünde es, „Politik herunterzubrechen und junge Wähler in einer Art anzusprechen, wie es sich ganze Social Media-Teams in größeren Parteien nicht besser ausdenken könnten.“ (FAZ, 26.2.2025) Das schnoddrige Auftreten, die grellrot bemalten Lippen, die Rosa Luxemburg-Tätowierung auf dem Unterarm und der Schnellsprech ergeben die Gesamterscheinung einer Populistin, die als eine von uns gelten darf und privat wirklich genauso ist wie in der Politik. Ihre gegen Friedrich Merz gerichtete Rede vom 29. Januar 2025 wurde angeblich die „erfolgreichste Rede in den sozialen Netzwerken, die es jemals gab“ (rosalux.de, a.a.O.) – und sie stieß anscheinend besonders bei den jüngsten Wählern auf begeisterte Zustimmung. „Die Brandmauer“, so Reichinnek, „sind immer noch wir.“ Persönlich an Merz gerichtet sagte sie unter Bezugnahme auf den 80. Jahrestag der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz: „Nur zwei Tage, nachdem wir der Ermordeten und Gequälten gedacht haben, arbeiten Sie mit denen zusammen, die genau diese Ideologie jetzt weitertragen“. (dielinkebt.de, Hvh. d.A.) So spricht es aus einer Radikalen, die ihre Rede mit den Worten „Leistet Widerstand gegen den Faschismus im Land. Auf die Barrikaden!“, beendete. Diese kompromisslose Antifaschistin kämpft in Wirklichkeit auf den Barrikaden der Intifada mit, deren einziger Zweck ein zweiter Holocaust ist.
Wie das „Schüren irrationaler Ängste“ (NZZ) verfing, ließ sich nicht nur an den Massendemonstrationen in allen großen deutschen Städten ablesen, an deren Spitze sich allerorts Linksparteigenossen setzten. Nachdem die AfD dem Antrag zur Beschränkung der Migration der CDU zugestimmt hatte, schnellten die Umfragewerte der Linkspartei im Februar 2025 rasant nach oben. „Eine Turbo-Zündung für eine Dynamik, die bereits vorher ins Rollen kam“, nennt man es bei der Rosa-Luxemburg-Stiftung, womit der zweigleisig geführte Wahlkampf aus Social Media-Auftritten und Hausbesuchen bei potentiellen Wählern gemeint war, der auch ohne das unfreiwillige Zutun von Friedrich Merz durchaus Erfolge zeitigte. Die Reichinnek-Rede wurde zum Renner auf Tik Tok, also dort, wo regelmäßig Fake-News verbreitet werden, die gerne den „Rechten“ zugeschrieben werden. Doch der Zweck heiligt die Mittel. Schließlich führe „ein algorithmusbasierter Strukturwandel der Öffentlichkeit“ nicht nur dazu, „dass Politiker für Kurzvideos tanzen oder sich in lustigen Pullovern beim Döneressen filmen lassen, sondern [haben| auch Rückwirkungen auf das, was als legitimer politischer Diskurs wahrgenommen wird.“ Deshalb müsse man einsehen, dass man „mit dem Verweis auf ‚gefühlte Wahrheiten‘ oder ‚alternativen Fakten‘ [...] nicht mehr (nur) Gelächter“ ernten, sondern auch „Reichweite“ schaffen könne. (rosalux.de, a.a.O.)
Auf die jungen Follower wirken Politiker wie Reichinnek schon deshalb anziehend, weil ihr Habitus die alte bürgerliche Grenze zwischen privat und öffentlich sprengt, wie man es von den digitalen Medien gewöhnt ist und als schlechte Aufhebung beider Sphären Tag für Tag lebt und erlebt. Die Jungen sind in gesellschaftlichen Verhältnissen aufgewachsen und sozialisiert worden, in denen „die Grenzen zwischen Arbeits- und Privatleben unklarer werden“ und „das Arbeitsleben im Konzept keine Belastung, sondern ein wichtiger und geschätzter Teil des Lebens“ wird. (karrierebibel.de) Dass der Staat in prekären Zeiten im Zweifel der wichtigste und sicherste Arbeit- und Fördermittelgeber ist, wissen sie aus eigener Erfahrung, die sie im freiwilligen sozialen respektive ökologischen Jahr gesammelt haben, ohne den Widerspruch zwischen propagierter Selbstbestimmung und staatlicher Abhängigkeit zu bemerken. Staatliche Alimentierung wird im Gegenteil als Voraussetzung von Selbstbestimmung empfunden. Getrieben sind gerade die Erstwähler der Linkspartei von einem Bedürfnis nach sozialer Sicherheit, das um so größer wird, je unsicherer die ökonomischen Verhältnisse werden.
Was auf junge Herkunftsdeutsche zutrifft, gilt erst recht für Sinn und Sicherheit suchende Moslems. Der bekennende Atheist Ferat Kocak betet weder in einer Moschee noch propagiert er die Geschlechtertrennung oder fastet er im Ramadan. Am allerwenigsten hat der neue „König von Neukölln“, der „Glatze, Vollbart und um den Hals ein Tuch seiner kurdischen Großmutter trägt“ (Die Zeit), der nicht so poltert wie Reichinnek und ein schlechter Redner ist, die Opfer des Islam auf dem Schirm, die vielleicht genauso frei von Zwangsmoral leben wollen wie er. Für ihn sind die von der weißen Mehrheitsgesellschaft als Muslime „Gelesenen“ bloße Opfer des Rassismus, die alle Solidarität mit ihrem Anderssein in Sitten und Gebräuchen in ihren Moschee- und Kulturvereinen verdient hätten. Nur deswegen weiß Die Zeit über Kocak zu berichten, dass er „die postmigrantische Community zur Wahl motivieren konnte“, womit gemeint ist, dass viele Kinder von Einwanderern ihm zum Wahlsieg verhalfen. 29 Prozent der moslemischen Wähler haben bundesweit ihre Stimme für die Linkspartei abgegeben – so viele wie bei keiner anderen Partei.
Kocak stellt nicht nur denjenigen den moralischen Persilschein für ihr feindseliges Tun aus, die Deutschland als ihr Beuteland ansehen, er hält das Beutemachen selbst für legitim. Im Jahr 2023 hat er einen Bericht der Bild über die täglichen Diebstähle von Flüchtlingsheimbewohnern in einem Regensburger Edeka-Markt so kommentiert: „Edeka ist die Abkürzung für ‚Einkaufsgenossenschaft der Kolonialwarenhändler‘: Ich würde sagen, die Menschen holen sich das zurück, was ihnen zusteht.“ Jedoch ganz so plump funktioniert das Modell Kocak nicht. Im selben Tweet hat er sofort nachgeschoben: „Doch so einfach ist es nicht. Eines der zentralen Probleme ist, dass die Behörden überlastet sind und viele Geflüchtete noch nicht mal das ausgezahlt bekommen, was sie zum Leben brauchen. Und auch das ist sekundär. Wichtiger ist es, Geflüchteten sofort eine Arbeitserlaubnis zu erteilen, damit sie ihr Leben selbstbestimmt bestreiten können.“ (correctiv.org) Das Erfolgsmodell Kocak funktioniert genau nach der Masche, die man der AfD gern als besondere Perfidie unterstellt: tabubrecherisch vorpreschen und dann wieder zurückweichen. Kocak bekämpft jede Form von Einwanderungskriterien als rassistisch beziehungsweise rechts und streitet laut Wikipedia für „ein bedingungsloses Bleiberecht für alle Geflüchteten“. Er ist Mitbegründer der Initiativen „Ihr seid keine Sicherheit“ und „Kein Generalverdacht“. Erstere tritt für den weitgehenden Rückzug der Polizei aus Neukölln ein, die andere wendet sich gegen die öffentliche Verwendung des Begriffs Clankriminalität. (2) Man nennt das in linken Kreisen gern Selbstermächtigung oder auf neudeutsch Empowerment. Nicht nur in Neukölln dient die Selbststilisierung als Opfer der Reichen und Mächtigen häufig als Chiffre für die Ablehnung der Ungläubigen, Kuffar, Almans, Weißbrote oder Kartoffeln, wie man nicht nur in der Migrantifa, die sich längst zur Migrantifada ausgewachsen hat, die Herkunfts-Deutschen bezeichnet. Auf der Wahlkampfseite von Ferat Kocak klang Ermächtigung zur Clan- und Bandenbildung zugeschnitten auf die angeblich besonders gebeutelten und benachteiligten Neuköllner ganz sozialromantisch so: „Das Leben in Neukölln ist hart – doch die Politiker wollen, dass es noch härter wird. Ob CDU, SPD oder Grüne – sie denken nur an uns, wenn sie unsere Stimmen brauchen. Danach machen sie alle Politik für Reiche und Konzerne. Sie kümmern sich nicht um uns, die hart arbeitenden Menschen, die unseren Kiez am Laufen halten.“ (teamferat.de)
„Politik anders machen“, unter diesem Motto startete Kocak, der seit 2021 bereits für seine Partei im Berliner Abgeordnetenhaus saß, mit hunderten meist sehr jungen Helfern, dem „Team Ferat“, seinen Haustürwahlkampf und unterstrich damit auch den Erfolg der bundesweiten Verjüngungskur der Partei. Es haben erheblich mehr Leute an den Haustüren Neuköllns Klinken geputzt als der Bezirksverband der Linkspartei Mitglieder hat. Deutschlandweit sollen es die meisten Helfer für einen Wahlbezirk gewesen sein; laut Selbstauskunft haben mehr als 2.000 Leute an 139.000 Türen geklopft. Parallel wurde in Neukölln eine innerparteiliche Schlacht geschlagen, die „Georg aus Ferats Team“ gegenüber Jacobin so charakterisierte: „Wir kämpfen hier auch nicht nur ums Gewinnen, sondern auch darum, welche Linke ins Parlament einzieht. Und wenn Ferat das […] schafft, dann wird die Linke mehr auf Klassenpolitik ausgerichtet und propalästinensischer sein“. (a.a.O.) Kocak und seine Partei sind Profiteure des Hamas-Massakers vom 7. Oktober, die in ihrem Stadtbezirk, in dem „die größte palästinensische Diaspora Europas lebt“ (Taz), nichts unversucht ließen, linken und moslemischen Antisemitismus zu bedienen und zu fördern. Kocak hat persönlich mehrere propalästinensische Demonstrationen angemeldet, auf denen es regelmäßig gegen Israel und die Polizei zur Sache ging – darunter eine mit dem Titel „Beats against Genocide“. Den wegen Antisemitismus abgesetzten Labour-Chef Jeremy Corbyn lud er kurz vor der Wahl nach Neukölln ein, was gerade noch parteiintern verhindert werden konnte. Im Oktober 2023 verbreitete er die Lüge, dass in einer Kreuzberger Grundschule Schüler Fragebögen zu ihrer Haltung zum Hamas-Überfall ausfüllen müssten und natürlich war es ihm eine Herzensangelegenheit, gleich nach dem 7. Oktober in einer persönlichen Erklärung im Abgeordnetenhaus den Kampf gegen Antisemitismus in einem Atemzug mit dem gegen „antimuslimischen Rassismus und jede andere Form rassistischer Diskriminierung“ zu nennen. (feratkocak.de)
Folgender Bericht gibt die Art und Weise des antizionistischen Haustürwahlkampfs wieder: „Seine eigene Position zum Nahostkonflikt beschreibt (Kocak) so: ‚Wir stehen an der Seite des Völkerrechts und der Menschenrechte.‘ In ihren Jutebeuteln tragen die Linken-Wahlkämpfer*innen dabei nicht nur Flyer zum eigenen Wahlprogramm, sondern auch eine Petition mehrerer deutscher Hilfsorganisationen wie Pax Christi und Medico für einen dauerhaften Frieden in Gaza. ‚Wenn Leute an der Tür Kufiya tragen, steige ich direkt mit dem Thema ein‘, sagt Kocak. […] An den Haustüren merkt man schnell, dass diese Haltung gut ankommt. In einem Haus [...] öffnet eine junge Frau die Tür. […] Erst ist sie zurückhaltend […]. Aber als Kocak sie fragt, ob sie die Gaza-Petition unterschreiben will, taut sie merklich auf. Wie sie die deutsche Nahost-Politik finde? ‚Sehr schlecht‘, kommt es aus ihr herausgeschossen, ‚meine Eltern sind aus Palästina‘. [...] Kocak selbst sagt eher wenig, lässt die junge Frau einfach reden, bei ihr scheint sich etwas angestaut zu haben.“ (Taz, 22.1.2025)
Den „spektakulärsten Wahlkampf“ hätte man in Neukölln geliefert, heißt es euphorisch in der Wahlanalyse der Rosa-Luxemburg-Stiftung. (a.a.O.) Wie falsch man liegt, wenn man wie zum Beispiel NIUS glaubt, Kocak wäre „heute noch ein Exot“ in der Partei, belegt eine Umfrage vom März 2024, die unter den Linken-Anhängern 82 Prozent ausgemacht hat, die sich gegen das Vorgehen der IDF in Gaza ausgesprochen haben – weit mehr als in jeder anderen Partei. Zu dieser Stimmungslage passt ein Statement von Parteichef van Aken, der sich dagegen ausspricht, „die Staatsangehörigkeit davon abhängig zu machen, den eigenen Lebensunterhalt zu verdienen.“ Van Aken liegt damit ganz auf Kocak-Linie, denn zur Begründung heißt es bezogen auf Langzeitbezieher von staatlichen Transferleistungen: „Diese Leute haben hier sicher viel geleistet. Sie haben hier Kinder und Enkelkinder großgezogen, das ist für uns auch Arbeit. Sie nehmen am gesellschaftlichen Leben teil. Das sollte als Bedingung für den Pass reichen“. (Jüdische Allgemeine, 30.1.2025) Und Heidi Reichinnek? Die will, weil „die Situation eine andere“ sei, nicht mehr einem Aufsatz aus dem Jahr 2016, dessen Mitautorin sie war, zustimmen, der zum Dialog mit dem politischen Islam auffordert und die Losung der Moslembrüder, Der Islam ist die Lösung, „nur eine Parole“ nennt, die „genauso“ einzuordnen sei wie wenn „Parteien in Deutschland mit Wahlkampfparolen ohne große programmatische Aussagekraft auf Stimmenfang gehen.“ (Tagesspiegel, 28.3.2025) (3) Man darf Reichinnek wie der gesamten angeblich neugegründeten Linkspartei schon deshalb die Distanzierung vom radikalen Islam nicht abnehmen, weil Linke und Islam längst natürliche Verbündete bei der Umwandlung von Staat und Gesellschaft in eine echte Verantwortungsgemeinschaft sind. Mit ihrem Wahlerfolg am 23. Februar 2025 ist die Linkspartei zur Schutzmacht der Anhänger der einzig wahren Religion und anderer Todfeinde des jüdischen Staates geworden.
Sören Pünjer / Justus Wertmüller (Bahamas 96 / 2025)
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